Читать книгу Der Engel mit den blutigen Händen - D. Bess Unger - Страница 11

20. Mai, Sonntag, drei Jahre später

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Vasilios Manoli wurde am Morgen vom Meltemi, der heftig an den klapprigen Holzläden rüttelte, geweckt. Schon als Kind hatte er in den Sommermonaten immer dann heftige Migräne bekommen, wenn dieser Schönwetterwind von Norden kommend über das Ägäische Meer herfiel.

Beim Aufstehen erinnerte sich Vasilios an die Ereignisse des letzten Sommers. »Los Vasilios, komm mit!«, forderten ihn zwei Studienfreunde auf. »Wir segeln nach Santorin, das Wetter ist prächtig.«

Morgens hatte er aus Südwest Blumenkohlwolken am Himmel aufziehen sehen, die sich zu vorgerückter Stunde mit hohen Schäfchenwolken abwechselten. Als der Hirte Akylas ihm vom Wetterleuchten am nördlichen Nachthimmel erzählte, wusste Vasilios, dass der Wind, der ihm Kopfweh brachte, aus dem nördlichen Balkan heranzog.

»Nein, segelt ohne mich los, ich muss für mein Physikum büffeln«, hatte er gelogen und die Beiden waren ohne ihn zu dem Segeltörn aufgebrochen. Am Abend hörte er in den Nachrichten, dass ein Boot in der Meerenge zwischen Euböa und Andros von einer gigantischen Fallbö erfasst und zum Kentern gebracht worden war. Nur einen der beiden Segler hatte man retten können, der andere war vom Meer verschlungen worden.

Dass der Meltemi ihm schon im Monat Mai Ärger machte, kam nicht in jedem Jahr vor. Vasilios wusste, oben in den Bergen des Piliongebirges würden die Auswirkungen des Windes für ihn erträglicher sein. Er packte Brot, Käse, eine Zwiebel und eine Handvoll Oliven in den Rucksack und holte einen Krummstab, der hinter der Haustür stets bereitstand, hervor.

»Ich gehe Akylas besuchen«, rief er vom Flur her seiner Mutter zu, die in der Küche herumwerkelte. »Warte nicht auf mich, ich übernachte in den Bergen.« Hastig zog Vasilios die Tür ins Schloss, er war nicht in Stimmung, sich auf ihre Bedenken einzulassen.

Er trat auf die Straße hinaus und hoffte auf keine Nachbarn zu treffen, die ihn in ein Gespräch verwickeln konnten. Eine Windböe wirbelte Sand auf, er spürte die aufprallenden Körner wie Nadelstiche auf der Haut. Schützend hielt er eine Hand vor die Augen.

»Pass auf, wo du hinläufst, du Trampel!«, fuhr ihn eine wütende Stimme an.

Erschrocken blieb er stehen, rieb sich die Augen und blickte auf. Vor ihm standen zwei Frauen, die eine schob einen Kinderwagen. ›Wer hat mich derart unbeherrscht angefahren?‹, fragte er sich. Beide Frauen boten einen ausnehmend erfreulichen Anblick, schienen knapp über dreißig Jahre, waren schick gekleidet, blonde und schwarze Locken umrahmten perfekt geschminkte Gesichter. ›Bestimmt nicht die Blondine mit dem engelsgleichen unschuldigen Gesicht, eher die Schwarzhaarige‹, unterstellte er.

Die blonde Schöne machte mit der linken Hand eine seltsam fließende Bewegung in Vasilios’ Richtung. Im Unterbewusstsein nahm er wahr, dass ihre Handflächen mit roten Punkten übersät waren. ›Hat sie in Dornen gegriffen?‹, wunderte er sich. Schlagartig erweiterte sich der bisher halbseitige Schmerz auf beide Gehirnhälften, im Bereich von Stirn, Schläfe und Auge pulsierend. Die Farbe wich ihm aus dem Gesicht, er begann leicht zu schwanken.

