Читать книгу Brauseflocken - totes Kind, liebes Kind - Cristina Fabry - Страница 9

1977

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Es war ein grauer Freitag Mitte Januar, keiner von diesen verschneiten Wintertagen, von denen man beim Rückblick in die eigene Kindheit glaubt, sie seien alle so gewesen. Trotzdem waren die Schülerinnen und Schüler der 4a der Grundschule Nordhemmern guter Dinge, denn sie erledigten im Kunstunterricht die kurzweilige Aufgabe, einen Drachen zu malen, wie sie ihn sich in ihrer Phantasie vorstellten. Dabei konnten sie sich unterhalten, Witze erzählen, sich gegenseitig Anregungen liefern und nach Herzenslust im Tuschkasten wüten, weil es ja überhaupt keine Vorgabe gab. Herr Kowalski sah den Kindern hier und da über die Schulter, lobte, gab Tipps und griff reglementierend ein, wenn einige den Bogen der freien Entfaltung überspannten, indem sie die Lärmgrenze überschritten oder Fangen spielten. Voller Erleichterung beobachtete er, wie Iris sich mit Birgit anfreundete, denn ihm war schon seit Längerem aufgefallen, dass beide Mädchen sich schwer taten, Freundschaften zu schließen. Er ahnte nicht, dass die Annäherung der beiden nichts weiter als ein Kompromiss war. In Wirklichkeit langweilte Iris sich mit Birgit zu Tode und Birgit fand Iris' unkonventionelle Kapriolen irritierend und anstrengend. Als es zur Pause klingelte, hatten die besonders aufgeweckten Kinder längst ihren Platz aufgeräumt und stürmten den Schulhof. Iris, Birgit und Angela gehörten nicht dazu. Als sie nach draußen kamen, erblickten sie Petra, Cornelia, Nicole und Imke auf der Brücke, einem Klettergerüst, das aus einer zum Bogen gekrümmten Leiter bestand. Als sie dort ankamen, fragten sie: „Was spielt ihr denn?“

„Wir sind auf einer Eisenbahnbrücke.“, erklärte Imke. „Und wenn ein Zug kommt, müssen wir zwischen den Stangen oder an der Seite runter, damit wir nicht zermatscht werden, aber wir müssen uns irgendwie festhalten, sonst stürzen wir in die Schlucht und sind auch zermatscht.“

„Können wir mitmachen?“, fragte Iris.

„Nee, hier ist es schon so voll, hier ist ja gar kein Platz mehr zum Klettern, wenn ihr jetzt auch noch drauf kommt.“

„Na gut.“, sagte Angela und lief mit Birgit zur gerade frei gewordenen Turnstange, um den Aufschwung zu üben. Das war Iris' Horrorturnübung, darum blieb sie unentschlossen stehen. Cornelia hatte eine Idee: „Wir könnten doch spielen, wenn einer in die Schlucht stürzt, dann ist er tot und Iris kann auf die Brücke, und wenn der nächste abstürzt, dann ist der tot und der, der vorher abgestürzt ist, ist wieder auferstanden.“

„Nee, das ist doof.“, protestierte Imke. „Dann steht man da rum und langweilt sich. Wir waren hier zuerst und wer zuerst kommt, mahlt zuerst.“

Enttäuscht zog Iris sich zurück und suchte unsicher den Schulhof nach einer Beschäftigungsmöglichkeit ab. Auf Imkes altkluge Bemerkungen hatte sie sowieso keine Lust, bestimmt hatte sie den Spruch falsch wiedergegeben, denn mit Malerei hatte dieser Zugbrückenunsinn ja nun wirklich nichts zu tun.

Für den Nachmittag verabredete Nicole sich mit Cornelia in Cornelias Elternhaus. Der um die Jahrhundertwende erbaute Hof war durch einen Anbau und kontinuierliche Verbesserungs- und Instandhaltungsmaßnahmen in einem besonders gepflegten Zustand. Er lag inmitten von Wiesen und Feldern zwischen den Dörfern Nordhemmern und Hartum; nur der mäßige Verkehr auf der Hauptverbindungsstraße störte die Idylle ein wenig. Cornelias Eltern hielten Pferde und Schafe, Schweine und Hühner, aber das wesentliche Einkommen bezogen sie aus der Tätigkeit ihres Vaters als Leiter der kommunalen Gemeindeverwaltung. Ihre Mutter Marlies kümmerte sich um Haus, Garten und Tiere – und um Cornelia, ihr einziges Kind.

