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ERICH MÜHSAM BESINGT DIE VEGETARIER
ОглавлениеDer junge Schriftsteller Erich Mühsam war der erste, der darauf hinwies, dass die Vegetarier in Ascona und Nachbarschaft durchweg kinderlos blieben. »Mir ist nur eine Ausnahme bekannt. Doch stammt, soviel ich weiss, das Kind in diesem Falle aus der vorvegetarischen Zeit«, schrieb er. »Es wäre interessant, von Sachverständigen zu erfahren, ob die Erscheinung der Unfruchtbarkeit bzw. Impotenz – viele Vegetarier zählen. Das Prinzip der Geschlechtsenthaltung zu ihren ethischen Grundsätzen – aus der vegetarischen Lebensweise resultiert, respektive ob der Drang zum Vegetabilismus vorwiegend bei potenzgeschwächten Individuen entsteht.« Für das Jahr 1904, als er solches schrieb, war das ziemlich starker Tobak!
Aber zuerst muss wohl einmal erzählt werden, wer Erich Mühsam war. Heute erinnert sich dieses Mannes, der später Berühmtheit erlangen sollte, kaum noch einer in Ascona. Vielleicht wäre es nicht übertrieben zu sagen, dass auch sonst nur noch wenige seiner gedenken. Mühsams Vater – man sagt, er sei Apotheker gewesen – hatte ihn in Berlin, wo er zur Welt gekommen war, aufs Gymnasium geschickt und gehofft, sein Sohn würde Optiker werden. Bereits als Sekundaner aber wurde der vielversprechende Jüngling wegen »sozialistischer Umtriebe« von der Schule gejagt. Er ging nach München, wo er sich unter anderem auch im Kabarett betätigte, vor allen Dingen aber seinen politischen Ideen lebte. Er war kein Sozialist, wie das verständnislose Berliner Lehrerkollegium dekretiert hatte – die Sozialisten verachtete er geradezu – und ebenso wenig Kommunist. Er war Anarchist. Ein mittelgrosser, rührend unbeholfener Jüngling mit einem sehr langen Bart, der trotzdem ganz kindlich wirkte. Seine Augen hinter dicken Brillengläsern strahlten Güte aus, und wenn man sie einmal gesehen hatte, konnte man sie so schnell nicht vergessen.
Güte war wohl überhaupt der entscheidende Zug seines Wesens. Er mochte sich Anarchist nennen, er mochte schlimme Reden gegen den Staat, gegen die Kirche führen – im Grunde – war es ihm nur um den Menschen zu tun, er litt mit jenen, denen es schlecht ging, er wollte bessere Lebensbedingungen für die ganze Menschheit.
Nach Ascona kam er fünfundzwanzigjährig keineswegs als Anhänger des Vegetarismus; er gehörte vielmehr zu den politischen Flüchtlingen, wenn auch mehr angewidert von den Zuständen im kaiserlichen Deutschland als aus Zwang. Er gehörte zu den Philosophen, zu den Künstlern, die vereinzelt, aber schon in immer grösserer Zahl nach Ascona pilgerten, um sich dort oder in der Umgegend anzusiedeln. Und er schrieb alsbald eine Broschüre über das Dorf, die gewaltiges Aufsehen erregen sollte.
Diese Broschüre, von der es heute nur noch einige wenige Exemplare gibt, macht einem vieles klar. Zum Beispiel, dass Erich Mühsam, ein Deutscher, sich nicht viel aus seinen deutschen Landsleuten machte, besonders nicht, wenn sie in der Schweiz oder gar im Tessin auftraten. Dann nörgelte er:
»Tagtäglich, wenn von Locarno hertrottend, eine Kompagnie übelster deutscher Reisephilister mit all ihrer Blödheit die herrlichen Gestade des Lago Maggiore entlanggafft, drängt sich mir der Vergleich auf mit den prächtigen Menschen, die hier ihre Heimat haben … ein Vergleich aber auch mit den paar Ausnahms-Deutschen, die hier ihr absonderliches Leben fristen, und derentwegen ich dieses weisse Papier mit Tinte schwarz färbe …« Er hatte noch anderes an den Deutschen auszusetzen. Vor allen Dingen: »Nur der Deutsche ist stolz, weil er arbeitet.«
Er war besorgt, es würden mehr und mehr Deutsche in das Tessin kommen – schon damals! – und dort bleiben. Er erzählte von einem Mann, der für 2500 Quadratmeter in der Umgebung Asconas ganze 300 Franken erlegte, zahlbar mit langer Frist und in kleinen Raten. Dazu hatte er die auf dem Gelände stehende Ruine noch gratis bekommen, durfte sie abreissen und die Steine als Baumaterial verwenden.