»Ist Ihnen nicht wohl?«, hörte er eine dröhnende Stimme in seinem Kopf. »Wollen Sie sich setzen? Da drüben steht eine Bank.« Er fühlte eine Hand, die sich ihm stützend unter den Arm legte. »Athina, übernimm den Kinderwagen, ich glaube, ich kenne den Mann.«

Urplötzlich ließ der heftige Schmerz in der Stirn nach. »Danke, es geht schon, der Meltemi macht mit zu schaffen«, murmelte er. Erstaunt starrte er auf die Hände der blonden Schönheit. ›Nanu, sie trägt ja mit einem Mal Handschuhe, habe ich mir die Verletzungen ihrer Hände nur eingebildet?‹ Es waren Kurzfingerhandschuhe aus feinem roten Leder mit aufgenähten Applikationen aus edlen Steinen. ›Wozu Handschuhe im Mai, dazu noch so komische Dinger? Und die Schwarzhaarige, ist das nicht die Schwester meines Schulfreundes Filippos? Atridi Papaluka, die Rechtsanwältin aus Volos? Die ist Mutter geworden? Bei ihrem Lebenswandel? Ein Kind passt zu der doch wie die Faust auf’s Auge. Die Blonde muss somit ihre stadtbekannte Freundin sein, ohne die sie keinen Schritt tut. Vor mir steht das berüchtigte geile A-Duo!‹

Die zügellosen Gerüchte, die über die Frauen umliefen, waren bis in sein Dorf gedrungen. Man munkelte, es seien Lesben. Mehrmals im Jahr sollten sie mit der Familienjacht der Papalukas auf große Fahrt gehen. In den angesagten Häfen von Skiathos, Mykonos, Santorin, Piräus, Kos und Rhodos sollten sie Jagd auf gutaussehende Sexpartner machen. In der Regenbogenpresse las man von ausufernden Partys in Diskotheken, von Einladungen auf Jachten berühmter Hollywoodgrößen, von Flirts mit Millionären und Sängern. Man hörte von Reisen in die reichen Golfstaaten, ins südliche Afrika, Neuseeland und Australien.

Dass Athina ihre schlechte Laune an dem Dorftrottel ausließ, war verständlich. Sie hatte seit einiger Zeit das unbestimmte Gefühl, dass ihr Einfluss auf die reiche Freundin ihr allmählich entglitt. Zum einen machte Atridi sich in der Rechtsanwaltskanzlei immer unentbehrlicher, zum anderen war Lena, die einjährige Tochter ihres abgöttisch geliebten Bruder Filippos, ins Spiel gekommen.

Seit der Geburt des Balges hatte das Baby Atridi voll in Beschlag genommen. Die Kreuzfahrten mit der Nemesis waren spärlicher geworden, die langgeplante Tour nach Nepal war auf die lange Bank geschoben worden. Das wurmte Athina mächtig, das Aufspüren von Sternenstaubträgern glich immer mehr der Suche einer Nadel in einem Heuhaufen. Weitläufige Hoffnung hatte sie darauf gesetzt, im Himalaya auf Träger unberührter magischer Energie zu stoßen. Ihr Vorrat ging allmählich zu Neige, Atridis Körper schien immun gegenüber ihrer Unterwerfungsmagie zu werden, immer höhere Dosen an Sternenstaub mussten investiert werden.

Und das war nicht ihr einziger Kummer gewesen! »Schau, meine Nichte! Ist sie nicht niedlich?«, hatte Atridi an dem Morgen geflötet, als sie ihr Lena erstmals präsentierte.