Als Nicole gebracht wurde, hielten die Mütter ein Schwätzchen, während die Mädchen sofort in Cornelias Zimmer verschwanden. Am Schrank hing ein Rollkragenpullover auf einem Bügel, an dem noch das Preisschild baumelte, was Nicole sofort auffiel. „Ist der neu?“

„Ja, aber der soll vorm Waschen noch 'n bisschen lüften, weil der so komisch riecht und nachher stinkt die ganze Wäsche danach.“

„Zieh doch mal an.“

Cornelia legte ihre Flanellbluse ab und schlüpfte in den modischen Synthetik-Rolli. Das intensive Blau glitzerte wie der Metallic-Lack eines Kirmes-Autos und das Material schmiegte sich an ihren Körper wie flüssiger Stahl. Jede Bewegung veränderte scheinbar die Farbe des Kleidungsstückes, je nachdem wie die metallischen Fasern das Licht reflektierten. Fasziniert betrachtete Nicole den Pullover.

„Sieht toll aus.“, hauchte sie voller Begehren.

„Der stinkt immer noch.“, beklagte sich Cornelia, streifte den knisternden Pulli ab wie eine Schlangenhaut und hängte ihn wieder auf den Bügel.

„Woher hast du den?“, fragte Nicole neugierig.

„Von C&A. Ich war gestern mit Mama in der Stadt. Wollen wir was basteln?“

„Was denn?“

„Wir könnten Kartoffeldruckbilder machen.“

„Was ist das denn?“

„Soll ich's dir zeigen?“

„Ja, gut.“

Cornelia flitzte in die Küche und kam mit einigen Kartoffeln und zwei scharfen Messern zurück. Aus ihrer Kleiderschrank-Regal-Kombination holten sie einen Zeichenblock, Malkasten und Pinsel, ein Wasserbecher stand noch auf der Fensterbank. Dann ging es ans Werk und beide Mädchen erschufen je eine beeindruckende bunte Druckgrafik, aber so verzweifelt sich Nicole auch bemühte, immer sah Cornelias Werk stimmiger, geschmackvoller und genialer aus als ihr eigenes.

Als die Bilder fertig waren, schlug Cornelia vor: „Wollen wir Kekse backen?“

„Aber Weihnachten ist doch längst vorbei.“, gab Nicole zu bedenken.

„Na und?“, sagte Cornelia trotzig, „Dann backen wir eben Neujahrskekse. Wir könnten doch bunte Streusel in den Teig tun und dann nennen wir die Feuerwerksplätzchen.“

„Au ja und dann stechen wir lauter Sterne aus.“

Sie gingen in die saubere, aufgeräumte Küche und Cornelia kramte ein Kinderbackbuch aus dem Küchenschrank. Schnell fanden sie ein einfaches Butterplätzchen-Rezept und stellten die Zutaten zusammen.

„Letzte Woche war Iris hier.“, erzählte Cornelia. „Da haben wir Sandkuchen gebacken. Der ist aber ganz komisch geworden, so wabbelig, wie Mausespeck.“, sie kicherte.

„Mit Iris verabrede ich mich fast gar nicht mehr.“, erklärte Nicole spitz.

„Wieso nicht?“

„Die ist irgendwie komisch. Meine Mutti hat das auch nicht so gerne.“

„Ich finde Iris manchmal 'n bisschen langweilig“, bemerkte Cornelia, „aber schlimm ist sie nicht.“

„Nein, nicht schlimm, nur komisch. Mutti sagt, die ist nichts für mich, ich soll lieber mit dir spielen. Du bist auch besser in der Schule.“