»Vor ganz kurzer Zeit dagegen kaufte ein anderer Herr 20 000 Quadratmeter für 6000 Franken, also die doppelte Summe für ein Stück Land, das nicht so schön gelegen ist wie das erste.«
Aha! Kapitalisten! Grundstückspekulanten! Schon begann es! Dabei kann man nicht gerade behaupten, dass die Deutschen, die vom Baedeker instruiert, in der Schweiz erschienen, Kapitalisten waren. Jedenfalls nahm Baedeker es nicht an, als er sie beschwor, vorsichtig mit den Ausgaben zu sein. Das las sich schon um die Jahrhundertwende wie folgt:
»Der gewöhnliche Preis für einen Einspänner ist 15 bis 20, für einen Zweispänner 25 bis 30 Franken täglich, im hohen Sommer auch wohl einige Franken mehr, nebst 10 Prozent des Fahrpreises als Trinkgeld. Ein Pferd oder ein Maultier kostet für den Tag 10 bis 12 und das Trinkgeld für den Begleiter 1 bis 2 Franken. Bergauf ist das Reiten angenehm, bergab zu reiten ist sehr unbequem und ermüdend und für jemand, der zu Schwindel neigt, gar nicht ratsam. Tragsessel werden fast nur von den Damen benutzt.«
Immer wieder warnte Baedeker die Reisenden nach der Schweiz vor »Ausbeutung»; unter dem Titel »Gasthöfe und Pensionen« findet man: »Nach dem Zimmerpreis kann man ruhig fragen.« Endlich bleibt nicht unerwähnt, dass auf die Rechnung überall mehr oder weniger auch das Auftreten des Gastes einwirkt. »Wer mit viel Lärm und Ansprüchen ankommt, alles tadelt und sich am Ende mit einer Tasse Tee begnügt, wer hundert Bedürfnisse hat und zur Befriedigung derselben jedes Mal die Schelle in Bewegung setzt, darf sich nicht beklagen, wenn er doppelte Preise zahlen muss …«
Was nun die Vegetabilisten oder Vegetarier anging, deren Anwesenheit Baedeker auch später sorgsam verschwieg, so hielt der Schriftsteller und Anarchist Erich Mühsam sie einfach für nicht ganz normal. Und wenn er beschloss, den Rest seines Lebens in Ascona zu verbringen – ach, hätte er es doch getan, es wären ihm Zuchthaus, Konzentrationslager und ein furchtbares Ende erspart geblieben –, dann jedenfalls »… nicht, weil ich in der vegetabilischen Lebenshaltung, wenn sie die Massen übernähmen, etwas Kulturförderndes erblicken könnte; auch nicht, weil ich die gewiss erfreuliche Erscheinung, dass die meisten der hier bestehenden Ehen ohne Staats- und Pfaffenhilfe zustande gekommen sind, für einen überwältigenden Beweis der Weltentwicklung halte«.
Von allen, die auf dem Monte Verità lebten, gefiel ihm eigentlich nur Karl Gräser, der ehemalige ungarische Offizier, der sich inzwischen mit Oedenkoven zerstritten hatte und nun zusammen mit Ida Hofmanns Schwester Jenny, der ehemaligen Konzertsängerin, seine eigene Siedlung bewohnte. Die beiden nahmen es bitter ernst mit der Losung »Fort von der Zivilisation«! Sie versuchten alles nur Erdenkliche, um kein Geld ausgeben zu müssen – freilich hatten sie auch nie Geld. Manchmal hätten sie zwar doch welches gebraucht, kamen aber auf originelle Weise darum herum. Mühsam erzählte:
»Frau Gräser, die über eine sehr schöne Stimme verfügt, musste einmal den Zahnarzt aufsuchen; sie bezahlte den ihr geleisteten Dienst mit dem Vortrag einiger Lieder.«
Über das Prinzip der vegetarischen Lebensweise konnte Mühsam nur lachen. Und wenn er lachte, war das – später sollten es noch viele erfahren – nicht ungefährlich. So schrieb er auch ein Lied, »das mir jüngst in einer verbrecherischen Stunde entfuhr und das den Vegetarier als Sammelbegriff vielleicht besser illustriert als eine weitschweifende Charakteristik«.