Pflichtschuldig hatte Athina das Kind angelächelt. Nur mit Mühe hatte sie einen Aufschrei unterdrücken können. Genau über der rechten Augenbraue des Babys war ein fünfzackiger Stern aufgeblitzt, leuchtender noch als der von Biglia, wenn er mit Sternenstaub proppenvoll aufgeladen war! ›Mein Gott, das Kind trägt fantastisch viel unberührten Sternenstaub in sich‹, wurde ihr schlagartig bewusst. Nicht auszudenken, wenn das älter gewordene Balg ihren Stern sah und es brühwarm ihrer Tante erzählte! Das würde Getuschel geben, Mutmaßungen und Verdächtigungen würden in die Welt gestreut, ihr sorgfältig gehütetes Geheimnis könnte in Gefahr geraten, entdeckt zu werden. Ihre Freundin war nicht auf den Kopf gefallen, sie konnte eins und eins zusammenzählen.

»Ich kenne dich doch«, hörte sie Atridi zu dem Tölpel sagen. »Du bist Vasilios, der Schulfreund meines Bruders.« Sie gab dem verlegen wirkenden Burschen die Hand und zog ihn zum Kinderwagen hin. »Das ist Lena, seine Tochter, mein Patenkind.«

In Gegenwart dieser verrufenen Frauen war Vasilios nicht wohl in seiner Haut. »Schamlose Weiber sind das«, hatte seine Mutter gezetert und dreimal ausgespuckt. »Nichtswürdige Huren! Dabei war Atridi in seinerzeit Jahren ein nettes Mädchen. Ich denke, die blonde Hexe hat sie verführt.« Gerne wäre er mit einem kurzen Nicken davongeeilt, doch unterwürfig näherte er sich dem Kinderwagen und warf einen Blick hinein.

»Ein zauberhaftes Kind, oder?«, fragte Atridi so voller Stolz, als sei sie die Mutter. »Neun Monate alt.« Ein Redeschwall brach aus ihr heraus: »Stell dir vor, mein Bruder wird in Deutschland ein Geschäft übernehmen und seine Frau Ava will einen Catering-Service aufgeziehen. Hast du Ava schon kennengelernt? Sie ist aus den USA, eine Halbindianerin, Navajo, apartes Wesen. Besuch die beiden noch in dieser Woche! Zur Zeit sind sie in Horefto. In meinem Ferienhaus.« Sie unterbrach ihr Wortgewitter und blickte in sein verlegenes Gesicht. »Ich dachte, du würdest studieren? Was treibst du hier? Semesterferien?«

Vasilios dröhnte der Kopf, er hatte nur die Hälfte mitbekommen. »Genau, Frau Papaluka«, sagte er peinlich berührt. Er warf der blonden Athina einen verstohlenen Blick zu und musste trotz aller Warnungen seiner Mutter an einen Engel denken. »Ich habe mit dem Medizinstudium erst begonnen. Morgen fange ich mit meinem Praktikum an. In der Anassa General Clinic in Volos.« Es war ihm sichtlich unangenehm von persönlichen Dingen zu sprechen, er fühlte den abschätzigen Blick der Engelsgleichen auf sich ruhen.

Athina war zu einem abschließenden Urteil gekommen: Weichliche Gesichtszüge, kann einem nicht in die Augen sehen, geduckte Körperhaltung, Outfit eines Hinterwäldlers, Habenichts. Sie schied ihn aus der Menge der für sie achtenswerten Menschen aus. Die war ohnehin nicht umfangreich.

Atridi war verschnupft. »Frau Papaluka? Was soll das? Früher hast du mich geduzt. Belass es bitte dabei.«

›Wie bitte? Ich soll sie duzen? Ja, als Kind hab ich das gemacht. Doch jetzt? Die ist doch mindestens fünfzehn Jahre älter als ich. Schön, wenn sie darauf besteht.‹

Sie setzte ihre Wortkaskade fort: »Schade, dass du ein Mann bist! Wir suchen ein medizinisch ausgebildetes Crew-Mitglied für die Nemesis. Du weißt, der Familienjacht der Papalukas. Doch leider, männliche Wesen dulden wir auf dem Schiff nicht! Nächste Woche brechen wir unseren jährlichen Insel-Törn durch die Ägäis auf. Frag am besten eine deiner Studienkolleginnen! Unter Umständen hat eine Lust mitzukommen?«

›Um Himmelswillen, ich soll einer Kommilitonin empfehlen, ihren Fuß auf dieses Lotterschiff zu setzen?‹ Er legte eine Hand an die noch immer leicht pochende Stirn und streichelte mit der anderen Lena über die Backen. Das Baby verzog das Gesichtchen zu einem Lächeln.