„Iris ist doch auch gut in der Schule.“

„Na, ist ja auch egal. Muss ich meine Ringe abmachen?“

„Ach ja, stimmt ja.“ Cornelia blickte auf ihre schon bemehlten Hände, an deren Fingern zwei Ringe steckten. Am Handgelenk trug sie einen Satz dünner, silberner, klimpernder Armreifen, die sie nun abstreifte. Sie waren Nicole sofort aufgefallen und jetzt griff sie danach und fragte ihre Freundin: „Darf ich die mal anprobieren?“

„Klar.“, antwortete Cornelia großzügig. „Aber vorm Backen musst du sie wieder abnehmen.“

Als die Plätzchen fertig gebacken waren – und sie waren tatsächlich gelungen – sah die Küche aus wie ein Schlachtfeld. Die Mädchen räumten auf, so gut sie es eben konnten, den Rest überließen sie Cornelias Mutter. Sie nahmen Saft und Kekse mit ins Kinderzimmer, zelebrierten eine kurze Mahlzeit und spielten „Ich sehe was, was du nicht siehst“. Kein noch so unbedeutendes Detail entging Nicoles Blick, darum war sie in diesem Spiel immer erfolgreicher als Cornelia.

„Du hast aber schönes Briefpapier.“, stellte sie plötzlich fest.

„Ja“, pflichtete Cornelia ihr bei und strich zufrieden über den naturweißen Block mit dem überzeichneten, romantischen Kleinmädchenmotiv einer schaukelnden Schönheit im Rüschenkleid. „Das ist von Sarah Kay.“

Auch diese Information speicherte Nicole umgehend auf ihrer Festplatte. Nirgends war die Umgebung so anregungsreich, die Spiele so besonders und die schönen Dinge so zahlreich wie in Cornelias Umgebung; sie würde alles tun, um diese Freundschaft aufrecht zu erhalten.

Am Sonntagmorgen um 11.15 Uhr läuteten die Glocken der Kapelle Nordhemmern zum Kindergottesdienst. Das taten sie nur alle zwei Wochen, denn die Dörfer Nordhemmern und Holzhausen II mit je einer eigenen Predigtstätte teilten sich einen Pfarrer. Darum – und weil außer der Kirche und dem Sportverein kaum jemand etwas für Kinder anbot – war der Kindergottesdienst meistens gut besucht. Cornelia, Iris, Birgit und Angela saßen schon nebeneinander, als sie sich neugierig zur quietschenden Eingangstür umblickten: Nicole betrat die Kapelle in einem dunkelblauen Wollmantel, unter dem es verdächtig glitzerte. Cornelia hielt den Atem an: Sie trug genau den gleichen Glitzer-Rolli, den Cornelia vor wenigen Tagen bekommen hatte. Als Nicole sich neben Angela setzte, fragte die: „Hast du dein Klingelbeutelgeld fallen lassen?“

„Nee, wieso?“

„Was klimpert denn da so?“

„Ach so.“, antwortete Nicole überlegen. „Das sind meine Armreifen.“ Sie zog den Ärmel etwas hoch und schüttelte ihren Unterarm, so dass die Schmuckstücke zum Vorschein kamen: Sechs silbern blinkende, zarte Armreifen.

Am Nachmittag lud Cornelia sich zu einem Spontanbesuch bei Petra ein. Als Cornelia geklingelt hatte, dauerte es nur eine Minute, bis Petra Kuchen kauend in der Tür stand. „Hey Conni, komm rein!“, sagte sie. „Wir trinken gerade Kaffee.“

„Oh, dann komm ich später noch mal wieder.“, antwortete Cornelia verlegen und wandte sich zum Gehen.

„Ach Quatsch!“, wies Petra sie brüsk zurecht und rief über die Schulter: „Mama, Conni is' da.“

„Schön!“, rief die Mutter. „bring rasch ein Gedeck aus der Küche mit.“

„Ich kann doch auch in deinem Zimmer auf dich warten.“, flüsterte Cornelia.

„Stell dich nicht so an und komm rein!“, sagte Petra barsch. Und weil dieser Ton keinen Widerspruch duldete, folgte Cornelia der Aufforderung, hing ihre Jacke an die Garderobe und gesellte sich zur Giesekingschen Kaffeetafel. Für das Einzelkind Cornelia war dies immer ein Augenblick, der sie in tiefste Verlegenheit stürzte, doch sie stand das Kuchenritual, bei dem sich die Aufmerksamkeit der gesamten Familie auf den Gast konzentrierte, tapfer durch und verschwand dann mit Petra in deren Kinderzimmer.

