Читать книгу Carli macht Karriere - Cristina Zehrfeld - Страница 5

Fehlbesetzung

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Auch ohne festen Arbeitsplatz war Herr Carl tatsächlich ganz unabkömmlich. Kaum hatte er sein Studium beendet, schon wurde er zum Jurysekretär des Johann-Sebastian-Bach-Wettbewerbes in Leipzig berufen. Außerdem fand er wegen seiner vielen Auftritte kaum Zeit, wenn sein künftiger Chef, der überaus berühmte Kapellmeister Professor Kurth, seine Dienste in Anspruch nehmen wollte. Diese Inanspruchnahme war freilich auch manchmal eine große Dreistigkeit. In aller Regel spielte das Orchester des Herrn Kapellmeisters nämlich in einem Provisorium, welches man bestenfalls als Mehrzweckhalle bezeichnen konnte. Die Bezeichnung “Mehrzweck” führte dieses Haus ganz zu recht. Nicht nur Konzerte des durchaus renommierten Orchesters fanden hier statt, sondern auch Tanzabende, Jugendweihefeiern, Gewerkschaftskongresse, Kindertheateraufführungen und Boxwettkämpfe. Da alle diese Dinge viel Staub aufwirbelten, war die Orgel im großen Saal nicht eben im besten Zustand. Manchmal verpflichtete Professor Kurth Herrn Carl aber auch für angemessene Aufgaben. So sollte Herr Carl ein halbes Jahr nach Beendigung seines Studiums mit Professor Kurth und seinem Orchester nach Turin in Italien fahren, um zum fünfzigjährigen Bestehen des dortigen Rundfunkorchesters mit vielen wichtigen Musikern die Matthäus-Passion einzustudieren. Herr Carl übernahm diese Aufgabe mit Freuden. Nun zählte allerdings das schöne Italien, wie so viele andere schöne Länder auch, zum nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet. Und wie immer bei Reisen in dieses unheimliche, nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet mussten zuverlässige Berichterstatter die Reisetauglichkeit aller Teilnehmer bestätigen. Professor Kurth und sein Orchester waren in Sachen Reisetauglichkeit unbedenklich. Über Herrn Carl allerdings gab es noch jene Berichte, die der gute alte Alfred geschrieben hatte, als Herr Carl noch der kleine Herr Carl war. Selbstverständlich konnten diese alten Berichte nicht für die aktuelle Beurteilung herangezogen werden. Es mussten neue Berichte geschrieben werden. Allerdings ist das Schreiben von guten Berichten eine aufwändige und kräftezehrende Angelegenheit, und es wäre ja auch reine Verschwendung von Ressourcen gewesen, die literarischen Perlen des guten alten Alfreds ungenutzt in der Schublade liegen zu lassen. Ressourcen allerdings wurden in der Republik niemals verschwendet!!! Deshalb wurde auf den einmal gewonnenen Erkenntnissen aufgebaut und die verbalen Glanzleistungen Alfreds angemessen gewürdigt. Das heißt, sie wurden sorgfältig kopiert und liebevoll mit weiteren Details ausgeschmückt. Leider hatten nun aber Alfreds Berichte schon vor Jahren dafür gesorgt, dass dem kleinen Herrn Carl eine Reisegenehmigung nicht erteilt wurde. Die neuen Ausschmückungen, so liebevoll sie auch geschrieben waren, änderten an den Fakten nichts. Deshalb wurde die Reise von Herrn Carl nach dem italienischen Turin von den staatlichen Sicherheitsbehörden NICHT befürwortet. Damit wäre die Karriere von Herrn Carl nach den geltenden Regeln der Republik eigentlich ein für alle Mal beendet gewesen, denn die staatlichen Sicherheitsbehörden waren ja unbestechlich. Sie haben niemals ein einmal gefälltes Urteil revidiert. Allerdings hatten Professor Kurth und sein renommiertes Orchester einen Sonderstatus. Sie waren Staat im Staate. Jeder, der diesem Staat im Staate angehörte, durfte jederzeit ins nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet reisen, denn das Orchester war ja ein Aushängeschild. Die nicht erteilte Ausreisegenehmigung für Herrn Carl schlug also hohe Wellen. In der staatlichen Sicherheitsbehörde wurde per Faxgerät ein reger Schriftwechsel geführt, in den sich alle Dienstgrade, vom Leutnant bis zum Generalmajor, zu Wort meldeten. Die Meinungsunterschiede waren enorm, doch jeder hatte für seine ganz unumstößliche Sichtweise schlagkräftige Argumente. Keiner wollte auch nur ein My zurückweichen. Die Abstände zwischen den Schreiben wurden immer kürzer. Bald schon glühte das Faxgerät. Schließlich kam man zu dem Schluss, dass die Verweigerung der Ausreisegenehmigung für Herrn Carl in letzter Konsequenz bedeutet, dass Professor Kurth den falschen Mann für sein Konzerthaus engagiert hatte, dass er eine Fehlentscheidung getroffen hat. Das allerdings wäre ein Skandal gigantischen Ausmaßes gewesen. Kapellmeister Kurth war ja für die Republik dasselbe, was der Papst für die katholische Kirche ist, nämlich: Unfehlbar! Kurth konnte und durfte sich nicht geirrt haben. Deshalb hat die staatliche Sicherheitsbehörde ihre ursprüngliche Entscheidung widerrufen. Zähneknirschend hat der Herr Oberstmajor Eisenhardt die Ausreise des Herrn Carl genehmigt. Herr Carl hat von diesem Ziehen und Zerren um seine Person nichts mitbekommen. Niemand durfte ihm auch nur ein Sterbenswörtchen sagen. Er solle, so hieß es, nicht verunsichert werden.


Carli macht Karriere

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