»OK, Atridi, ich werde mich umhören.« Die ungewohnte Anrede Atridi kam ihm zögerlich über die Lippen. »Entschuldigt, ich habe es eilig.« Unhöflich machte er kehrt und eilte davon.

»Besuch meinen Bruder! Nicht vergessen!«, rief Atridi ihm hinterher.

Die Begegnung mit den beiden attraktiven Mittdreißigerinnen beschäftigte Vasilios noch eine Weile. Im Grunde war ihm diese Atridi Papaluka als sympathische Persönlichkeit erschienen, die umlaufenden Gerüchte über ihre sexuellen Ausschweifungen hielt er jetzt für übertrieben. Auch das andere Gerede konnte er nicht glauben. Nie im Leben war dieser blonde Engel eine Hexe! Na ja, sympathisch war sie ihm nicht vorgekommen, eher eingebildet. Abgesehen davon, als Mann der Wissenschaft glaubte er nicht an Übersinnliches. »Blöder Dorftratsch«, murmelte er. Trotz alledem spukte er aus Vorsicht dreimal aus, um den Bösen Blick, der ihn unter Umständen doch getroffen haben mochte, zu bannen. Man konnte nie wissen.


Vasilios begann den Fußweg zum Bergdorf Zagora hochzusteigen, bei jedem Schritt bergauf wurden die Stiche hinter der Stirn erträglicher. Jetzt sah er die Schönheit der Natur, sah die Ziströschen, die Mauerblümchen, das Immergrün blühen. Er sah an den Berghängen die vereinzelten roten Tupfen der verblühenden Judasbäume und dazwischen Flecken vom lichterfüllten Gelb des Ginsters. Er roch den betörenden Duft der blühenden Robinien, hörte die Vögel, das einsetzende Konzert der Zikaden. Vorsichtiger setzte er seine Schritte, um die Eidechsen nicht bei ihrem Sonnenbad zu stören.

Man vernahm die Glöckchen einer sich nähernden Ziegenherde. »Grüß dich, Vasilios!«, rief eine Stimme von oben zu ihm hinunter. »Ich dachte mir schon, dass es dich heute in die Berge zieht. Der erste Meltemi im Jahr!«

Akylas, der Hirte, war ein Mann von knapp sechzig Jahren. Hochgewachsen und schlank stand er auf seinem Krummstab gestützt da, an der Seite die beiden Hunde Iason und Amira. Er hatte ergrautes Haar, das unter seinem breitkrempigen Hut frech hervorlugte. Ziegen erschienen und rupften Blätter von den Sträuchern.

»Ich habe mir vorgenommen, den Gipfel des Pouri zu erklettern. Dort oben werden die Kopfschmerzen erträglicher sein«, gab Vasilios Auskunft. Er warf dem Hirten einen prüfenden Blick zu. »Hast du was? Du siehst besorgt aus.«

»In der Nacht hatte ich unterhalb des Pouri mein Lager aufgeschlagen. In der Ferne hörte ich Wölfe heulen, gegen Morgen waren die Hunde unruhig. Beim Aufbruch habe ich zwei Tiere vermisst. Schau dich um. Nicht ausgeschlossen, dass die Wölfe sie gerissen haben! Ich kann hier nicht weg, zwei Ziegen werden heute noch werfen.«

