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DIE HIMMLISCHE REVENTLOW
ОглавлениеZu den markantesten Gestalten auf dem Monte Verità gehörte damals Franziska, Gräfin Reventlow, eine bezaubernde Frau, eine wirkliche Dame, immer heiter, nichts und niemanden allzu ernst nehmend, nicht einmal sich selbst, ihre literarische Produktion oder gar ihre zahlreichen Liebesaffären. Obwohl sie nie einen Rappen besass, ihr Zimmer selbst sauber machen, selbst kochen, ja sich ihre Schuhe selbst putzen musste, wirkte sie stets wie aus dem Ei gepellt.
Diese Frau mit den schönen blauen Augen und dem blonden Haar hatte schon früh Streit mit ihrem Vater und der Mutter gehabt, weil sie nicht darauf warten wollte, eine angemessene Partie zu machen, sondern der Überzeugung Ausdruck verlieh, eine Frau müsse schliesslich auf ihren eigenen Füssen stehen. Sie wäre gern Lehrerin geworden.
Das war zu jener Zeit ein geradezu entsetzlicher Gedanke für die Reventlows in Husum, hoch im Norden Deutschlands. Franziska wollte auch fechten, turnen, schwimmen. Ihre Brüder taten das doch auch! Warum nicht sie? Die entsetzten Worte ihrer Mutter: »So etwas tut eine Frau unseres Standes nicht!«, konnte sie nicht begreifen.
Sie tat eine Menge, was in jener Zeit eine Komtesse nicht tat. So trat sie kurz, nachdem die Eltern nach Lübeck umgezogen waren, natürlich heimlich, einem literarischen Verein bei, dem Ibsen-Club, wo sie den grossen Norweger, auch Tolstoi und Zola und andere Bücher las, die, weil »unanständig«, im Elternhaus verpönt waren. Sie stellte sich die Frage, ob man es nicht einmal mit der freien Liebe probieren solle.
Noch bevor sich Franziska – eigentlich hiess sie Fanny und taufte sich später selbst um – dafür oder dagegen entscheiden konnte, kam eine Freundin ihr zuvor. Es wurde in Lübeck ruchbar, dass diese »Person« ein Verhältnis hatte und ein Kind erwartete. Die Reventlows schlugen die Hände über dem Kopf zusammen. Das war doch zu schrecklich! Mit wem verkehrte ihre Tochter denn eigentlich?
Franziska nahm die Freundin in Schutz. Es sei doch gleichgültig, ob man »so was« vor oder nach der Hochzeit tue. »Zugegeben, der Fall vor der Hochzeit verrät Mangel an Selbstdisziplin. Aber ist es denn nachher anders? Die Sache bleibt ja doch dieselbe.«
Das konnte der Graf nicht verstehen, das konnte niemand im Hause Reventlow und in den Kreisen, in denen »man« verkehrte, verstehen. Die Eltern dachten daran, die offenbar verrückte Person einzusperren. Ein schrecklicher Gedanke für das junge Mädchen. »Ich will und muss einmal frei sein, es liegt nun einmal tief in meiner Natur, dieses masslose Sehnen und Streben nach Freiheit. Die kleinste Fessel, die andere gar nicht als solche ansehen, drückt mich unerträglich, unaushaltbar. Muss ich mich nicht frei machen, muss ich mein Selbst nicht retten – ich weiss, dass ich sonst daran zugrunde gehe.«
Sie pumpte sich ein paar Mark, brannte durch – nach München, wo sie ein bisschen malte, ein bisschen schrieb, ein bisschen liebte. Sie wurde bald bekannt. Sie wurde zum Symbol des Münchner Künstlerviertels Schwabing. Ein Faschingsfest ohne sie wäre gar nicht denkbar gewesen. Und sie steckte dauernd in Geldnöten. »Mein treuester Freund war immer der Gerichtsvollzieher.«
Sie hätte ihren Schwierigkeiten oft ein Ende bereiten können, denn es gab genug Männer, die sie heiraten wollten – aber sie zog es vor, nur mit ihnen zu leben, sie wollte nicht gebunden sein.
Dieses Bedürfnis nach Freiheit war so stark in ihr, dass sie, als sie sich Mutter werden fühlte, sofort den Verkehr mit dem Vater ihres Kindes abbrach. Das Kind sollte nur ihr gehören und niemandem sonst. Der Gedanke, zu heiraten, um ihrem Kind einen »ehrlichen Namen« zu verschaffen, wie man es damals nannte, kam ihr absurd vor.