„Ich muss dir unbedingt was erzählen.“, sagte Cornelia aufgeregt. „Heute Morgen kam Nicole zu spät zum Kindergottesdienst und rate mal, was sie anhatte?“

„Keine Ahnung.“

„Genau den gleichen Rolli, den Mama mir letzte Woche gekauft hat.“

„Na und? Ist doch nicht schlimm.“

„Doch, ist es wohl! Die war vorgestern bei mir und da hing der Pulli in meinem Zimmer und Nicole fand den schön und meinte, ich soll den mal anziehen und dann wollte sie auch noch wissen, wo wir den gekauft haben. Da muss die ja schon gleich gestern Morgen mit Tante Annegret nach Minden gefahren sein, damit die ihr genau den gleichen Pulli kauft. Du, die ist garantiert mit Absicht zu spät in die Kirche gekommen, damit alle ihren neuen Rolli sehen, sie hatte extra ihren Mantel aufgelassen, und dann hat sie auch noch so dämlich gegrinst.“

„Das tut sie doch immer.“, bemerkte Petra trocken.

„Stimmt!“, pflichtete Cornelia ihr bei und kicherte. Dann fuhr sie fort: „Und dann hat sie sich auch noch die gleichen Armreifen gekauft wie ich und hat solange damit rumgeklimpert, bis Angela gefragt hat, ob sie den Klingelbeutel fallen lassen hat. Da konnte sie dann natürlich damit angeben. Aber weißt du, was mich am meisten aufregt: Ich hatte den Rolli zuerst, aber bis jetzt noch nicht angezogen, und jetzt denken alle, ich hätte das Nicole nachgemacht. Dabei steht der ihr überhaupt nicht, die doofe Ziege.“

„Ich würd' mich ja schämen.“, sagte Petra, wollte aber nicht weiter auf das Fashion-Drama eingehen und schlug vor, eine Runde Mau-Mau zu spielen.

Am Montagmorgen gab Herr Kowalski die Mathearbeit zurück. Petra hatte wie immer eine Eins, es gab viele Zweien und Dreien, aber Iris hatte die erste Fünf ihres Lebens, sie war vollkommen niedergeschmettert. Eine Weltuntergangsstimmung breitete sich in ihr aus, die diffuse Angst vor einem unaufhaltsamen, kontinuierlichen Abstieg, dessen Startpunkt diese Fünf darstellte. Ihre Furcht relativierte sich auch nicht, als Nicole, die ebenfalls zu den besonders guten Schülerinnen zählte, in der Deutschstunde beim Vorlesen patzte und stammelte. In der großen Pause saß ihr der Schock immer noch in den Knochen, und sie schlich so deprimiert über den Schulhof, dass ihr alle aus dem Weg gingen. Als sie schließlich an die Turnstange wollte, um sich ein bisschen zu bewegen, drängelten andere Kinder sich jedes Mal vor, und sie hatte nicht die Kraft, sich durchzusetzen. Tränen schossen ihr in die Augen und als Imke fragte: „Was hast du?“, begann sie heftig zu schluchzen und war außerstande, zu sprechen. Gleich mehrere Mädchen umringten und trösteten sie, aber Schmerz und Angst ließen sich nicht vertreiben.

Am Nachmittag war Nicole bei Angela zu Besuch. Die Mädchen bauten aus Alltagsgegenständen ein futuristisches Domizil für ihre Barbiepuppen.

„Iris hatte ja heute ganz doll geweint in der Pause.“, erklärte Nicole, Betroffenheit heuchelnd.

„Warum eigentlich?“, fragte Angela.

„Sie hat eine Fünf in Mathe geschrieben.“, verkündete Nicole mit großen, runden Augen.

„Kriegt sie jetzt Haue?“, fragte Angela betroffen.

„Das weiß ich nicht.“, sagte Nicole. „Aber vielleicht darf sie jetzt nicht mehr zum Gymnasium.“ und sie konnte die Genugtuung kaum noch verbergen.