»Ich werde die Augen offenhalten, Akylas. Wenn mir etwas auffällt, komme ich beim Abstieg bei dir hier vorbei. Wenn nicht, steige ich direkt nach Horefto ab. Wir sehen uns!«

Vasilios stieg weiter bergauf, es wehte eine frische Brise. Seine Kehle war trocken, er setzte die Flasche an die Lippen und schaute dabei in den tiefblauen Himmel. Zwei imposante Vögel zogen dort ihre Kreise, er bildete sich ein, Flügelrauschen zu hören. Der Wasservorrat war nach einem Schluck aufgebraucht, er erinnerte sich an eine Quelle jenseits des Geröllfelds. »Dort werde ich die Flasche auffüllen«, nahm er sich vor.

Vorsichtig und darauf bedacht, keine Steine loszutreten, bewegte sich Vasilios über das abschüssige Geröllfeld, die Augen zu Boden gerichtet. Alarmiert blieb er stehen, auf den Steinen glänzten Blutstropfen.

Er schaute zum Himmel empor, nach wie vor kreisten die zwei Vögel über ihm, doch hatten sie ihre Flughöhe verringert und schienen auf etwas zu warten. Er folgte der Blutspur und sah, halb verdeckt durch einen Felsbrocken, eine Ziege liegen. Sie war tot. Als er sich näherte, störte er die Schmeißfliegen, die sich mit wütendem Sirren von ihrem üppigen Mahl erhoben.

Links von ihm, dort wo der Berg steil in eine Schlucht abfiel, hörte er ein jämmerliches Schreien. »Das muss die andere Ziege sein! Zum Glück, sie lebt noch.« Er wandte sich in die Richtung, aus der das Klagen kam. Er bewegte sich behutsam, die Bergflanke war abschüssig. Endlich sah er das Tier auf einem Felsvorsprung am Rande des Abgrundes liegen. Es war verwundet, eine Blutlache zog sich zur Abrisskante der Steilwand hin. Auch bei dieser Ziege hatten sich Aasfliegen eingefunden, erwartungsfroh über das kommende Festessen. ›Die Arme, sie ist in ihrer Todesangst auf den Felsvorsprung gesprungen‹, dachte Vasilios. Vor den Wölfen war sie in Sicherheit, doch wieder hochzuspringen, nein, das würde sie nicht schaffen, selbst ohne Verletzung.

Die Ziege hatte ihn kommen hören, voller Panik versuchte sie, sich aufzurichten. Doch ihre Beine konnten sie nicht mehr tragen, sie brach zusammen, rutschte über die abschüssige Felskante und sich in der Luft überschlagend verschwand das Tier in der Tiefe. Vasilios wandte den Kopf ab, einen Aufschlag hörte er nicht. ›Das Beste für das Tier, ein gnädiger Tod, es muss nicht mehr leiden‹, dachte er und drehte sich vom Abgrund weg.

In diesem Augenblick brach der Stein, der dem linken Fuß Halt gegeben hatte, ab. Er kam ins Rutschen. In Panik suchten seine Hände nach Halt, vergebens, rasch und immer rascher ging es bergab. Die Haut riss in blutigen Fetzen von den Händen, verzweifelt versuchte er, sich an den Felsen festzukrallen. Vergeblich, er rutschte über die Felskante, fiel, schlug auf den Felsvorsprung auf, mitten in das geronnene Blut, das die Ziege hinterlassen hatte. Mit einem hässlichen Krachen brach das rechtes Bein.