Als sie wieder einmal ohne Geld dastand, ja als es so schlimm geworden war, dass sie ihren Sohn vorübergehend zu Freunden in Pflege geben musste, entschloss sie sich, nach Paris zu fahren, wo man ihr angeboten hatte, Kassiererin bei der Weltausstellung zu werden. Das bedeutete wenigstens drei warme Mahlzeiten pro Tag.
Einige Stunden bevor sie abfuhr, erschien atemlos Erich Mühsam bei ihr und erzählte ihr etwas, das alles änderte: sie fuhr zwar nach Paris, aber sehr bald weiter – nach Ascona.
Was hatte ihr Mühsam denn erzählt, dass es alle ihre Pläne und schliesslich ihr ganzes Leben verändern sollte?
In Ascona gab es einen Baron Rechenberg, einen Balten von hünenhafter Gestalt, erbitterter Gegner der Vegetarier auf dem Monte Verità, der schon ein kleines Vermögen vertrunken hatte – oder war es ein grosses Vermögen? – und von seinem Vater sehr knapp gehalten wurde. Er bekam nur achtzig Rubel pro Monat, damals etwas mehr als zweihundert Franken.
Er liess trotzdem nicht vom Trinken ab. »Wenn man nicht säuft, was soll man denn noch?«, fragte er Mühsam einmal. Alle waren entzückt von diesem seltsamen Menschen, der, wie betrunken auch immer er war, stets ein Herr blieb. Es geschah zwar fast täglich, dass er die Dorfstrasse entlangtorkelte, kaum fähig, sich aufrecht zu halten. Aber wenn ihm eine Bäuerin begegnete oder eine Kellnerin, riss er sich zusammen, zog seinen Hut und machte eine Verbeugung.
Man erzählte sich, er liebe eine schöne italienische Wäscherin, aber Genaues wusste niemand. Fest stand nur, dass Vater Rechenberg, ehemals Gesandter des Zaren in Madrid, nach Ascona geeilt war und erklärt hatte, den Sohn zu enterben, falls er die Italienerin heirate. Nur wenn er eine standesgemässe Ehe eingehe, zumindest mit einer Baronin, würde er sein Universalerbe werden.
Den Sohn kümmerte das nicht. Er hatte bereits grosse Schulden, und er würde weiter Schulden machen, in Ascona gab man ihm immer wieder Kredit, man hatte viel zuviel Spass an ihm, um ihn zu mahnen. Aber die Freunde Rechenbergs, und dazu gehörte auch Mühsam, suchten überall nach einer passenden Ehegattin. Es musste sich doch eine finden, die bereit dazu war …
Schliesslich kam Mühsam auf Franziska Reventlow. Sie hatte doch überhaupt kein Geld! Und sie war eine grosszügige Frau. Sie würde sich bereit finden, den Gläubigern zu ihrem längst fälligen Geld zu verhelfen und dabei selbst ein Geschäft zu machen, das gar nicht so schlecht war.
Mühsam, der sich gerade in München befand, beschloss, der Gräfin Reventlow die ganze Geschichte vorzutragen. Die Geschichte war verrückt genug, um ihr zuzusagen. Sie fuhr also nach Ascona. Sie sah sich Rechenberg an, sie fand ihn nicht übel. Und: »Ich brauchte nicht einmal neue Monogramme in meine Taschentücher zu sticken.«
Es wurde also ein Vertrag abgeschlossen, demzufolge Franziska nach dem Tode des alten Barons einen gewissen Anteil der »Beute« bekommen sollte. Dann wurde geheiratet. Mit Kirche und allem Drum und Dran. Die Braut erschien zu dieser Feierlichkeit in der Kirche von Ascona mit einem roten Sonnenschirm, was ihre Freunde, die »Verrückten«, in Begeisterung versetzte. Der alte Baron von Rechenberg war es zufrieden und schickte ein begeistertes Glückwunschtelegramm. Später kam er selbst, fand seine Schwiegertochter bezaubernd und gratulierte sich und seinem Sohn zu dieser Fügung des Schicksals. Dann reiste er nach Russland zurück.
Franziska und ihr Gemahl hatten dem alten Mann eine geschickte Komödie vorgespielt. Denn die Ehe, die sie geschlossen hatten, war eine Scheinehe. Die Frau, die sich in München vielen Männern geschenkt hatte, ohne daran zu denken, sie zu heiraten, hatte nicht ein einziges Mal mit ihrem Mann das Schlafzimmer geteilt. Was den Baron anging, so war er immer noch in seine Wäscherin verliebt.
