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EIN PARADIES MIT POSTLEITZAHL: 6612 ASCONA
Оглавление»Na ja, Franzel, Ascona gehört entschieden zur Biografie«, schrieb Franziska Gräfin zu Reventlow (1871–1918) ihrem Freund Franz Hessel, »aber ich sehe vom Turm aus Locarno und die Ecke, wo die Bahn in die Welt hinausgeht, und es wird sehr schön sein, nach einem faulen Sommer da hinauszufahren«. Dazu gekommen ist sie nicht mehr. Dass ihr der frühe Tod das Altern ersparte, hatte sie sich wohl gewünscht: »Die beste Vorsorge fürs Alter ist jedenfalls, dass man sich jetzt nichts entgehen lässt, was Freude macht, so intensiv wie möglich lebt. Dann wird man dermaleinst die nötige Müdigkeit haben und kein Bedauern, dass die Zeit um ist.« Ihre letzte Ruhe hat sie, nach einem dummen Unfall mit ihrem legendären Fahrrad, nicht in Ascona gefunden, sondern auf dem Friedhof der Kirche »Santa Maria in Selva« (im Wald) in Locarno.
Ascona gehörte nicht nur zur Biografie der vielgeliebten Reventlow, die hinreissende Briefe und Tagebücher schrieb und »Petitessen« wie Von Paul zu Pedro oder Der Geldkomplex, den sie mit Grandezza nonchalant ihren Gläubigern widmete. Dem magischen ehemaligen Fischerdorf am Lago Maggiore hofierten im Laufe der Zeit Heerscharen von aus den unterschiedlichsten Beweggründen Zugereisten. Der skurrile Chronist Emil Szittya (1886–1964) fasste es furios zusammen: Er schrieb, 1924, von »Begegnungen mit seltsamen Begebenheiten, Landstreichern, Verbrechern, Artisten, religiös Wahnsinnigen, sexuellen Merkwürdigkeiten, Sozialdemokraten, Syndikalisten, Kommunisten, Anarchisten, Politikern und Künstlern«.
Ascona gehörte – und gehört – auch zur Biografie von Schriftstellern und Journalisten. Prominente Paradebeispiele waren virile, schillernde Figuren wie Erich Maria Remarque (1898–1970) mit seinem Weltbestseller Im Westen nichts Neues oder Hans Habe (1911–1977), von dem das Credo stammt, »der Platz zwischen allen Stühlen« sei der einzige, der eines Schriftstellers würdig sei. Einer von ihnen war auch der ambitioniert recherchierende und figulant schwadronierende Journalist Curt Riess (1902–1993). 1964 erschien sein Buch Ascona. Geschichte des seltsamsten Dorfes der Welt im Europa Verlag Zürich seines Freundes Emil Oprecht (1895–1952), dem legendären Verleger und Verwaltungsratpräsidenten des Schauspielhauses Zürich. Mit dem Schauspielhaus war Riess auch privat verbandelt, seine Gattin, die Diva Heidemarie Hatheyer, gehörte 1955–1983 zum ständigen Ensemble. Sie war während ihrer langen internationalen Karriere die Mutter Courage gewesen, die Heilige Johanna, die Geierwally und in William Faulkners Requiem für eine Nonne eben jene Nonne.
In den sechziger Jahren, als das Buch von Curt Riess erschien, war Ascona tatsächlich keine exklusive Künstler- und Reformerkolonie mehr, sondern ein boomendes Touristenzentrum für (fast) jedermann, auch für den Schweizer Mittelstand. Der Basler Kurt Z., damals 5-jährig, erinnert sich belustigt an fröhlich Federball spielende Nonnen im Borgo vor dem Borromeo, an die tollen Familienferien in einer nagelneuen sogenannten Ferienresidenz und vor allem ans köstliche Zitronen-Gelato im Lido. Dort konnte man – wow! – sogar dem Schlagerstar Freddy Quinn in Badehose begegnen, der gerade mit Junge, komm bald wieder … einen Hit gelandet hatte. Im gleichen Jahr machte auch Connie Francis Furore, mit Paradiso unterm Sternenzelt, Paradiso Palmenstrand … Gemeint war mit diesem Paradies zwar nicht Ascona, aber die kollektiv beseligende Sehnsucht der Kriegs- und Nachkriegsgenerationen nach dem romantischen Süden bekam eine neue Stimme.
Ascona war (und ist bis heute) auch ein Magnet für Flitterwöchner. Einer von damals weiss noch heute, fünfzig Jahre später, wie er schicksalhaft die Bekanntschaft des Hexenmeisters, Antiquitätenhändlers und ehemaligen Schweizer Star-Anwalts Wladimir Rosenbaum machte, in dessen Galerie in der um 1620 erbauten barocken Casa Serodine. Er kaufte, obwohl er eigentlich noch überhaupt kein Geld hatte, für seine Frau eine Skulptur, sie wurden zum Essen eingeladen, und Rosenbaum verriet ihm sogar den simpeln numerisch alphabetischen Code, mit dem er die Preise seiner Kunstwerke chiffrierte.