Vasilios verlor, wie es ihm vorkam, nur für Sekunden das Bewusstsein. Doch als er wieder zu sich kam, war es spätabends, die Sonne war untergegangen. Er sah sich auf dem Felsvorsprung liegen, ahnte den gähnenden Abgrund neben sich, spürte grausame Schmerzen in der Brust und in dem Bein. Blut floss über sein Gesicht. Ein Blick nach oben zeigte ihm, dass er aus eigener Kraft dort niemals hinaufkommen würde, auch ohne gebrochenes Bein und ohne gebrochenen Rippen. Als angehender Mediziner wusste er auch, dass er höchstwahrscheinlich eine Gehirnerschütterung hatte, wenn nicht noch etwas Schlimmeres. Was waren die Anzeichen einer Gehirnerschütterung? Übelkeit, Schwindel, Erbrechen, Orientierungslosigkeit. Er stellte sich laut Fragen: »Wer bin ich? Wo bin ich? Was ist heute für einen Tag? Was ist passiert?« Seine Aussprache war fehlerfrei, die Antworten korrekt, eine schwerwiegende Hirnverletzung lag nicht vor. Doch schwindelig war ihm, verdammt schwindelig. Das war schlecht.

Schliefe er ein oder verlöre erneut das Bewusstsein, würde er den morgigen Tag nicht mehr erleben. Ein Wunder, dass er nicht schon in seiner Ohnmacht in den Abgrund gestürzt war. Eine verführerische Stimme in seinem Inneren flüsterte ihm zu. »Dreh dich und lass dich fallen und alle Schmerzen sind vorbei.« Eine leisere widersprach: »Durchhalten und kämpfen.«

Stocksteif blieb er liegen und versuchte wachzubleiben. »Akylas wird mich finden oder sein Hund Iason«, stöhnte er. Nein, sie würden erst am Morgen vorbeikommen, auch seine Mutter würde ihn erst am Morgen vermissen, da er in den Bergen hatte übernachten wollen.

›Zumindest bin ich hier vor Wölfen in Sicherheit‹, tröstete er sich.

Ein Rauschen wie von riesengroßen Flügeln ließ ihn zusammenfahren, ein grausames Stechen jagte durch seine Brust. Er sah nach oben. Zwei blassbräunliche Vogelköpfe mit gebogenen, blutverschmierten Schnäbeln und nackten bläulichen Hälsen schoben sich über die Felskante. Gierige Augen fixierten ihn. Aasgeier! Schaudernd wandte er den Kopf ab.

Vasilios wusste, solange er bei Bewusstsein war, würden sie ihn nicht anrühren. Er schloss die Augen, vorsichtig, mit arger Mühe, tastete er nach dem Rucksack. Seine Hände schmerzten, die gebrochenen Rippen taten ihm höllisch weh, doch er schaffte es, die Flasche herauszuziehen. Mutlos sank er zurück. Klar, sie war ja leer gewesen. Sein Körper rutschte einige Zentimeter in Richtung Abgrund. Der Durst peinigte ihn schrecklich, zum Glück war die Sonne schon lange hinter den Bergen verschwunden und die Luft wurde kühler. Die Nacht brach herein. Nur nicht einschlafen. Er legte die Hand schützend über die Augen. »Nicht meine Augen, ihr verfluchten Vögel, nicht meine Augen ...« Er versuchte, sich zu beruhigen, den Atem zu kontrollieren, vergebens, die Schmerzen ließen es nicht zu. »Nicht einschlafen, nicht einschlafen ...«

»Schlafe ein und du spürst keine Schmerzen mehr«, ließ sich die Stimme in seinem Inneren vernehmen, sie klang verführerischer als zuvor. Er war mit der Kraft am Ende. Vor seinen Augen wurde es schwarz, die gnädige Ohnmacht trug ihn hinaus in eine schmerzlose Nacht. Er spürte nicht mehr, dass der linke Arm über der Felskante im Leeren baumelte, dass die Hand von den Augen gerutscht war, die sich jetzt schutzlos den Geiern darboten.

Die saßen wie aus Stein gemeißelt. Ruckartig breiteten sie ihre Schwingen aus und stürzten sich auf ihr Göttermahl.


Vasilios wurde von einer betörenden Musik geweckt. Er lag gebettet auf flauschigem Heu, über sich Sterne, im Südosten stand der Vollmond, der sanfte Nachtwind trug den strengherben Geruch von Thymian heran.