Der Gesang der Vegetarier Ein alkoholfreies Trinklied (Mel. »Immer langsam voran»)
Wir essen Salat, ja wir essen Salat
Und essen Gemüse früh und spat.
Auch Früchte gehören zu unserer Diät.
Was sonst noch wächst, wird alles verschmäht.
Wir essen Salat, ja wir essen Salat
Und essen Gemüse früh und spat.
Wir sonnen den Leib, ja wir sonnen den Leib,
Das ist unser einziger Zeitvertreib.
Doch manchmal spaddeln wir auch im Teich,
Das kräftigt den Körper und wäscht ihn zugleich.
Wir sonnen den Leib, und wir baden den Leib,
Das ist unser einziger Zeitvertreib.
Wir hassen das Fleisch, ja wir hassen das Fleisch
Und die Milch und die Eier und lieben keusch.
Die Leichenfresser sind dumm und roh,
Das Schweinevieh – das ist ebenso.
Wir hassen das Fleisch, ja wir hassen das Fleisch
Und die Milch und die Eier und lieben keusch.
Wir trinken keinen Sprit, nein wir trinken keinen Sprit,
Denn der wirkt verderblich auf das Gemüt.
Gemüse und Früchte sind flüssig genug,
Drum trinken wir nichts und sind doch sehr klug.
Wir trinken keinen Sprit, nein wir trinken keinen Sprit,
Denn der wirkt verderblich auf das Gemüt.
Wir rauchen nicht Tabak, nein wir rauchen nicht Tabak,
Das tut nur das scheussliche Sündenpack.
Wir setzen uns lieber auf das Gesäss
Und leben gesund und naturgemäss.
Wir rauchen nicht Tabak, nein wir rauchen nicht Tabak,
Das tut nur das scheussliche Sündenpack.
Wir essen Salat, ja wir essen Salat
Und essen Gemüse früh und spat.
Und schimpft ihr den Vegetarier einen Tropf,
So schmeissen wir Euch eine Walnuss an den Kopf.
Wir essen Salat, ja wir essen Salat
Und essen Gemüse früh und spat.
Nicht alle nach Ascona Zugewanderten wünschten sich von Salat zu ernähren. Aber sie mussten trotzdem nicht verhungern, wie misslich auch ihre finanziellen Verhältnisse sein mochten, ja selbst wenn sie so verzweifelt waren wie diejenigen Mühsams, der mit Engelsgeduld darauf wartete, dass eine seiner ungezählten Erbtanten ihm Geld schicken würde. Ein Stück Fleisch, ein Glas Wein fand sich immer für sie. Ascona war damals noch so billig, dass man dort eigentlich fast umsonst leben konnte. Warum auch nicht? »Ein anständiger Mensch hat kein Geld!« war ein Grundsatz vieler, die sich damals dort ansiedelten.
Mühsam selbst bezahlte für sein Zimmer im Monat zehn Franken – das heisst er hätte sie zahlen sollen, aber der Wirt stundete, und stundete gern. Kurz, Ascona war ein Paradies. Um so mehr als es in der Schweiz lag. Mühsam negierte zwar aus Prinzip alle Regierungen, gab jedoch zu, dass im Tessin »die Schweizer Republik mit ihren demokratischen Staatsschikanen anerkanntermassen am zahmsten herumhantiert …«
Aber mit der Regierung hatte er, glücklicherweise für ihn und sie, nichts zu tun; einiges jedoch mit der Bevölkerung, die er bald in sein Herz schloss – einfache, nette Leute, die niemanden ausbeuteten, die allerdings auch nicht unbedingt all zuviel arbeiten wollten. Ascona, so meinte er, habe damals etwa tausend Einwohner gezählt.
Wie stellten sich diese einfachen und natürlichen Menschen zu den Vegetariern oder Vegetabilisten auf dem Monte Verità? Man hielt sie – wie Mühsam selbst – für nicht ganz normal und – schon deswegen – für Engländer. Einige mutmassten auch, es seien vielleicht Zirkuskünstler oder dergleichen. Aber wenn sie ihre Freude daran hatten, in merkwürdigen Kostümen mit langem Haar und unrasiert herumzulaufen – warum nicht? Und wenn sie verheiratet waren und doch nicht verheiratet waren? Wen ging das etwas an?