Und dann geschah es, dass der alte Baron die Wahrheit erfuhr. Ohne dass irgendjemand etwas davon wusste, machte er ein neues Testament, in dem er seinen alkoholisierten Sohn auf den Pflichtteil setzte.
Der Sohn, seine Freunde, seine Gläubiger und seine Frau erfuhren das erst ein Jahr später, als der alte Baron gestorben war und das Testament eröffnet wurde. Immerhin, der Baron hatte sehr viel Geld hinterlassen, auch der Pflichtteil war nicht übel. Mit etwas Sparsamkeit hätte der Anteil Franziskas genügt, um sie fünf bis zehn Jahre sicherzustellen. Aber sie war ja nie sparsam gewesen – nicht mit sich selbst, nicht mit Geld, wenn sie es einmal in die Finger bekam. Und nun sollte sie vernünftig werden?
Im Dorf Ascona allerdings gingen Gerüchte um, dass Franziska nun Millionärin, sogar vielfache Millionärin sei. Ihr Kredit wuchs ins Unendliche. Sie war schon immer ein bisschen exzentrisch gewesen, und nun glaubte sie, über die Mittel zu verfügen, um ihren Launen nachgeben zu können. Sie gedachte, zunächst mit einem Freund und ihrem Sohn nach Griechenland zu reisen, und beschwor einen Bekannten, ihr in Kiel telegraphisch echte Matrosenanzüge zu bestellen, für sich, ihren Freund und ihren Sohn, denn nur so wäre es ihr möglich, die Schiffsreise anzutreten.
Es dauerte ziemlich lange, bis die Hinterlassenschaft des alten Baron Rechenberg so weit geordnet war, dass sein Sohn über den Pflichtteil verfügen konnte. Sogleich liess er das Geld telegraphisch auf seine Bank in Locarno überweisen. Aber als Franziska und er am nächsten Tag zur Bank fuhren, fanden sie die Pforten geschlossen. Auskünfte konnten sie vorerst nicht erhalten.
Langsam sickerte es durch: So schnell würde die Bank nicht wieder aufmachen. Sie war in den grossen Tessiner Bankkrach jener Zeit verwickelt; sie war bankrott.
Als Franziska Reventlow davon erfuhr, lachte sie nur. »Es filmt wieder einmal!«, sagte sie. Damit meinte sie, das Leben benehme sich wieder einmal recht merkwürdig – so wie es eigentlich nur im Film zugehe. Das war ihr Kommentar dazu, dass sie »wieder einmal« vor dem Nichts stand, mit grösseren Schulden belastet denn je.
Aber auch Ascona nahm die erstaunliche Wendung mit Gelassenheit auf. Typisch für den seltsamen Ort und seine Bewohner: Franziskas Ansehen litt keineswegs unter den veränderten Verhältnissen. Im Gegenteil, ihr Ansehen stieg, denn sie hatte den Rang einer Gläubigerin erklommen, sie musste dauernd zu Gläubigerversammlungen eilen, und wer Gläubiger ist, der muss doch Geld haben, sagten sich die Asconesen.
Sie hatte schon gelegentlich in München, später auch in Ascona, Übersetzungen aus dem Französischen gemacht, auch dies und das selbst geschrieben, meist Novellen, kleine, heitere Sachen, leicht und durchsichtig, die den Einfluss der Franzosen offenbar werden liessen. Nun schrieb sie in ihrem unverwechselbar eleganten Stil die Geschichte ihrer Scheinehe und ihres schlimmen Ausgangs, und daraus wurde der sehr lustige Roman »Der Geldkomplex«, der in den zwanziger Jahren viel gelesen werden sollte.
Seltsamerweise schrieb diese Frau, der die Worte so mühelos zuzufallen schienen, höchst ungern. Zu einem Schriftsteller, der sie jahrelang unterstützt hatte, indem er sie seine Manuskripte auf der Maschine abschreiben liess, sagte sie einmal: »Wie bringen Sie es nur fertig, Bücher von fünfhundert Seiten zu schreiben? Ich bringe es immer nur auf höchstens hundertundachtzig.« Dass man ihr seine Manuskripte zum Abschreiben gab, machte sie glücklich. Sie dachte nicht daran, diese Arbeit für nicht angemessen zu halten, im Gegenteil. »Gott sei Dank, dass ich jetzt selber keine Bücher mehr schreiben muss«, rief sie aus.
Dieser Schriftsteller war Emil Ludwig.