›Wo bin ich? Wieso spüre ich in der Brust keine Schmerzen? Was ist mit meinem Bein los? Wieso kann ich es bewegen?‹ Jählings packte Vasilios eine ungeheure Erleichterung: ›Ich habe das alles nur geträumt, habe mich nur ausgeruht, bin eingeschlafen.‹ Doch die Gedanken rasten und eine andere Idee wurde ihm zur entsetzlichen Gewissheit: ›Nein, nein, nicht eingeschlafen, ich bin gestorben.‹

Er versuchte, sich mit den Armen abzustützen und den Oberkörper aufzurichten. ›Nanu, wieso geht das? Woher kommen die zauberhaften Töne?‹ Er blickte in die Richtung, aus der die fremdartige Musik zu kommen schien. Als er sah, was sich da gegen den Nachthimmel im bleichen Licht des Vollmondes abhob, geriet sein Weltbild aus den Fugen.

Auf der Anhöhe stand eine Gestalt aus der Sagenzeit der Antike: ein Kentaur, ein Mischwesen aus Mensch und Pferd. Er hatte ein überraschend jugendliches Gesicht, wallende Haare, um seine Schulter lag ein braunes Widderfell. Er hielt eine Lyra in der Form einer Schildkröte in den Händen, die Arme des Instrumentes waren wie Hörner gebogen.

Vor dem Kentaur saß auf dem Ast eines abgestorbenen Bäumchens ein stattlicher Rabe, mit schräggelegtem Kopf schien er der Musik zu lauschen.

Der Kentaur schlug die Saiten und entlockte der Lyra eine Musik, die Vasilios mit seiner Seele in Einklang brachte. Er spürte eine heilende Kraft, die Schwingungen der Töne umhüllten sein Äußeres und durchdrangen sein Inneres.

Vasilios hörte Worte in der altüberkommenen Sprache seines Landes. Worte und Musik verschmolzen zu einer Einheit, einem wunderbaren Lied, es nahm ihn mit auf eine Reise durch die Zeit.

Bei Tag und bei Nacht

Durchwandere ich das Gebirge,

Unbemerkt von Mensch und Tier.

Die Jahreszeiten,

im ewigen Wechsel, doch niemals gleich.

Der erste Schnee fällt.

Bald schon sind die Wälder

Mit zart purpurfarbenen Anemonen übersät,

Die Wiesen geschmückt

Mit lavendelfarbenen Winterkrokus.

Bauschige Wolken, weiß und rosa,

Der Mandelblüten

Übersäen die Hügel.

Die purpurblaue Iris leuchtet in der Morgensonne.

Die köstlich duftende, gelbe Narzisse,

Verschenkt in Massen den Nektar.

Orchideen, kostbar wie geschliffene Edelsteine, leuchten.

Die ersten Zikaden begrüßen den Sonnenglanz

Des nahenden Sommers.

Judasbäume verspritzen rot über das Land,

Ginster verschenken an die Hügelhänge ihr Gelb,

Goldene Ringelblumen decken die Felder.

Thymian, Minze und Salbei blühen und duften,

Zur Freude der Bienen.

In der Luft hängt der schwüle Duft der Robinien,

Delphinium strahlt in Violett.

Gelben Königskerzen schmücken sich

Mit bunten Schmetterlingen.

Das Orchester der Zikaden

Füllt den Nachmittag mit Schläfrigkeit.

Herbstasphodele zeigt unverzweigte Ähren,

Alraune ihre purpurne Kostbarkeit.

Fliederfarbene Überflutung durch die Zyklamen,

Herbstkrokus und weißer Safran auf Wiesen und Wäldern

Beenden das Jahr.

Der erste Schnee fällt.