Rosenbaum (1894–1984) war gerade selber wieder frisch verheiratet, 1957 hatte er sich mit Sybille Kroeber aus Halberstadt im Harz liiert, einer beherzten Journalistin, die 1997 starb. Begraben liegt sie in Ascona, mit ihrem Mann und mit dessen zweiter Frau, der Psychoanalytikerin und Schriftstellerin Aline Valangin, die sich 1939 mit einem Geliebten, dem Komponisten Wladimir Vogel, ebenfalls in Ascona niedergelassen hatte. Wie sich die Ex-Ehefrau ins Rosenbaum-Grab komplimentierte, daran erinnerte sich Sybille lebhaft: »Ro und ich waren bei Aline zum Tee. Wir sassen vor ihrem Haus in einer Laube. Aline hatte gerade Besuch gehabt von dem Geistlichen dieser altkatholischen Kirche, der sie angehörte, und mit ihm hatte sie alle ihre Sterbewünsche besprochen: was für Musik und was sonst alles sie sich denke für ihren Tod. Dadurch kam auch unser Gespräch auf dieses Thema, und bei dieser Gelegenheit sagte Aline: ›Und begraben sein würde ich ja gerne‹ – mit leichter Verbeugung zu mir hin –, ›wenn Sie nichts dagegen haben, mit euch.‹ Sie lud sich sozusagen ein. Ich habe ein wenig gelacht und gesagt: ›Natürlich habe ich nichts dagegen, Aline. Das wäre ja komisch, wenn wir uns da unten nicht alle vertragen sollten.‹«
1998 hat der Wirtschaftswissenschaftler und Historiker Wolfgang Oppenheimer in seinem Buch Das Refugium. Erinnerungen an Ascona (Universitas) mit seiner Wahlheimat grimmig abgerechnet und die Geldgier gewisser Bauherrschaften harsch kritisiert. Das deutsche Wirtschaftswunder, schreibt er, sei zum Paten der ungestümen Entwicklung von Ascona geworden. Auch die Politik des Patriziats mit seinem »Kampanilismus« missfiel ihm immer wieder. Den 1928 eröffneten Golfplatz allerdings lobt er über den grünen Klee, auch als intellektuelles Terrain. Er erinnert sich gerührt an die Ansichtskarten, die seine kunstliebende Mutter sammelte und unermüdlich verschickte, auch an ihn. So habe er schon in jungen Jahren viel Kunstgeschichte gelernt, argumentiert er, ganz pragmatisch: »Ausserdem kann man solche Kartensammlungen, wenn die Zeit knapp wird, einfach liegenlassen, während man sogar langweilige Vorträge bis zu Ende anhören muss und mit dem Lesen von Kunstbüchern überhaupt nie fertig wird.«
Oppenheimer lag auch die Biblioteca popolare am Herzen. Diese im besten Sinn gemeinnützige Asconeser Institution gründete 1927 die zugezogene Amerikanerin Charlotte Giese, leicht gewesen war es nicht. 1952 konnte man im Jahresbericht lesen:
Im tiefen Keller sitzen wir/
Und haben grosse Sorgen/
So vieles möchtet lesen Ihr/
Wir würden’s gern Euch borgen.
Doch stets soll’s etwas Neues sein,/
Und’s Kapital, ist, ach zu klein!/
Zum Kaufen neuer Sachen,/
Was sollen wir da machen?/
Wenn Ihr uns helfen wollt, so geht’s,/
Denkt dran, wie wir bemüht sind stets.
Um Euern Bildungsgrad zu heben,/
Vom Dunkeln – Helligkeit zu geben./
Drum greift recht tief ins Portemonnaie,/
Damit wir bleiben auf der Höh’/
Und ihren guten Ruf bewahre/
Die Biblioteca popolare.
Seit Ende der fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts ist das mehrsprachige Bücherhaus in der hellblau verputzten Casa Laura Pancaldi-Pasini an der Piazza Giuseppe Motta 37 zuhause. Eine tolle Einrichtung! Dem volksbildungsbeflissenen Curt Riess müsste sie eigentlich aufgefallen sein. Viel jünger ist freilich die Kunst am Bau: An der Gartenmauer der Biblioteca prangen seit 2008 die bronzenen Fussabdrücke der deutschen Fussball-Nationalelf samt jenen ihres Trainers Joachim »Jogy« Löw. Die Wand hat der vielseitige Schweizer Künstler Stephan Schmidlin gestaltet, ein Holzschnitzer, Bildhauer und Kabarettist.
Das Ascona-Buch war längst vergriffen, und Sie, geschätzte Leserinnen und Leser, halten nun den neu gestalteten Reprint in den Händen. Curt Riess machte aus Ascona ein Welttheater. Er kannte viele, aber nicht alle. Ausgeblendet hat er zum Beispiel den Literaten Ferdinand Lion (1833–1968), der mit Thomas Mann über Jahre die Zeitschrift Mass und Wert herausgab, und, kein Kavaliersdelikt, die einst sehr erfolgreiche Autorin Mary Lavater-Sloman (1891–1980). Sie lebte von 1943 an dreissig Jahre lang in Ascona, machte sich einen Namen und eine grosse Leser(innen)schaft mit reihenweise süffigen historischen Biographien: Der Schweizerkönig, Katherina und die russische Seele, Genie des Herzens … Auch ihr Roman Wer singt, darf in den Himmel gehn entstand am Lago Maggiore. Für sie galt ausgesprochen nicht, was Remarque prophezeit hatte: »Ascona regt die meisten nicht zum Schaffen an, sondern zum Nichtstun. Wie vielen bin ich schon begegnet, frisch angekommen mit dem Vorsatz, in Ascona ›das Werk‹ zu vollenden! Bald sah man sie gemächlich mit den andern im Sonnenschein vor dem Albergo sitzen und fleissig auf den Lago Maggiore blicken. Tag für Tag hockten sie da vor ihrem Glase, und es dauerte nicht lange, da hatten auch sie jenen ›leeren, hellblauen Blick‹, den Sie an manchem Bohèmien hier bemerkt haben werden.«
Noch verkannt war damals Friedrich Glauser, der »Erfinder« des schweizerischen Kriminalromans, und die wunderbare, lange verfemte Lyrikerin Mascha Kaléko. Auch diverse »Asconeser«, einheimische wie internationale, wurden erst später ernst genommen. Dazu mehr im Epilog. Lesen Sie drauflos!
Esther Scheidegger