„Das ist ja doof.“, sagte Angela.

„Ja.“, antwortete Nicole, „aber wer nicht schlau genug ist, darf eben nicht zum Gymnasium. Iris tut ja immer so, als wenn sie ganz gut wäre. In ihrem Lesebuch hat sie auch ganz viele Fleißkärtchen, weil sie so viele Gedichte auswendig gelernt hat. Die hat sie immer rum gezeigt. Aber wer nicht rechnen kann, muss eben zur Hauptschule.“

Angela enthielt sich jeden weiteren Kommentars, nicht etwa aus Anstand, sondern weil sie gar nicht richtig zugehört hatte, denn ihre Gedanken kreisten noch um ein Erlebnis aus der Mittagszeit. Sie hatte ihren Vater eine halbe Stunde hinter der Theke vertreten müssen, damit er in Ruhe Mittag essen konnte; ihre Mutter war mit Martin beim Zahnarzt; wenigstens hatte sie Kirsten mitgenommen.

Mehrere Bauern hatten vor der Theke gestanden und ein frisches Bier verlangt, das perfekt zu zapfen sie außerstande war.

„Hat dir dein Vater noch nicht beigebracht, wie man anständig zapft?“, blökte einer der Bauern, als er sie beobachtete. Dass alle jede ihrer Bewegungen so aufmerksam verfolgten, machte sie noch nervöser, und die Biergläser waren von außen nass, wegen des übergelaufenen Schaums, hatten aber auch keine anständige Blume.

„Wer soll denn diese Plörre trinken?“, blaffte ein anderer Bauer sie an.

„Nun sei mal nicht so hart mit der kleinen Geli.“, lallte Rattemeiers Friedhelm, der schon wieder vollkommen betrunken war. „Die muss das ja erst noch lernen. Nicht Geli? Nächstes Jahr knallst du uns hier die Biere auf den Tresen wie ein alter Cowboy.“ Er lachte tonlos, wie ein asthmatischer Staubsauger mit Wackelkontakt. Doch der Bauer gab nicht nach: „Wenn Erich, der alte Jackel, seine Kurze hier hinterm Zapfhahn abstellt, dann muss er ihr doch vorher zeigen, wie das geht. Ist doch kein Kindergarten hier!“

Angela kämpfte mit den Tränen, gab aber ihr Bestes und blieb höflich, wie ihre Mutter es ihr beigebracht hatte. Schließlich verlangte der Rüpel die Rechnung. Angela addierte die notierten Summen für Biere und Schnäpse auf seinem Rechnungsblock und kam auf 9,20 DM.

„Neun Mark zwanzig?“, rief der rüde Bauer aufgebracht, „Das kann doch gar nicht sein!“

Angela zeigte ihm wortlos den Notizblock. Er beklagte sich, sie habe ihm ein Gedeck zu viel berechnet, dazu habe Buchhörsters Ewald ihn eingeladen und der habe schließlich schon bezahlt und sei gegangen.

„Jetzt stell dich doch nicht so an!“, beschwichtigte ihn ein anderer Bauer. Aber Ludkens Gerd war ein Choleriker und dachte überhaupt nicht daran, sich zu beruhigen: „Ich soll mich nicht so anstellen?“, brüllte er. „Die lüttsche Ratte hier zieht mich übern Tresen und dann heißt es hinterher, Ludkens Gerd, der Vogel, regt sich auf wegen zwei Mark dreißig. Aber das sach' ich euch: mir zieht keiner Geld aus der Tasche für das, was ich nicht bestellt hab! So, Mädchen und jetzt streichste das eine Bier und den einen Schnaps durch und schreibst Buchhörsters Ewald zwei Mark dreißig aufn Deckel, sonst komm' ich da gleich hinter die Theke und zieh dir die Ohren lang!“

Angela zitterte vor Angst und Friedhelm Meiers Beschützerinstinkte erwachten erneut. Blitzschnell torkelte er hinter die Theke und drückte das verängstigte Kind an sich. „Lass bloß die Finger von der Geli!“, lallte er mit erhobener Stimme. „Bezahl', was du bezahl'n willst und dann hau ab!“