Machte Mühsam Propaganda für den Kommunismus? Es sah zuerst so aus. »Ich glaubte einmal, Ascona sei der geeignete Ort, um hier eine kommunistische Siedlungsgenossenschaft in grossem Massstab zu versuchen. Aber so wünschenswert das Experiment auch wäre, einmal mit einer genügenden Anzahl von Menschen in primitiver Gemeinschaft, unter Ausschaltung aller kapitalistischen Hilfsmittel, ein Zusammenleben auf eigene Faust zu bewirken, wie es Karl Gräser für sich allein ja schon beinahe erreicht hat – so ist doch Ascona nicht der richtige Fleck dazu.«
Es gab noch andere Gründe für Mühsam, nicht an die Möglichkeit einer kommunistischen Siedlungsgenossenschaft in Ascona zu glauben, insbesondere die Tatsache, dass die meisten Bewohner – nicht die ursprünglichen Asconesen, sondern solche, die sich mittlerweile eingefunden hatten – zu individualistisch waren und daher ungeeignet, jemals wirklich nützliche Mitglieder der antikapitalistischen Gesellschaft zu werden. »Ich wiederhole eine von den verschiedensten Schriftstellern tausendfach geäusserte Erfahrung, wenn ich ausspreche, dass die besten Elemente aller Nationen in Gefängnissen und Zuchthäusern verkommen … Daher – mögen alle deutschen Betschwestern in keuschem Entsetzen die Augen verdrehen – wünsche ich in tiefster Seele, Ascona möchte einmal ein Zufluchtsort werden für entlassene oder entwichene Strafgefangene, für verfolgte Heimatlose, für alle diejenigen, die als Opfer der bestehenden Zustände gehetzt, gemartert, steuerlos treiben …
Wenn ich nach Jahren wieder einmal nach Ascona komme und finde es bewohnt von Menschen, die durch Zuchthäuser geschleift, zerschunden von den Schikanen der Besitzenden und ihren Exekutivorganen, dem Staat, der Polizei und der Justiz, endlich doch hier eine Heimat und eine Ahnung von Glück haben, will ich mich von ganzem Herzen freuen.«
Die für das Tessin zuständigen Behörden waren durch solche Äusserungen zutiefst erschreckt. Man kann das verstehen. Die Tessiner, besonders die Hotelbesitzer in Lugano und in Locarno, erhofften sich steigenden Fremdenverkehr. Und nun sollte Ascona das Eldorado der Zuchthäusler werden? Was konnte dagegen unternommen werden? Natürlich konnte man Zuchthäusler an der Grenze zurückweisen. Aber Personen, die wegen irgendwelcher furchtbaren Verbrechen gesessen hatten, würden es nicht schwierig finden, die Grenze illegal zu überschreiten. Pässe? Die gab es zwar, aber wer besass schon einen? Am besten, man machte Erich Mühsam mundtot. Wenn die Verbrecher aller Länder, die der Schriftsteller in Ascona vereinigen wollte, von seinen Plänen nichts erfuhren, würden sie vielleicht auch nicht in Erscheinung treten.
Aber wie bewerkstelligt man das?
Es gab keine Zensur, die gegen die Broschüre hätte in Anwendung gebracht werden können. Übrigens hätten offizielle Schritte nur Reklame für das Büchlein gemacht. Der Sindaco von Ascona beschloss daher, in aller Stille die ganze Auflage aufzukaufen und, nachdem dies geschehen war, einstampfen zu lassen. Nur einige wenige Exemplare entgingen diesem Schicksal.
Schon im Jahre 1905 hatte sich herausgestellt, dass Mühsam in Ascona nicht bleiben konnte. Er hatte die wenigen tausend Franken nicht zusammengebracht, um ein Grundstück und ein Haus zu erwerben. Die Erbtanten hatten versagt. Er ging nach München zurück, wo bald seine ersten Gedichtbände erschienen und wo er schliesslich eine »Zeitschrift für Menschlichkeit« herauszugeben begann, die er »Kain« nannte.
Über Nacht sollte er einer der prominentesten deutschen Dichter werden.