Читать книгу Carli macht Karriere - Cristina Zehrfeld - Страница 3
Fehlstart
ОглавлениеDie Karriere von Herrn Carl hat mit einem unglaublichen Patzer begonnen. Ich würde diese beispiellose Peinlichkeit gern unter den Tisch fallen lassen, aber das geht natürlich nicht. Wenn ich alles Peinliche, alles Unerhörte, alles Unsägliche und alles Ärgerliche aus dem Leben des Maestro Carl unter den Tisch fallen ließe, dann würde seine Biografie auf die Länge einer halben DIN-A4-Seite schrumpfen. Deshalb sage ich es gleich hier und jetzt: Wer mit unangenehmen Wahrheiten nicht leben kann, der sollte dieses Buch sofort weglegen. SOFORT! Maestro Carl hat nämlich von Anfang an zu mir gesagt: „Frau Kritzelt, wenn Sie schon unbedingt über mich schreiben wollen, dann müssen Sie gnadenlos sein. Sie müssen alle Wahrheiten ungeschönt auf den Tisch legen. Alle! Auch die Unangenehmsten. Sie müssen Ross und Reiter benennen.“ Das hat Maestro Carl gesagt, und zwar wortwörtlich, und deshalb lasse ich den Fehlstart ebenso wenig weg wie alle anderen unangenehmen Details. Liebe, hochverehrte Leser, wenn Sie jetzt immer noch weiterlesen, sollten Sie sich hinterher nicht beschweren. Ich habe Sie gewarnt. Bei Herrn Carl war mit einem Fehlstart mitnichten zu rechnen gewesen, denn alles hätte ja bis zu diesem Zeitpunkt kaum besser laufen können. Herr Carl war in eine exorbitant musikalische Familie hineingeboren worden. Er war bei seiner Ausbildung von einer musikalischen Koryphäe zur nächsten gereicht worden. Er hatte sich bei Wettbewerben wacker geschlagen und sich dank zahlloser Konzerte schon während des Studiums eine treue Fangemeinde aufgebaut. Sein Genius hatte die einflussreichsten Persönlichkeiten der Republik so tief beeindruckt, dass man schon während seiner Studienzeit damit begonnen hatte, ein Konzerthaus eigens für Herrn Carl zu bauen. Inzwischen hatte man ihn sogar mit großer Geste zum ersten Konzerthausorganisten ernannt. Nun allerdings, als Herr Carl das Diplom in der Tasche und große Ziele vor Augen hatte, jetzt, da er den Elan zu einem großartigen Karrierestart in sich trug, war seine Glückssträhne vorbei. An seinem ersten Arbeitstag eilte Herr Carl zu seinem Konzerthaus, um sich in die Arbeit zu stürzen. Doch was musste er feststellen: Seine Orgel war noch nicht spielbereit. Die Orgel war nicht nur nicht spielbereit, sie war noch gar nicht eingebaut. Herr Carl war fassungslos. Das Konzerthaus, dessen erster Konzerthausorganist Herr Carl auf dem Papier bereits war, dieses Konzerthaus befand sich noch mitten im Rohbau. Natürlich hatte Herr Carl die zögerlichen Baufortschritte bereits seit mehreren Wochen mit wachsender Unruhe verfolgt. Doch er ist immer ein Optimist gewesen. Bis zuletzt war er sicher gewesen, dass ein Wunder geschieht. Oft genug hatte Herr Carl davon gehört, dass über Nacht nicht nur Konzerthäuser, sondern ganze Schlösser erbaut wurden, wenn man nur einen guten Namen hatte. Wenn man zum Beispiel Aladin hieß und eine magische Öllampe besaß. Die Republik hatte einen ganz wunderbaren Namen, und den Besitz einer Öllampe hatte sie auch längst unter Beweis gestellt. Damals beispielsweise, als die Republik einfach so über Nacht jene Autobahn von Berlin nach Dresden hatte bauen lassen. Fast zwanzig Jahre war es inzwischen her, dass man eben diese Autobahn zum Trocknen in Berlin aufgehängt hatte. Allerhöchste Zeit also für ein neues Wunder. Doch dieses Wunder blieb aus, und Herr Carl musste sich mit dem Unfassbaren abfinden: Er war der erste Konzerthausorganist ohne Konzerthaus.