Gerd knallt das abgezählte Geld auf die Theke und stapfte Türen knallend nach Hause. Angela war noch immer gefangen in der Umarmung des stinkenden Besoffenen. Er hatte ihr Gesicht an seinen aus der Form geratenen Bauch gedrückt und sein speckiges Oberhemd war feucht und roch widerlich süßlich. Jetzt beugte er sich zu ihr hinunter und nahm ihr Gesicht in seine Hände. Der unstete, triefäugige Blick des Alkoholikers bohrte sich in ihren Schädel. „So, Geli“, lallte er, „und wenn dir mal wieder einer dumm kommt, musste nur Onkel Friedhelm Bescheid sagen, der beschützt dich.“

Er beugte sich noch tiefer und küsste sie unbeholfen auf den Mund. Seine Haut war stoppelig-kratzig und roch nach billigem Rasierwasser. Am schlimmsten aber waren die schleimigen, feuchten Lippen, die sich auf die ihren pressten und das auf fröhlich gedeihenden Magenkrebs deutende Geruchspotpourri, das Friedhelms Mundhöhle entströmte. Sie machte ihren Körper ganz steif, um Abstand zu gewinnen und wandte ihr Gesicht ab, um Blickkontakt - oder noch schlimmer einen weiteren Kuss – zu vermeiden. Die Scham färbte ihr Gesicht dunkelrot, doch Friedhelm deutete ihre Reaktion als schüchternes Entzücken und presste sie nochmals fest an sich, als er sagte: „Och, Geli, da musste nicht verlegen sein, wenn der Onkel Friedhelm dich in 'n Arm nimmt.“

Dann lachte er wieder sein asthmatisches Staubsaugerlachen und ließ sie endlich los. Ein mitfühlender Gast bestellte schnell zwei neue Bier, damit das Mädchen etwas zu tun hatte und ihr Peiniger von ihr abließ. Dann sagte er: „So, Friedhelm, jetzt komm mal bei mich bei und trink 'n Pils, ich gebe einen aus, weilde Geli so schön verteidigt hast.“

Die Aussicht auf ein kostenloses Bier lockte den Trinker zurück auf seinen Barhocker und Angela war erlöst. Allerdings wusste sie nicht, was sie davon halten sollte, dass ihr Erlöser ihr nun zuzwinkerte. Zum Glück waren die Biere noch nicht fertig gezapft, als ihr Vater sie endlich ablöste.

„Wenn ich mal groß bin“, dachte Angela, „lasse ich mir von irgendeinem Fremden ein Kind machen und verrate ihm nichts davon und ziehe mein Kind alleine groß. Männer sind so eklig, mit denen will ich nichts zu tun haben.“

Jetzt saß sie mit Nicole in ihrem Kinderzimmer und versuchte, das eben Erlebte beiseite zu schieben und einfach nur Barbie zu spielen. Aber die Hälfte von Nicoles Geplapper rauschte an ihr vorbei wie in den Wind gerufene Worte. Sie hörte etwas, aber der Sinn kam nicht bei ihr an. Sie merkte, dass Nicole sie seltsam anblickte, doch sie wollte nicht, dass die Spielkameradin auf Abstand ging. Nicole hatte Kaninchen und einen Wohnwagen am Doktorsee und ein behütetes Zuhause mit edlem Ambiente, man fühlte sich in ihrem Elternhaus immer wie auf dem Sommersitz eines altehrwürdigen Adelsgeschlechts: elegante Möbel, schwere Samtvorhänge, haufenweise Teppiche und immer wurde leise und bedächtig gesprochen. Keine rüpelhaften Bauern, keine zudringlichen Betrunkenen, keine gestresste Mutter, sondern Ruhe und Frieden. So schön wollte sie es später auch einmal haben.

„Nicole“, fragte sie, „Hast du auch ein bisschen Hunger?“

„Ja, ein bisschen.“

„Kennst du schon Brauseflocken?“

„Nee, was ist das denn?“

„Komm mit. Ich zeig's dir.“

Brauseflocken - totes Kind, liebes Kind

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