Vasilios war, als wandere er mit dem Kentauren über Wiesen und durch Wälder, folgte Bachläufen, kletterte über Berge, durcheilte Täler, ruhte unter Wasserfällen. Und alle Pflanzen, die er blühen sah, verrieten ihm, dass sie wunderbare Kräfte besaßen, den sehnsüchtigen Wunsch hatten, dass er, Vasilios, ihre Heilkräfte erkennen und nutzen werde.

Der Kentaur und der Rabe blickten Vasilios an. »Ich bin ein Gestaltwandler aus einer dir nicht erfassbaren Welt. Was du Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft nennst, existiert nicht für mich. Für die Begegnung mit dir musste ich deine und meine Zeit angleichen. Meine wahre Gestalt würde kein Mensch erfassen, deshalb erscheine ich dir in zweifachen Spielart, Kentaur und Rabe.«

Obwohl das Wesen nur zehn Meter von Vasilios entfernt stand, schien die Stimme von weither zu kommen. Oder hörte er sie nur in seinem Inneren?

»Freud und Leid von Mensch und Tier berühren mich nicht. Die Dauer eures Menschenlebens ist für mich wie ein Wimpernschlag. Das Leben ein Erscheinen und Verschwinden im endlosen Wandel.«

Die tiefschwarzen Körper von Kentaur und Rabe schienen von innen heraus zu leuchten. Die Konturen waren nicht scharf begrenzt, sie flimmerten wie Luft über heißem Asphalt im Sommer. Ihre Augen strahlten in einem derart leuchtenden Blau, dass Vasilios sich geblendet abwenden musste.

»Warum hast du mir geholfen? Das hast du doch, oder?«

Kentaur und Rabe nickte bejahend. »Hilft es dir, wenn ich sage, dass ein bisschen Schwarzer Sternenstaub dich gerettet hat? Nein, du bist nicht ausersehen, das zu begreifen!« Prüfend blickte er Vasilios an. »Nur ausnahmsweise werde ich auf Menschen aufmerksam. In deren Seele muss ein Muster eingeprägt sein, das sich mit einem der vielen Muster, die in meiner Seele eingraviert sind, verbindet. In diesen Menschen schlummern wertvolle Fähigkeiten und mein Bestreben ist es, ihnen ihre Möglichkeiten bewusst zu machen.«

»Was siehst du in meiner Seele verborgen?«

»Schaue und höre in dich hinein, mein Lied hat das Muster in dir entschlüsselt!« Kentaur und der Rabe wandten gleichzeitig ihre Blicke von ihm ab und schauten zu den Sternen empor. »Ich bin nicht an diesen Planeten gebunden. Ich kann die Sonnenaufgänge auf dem Mars genießen, auf dem Jupitermond Titan über die gefrorenen Ozeane schreiten, kann das Sonnensystem verlassen und auf Planeten fremder Sonnen wandern. Oft begnüge ich mich mit deinem Planeten, ja, meist mit diesem Gebirge hier. Glaube mir, obwohl die Menschen schon vieles zerstört haben, du müsstest dich Millionen von Lichtjahren von der Erde entfernen und würdest doch keinen Platz finden, der so schön und wertvoll ist wie dieser.«

Der Kentaur hob beide Hände, der Rabe breitete seine Flügel aus, ließ ein heißeres Kraa, Kraa, Kraa hören, dem ein scharfes Rak, Rak, Rak folgte und sie waren verschwunden. Wie weggezaubert.

Erstaunt blickte Vasilios zum Himmel. Im Osten zeigte sich die Morgenröte und in eben war doch noch Nacht gewesen. Der Mond war hinter den Bergen im Westen verschwunden, die ersten Vögel begannen ihr Morgenlied. Es schien, als wäre die Zeit zügiger vergangen, als wäre sie durch eine mystische Kraft beschleunigt worden.

Er fühlte, dass seine eine Hand etwas umfasst hielt. Es waren drei Stängel mit Blüten in zartem Rosa und mit länglich ovalen Blättern. »Erithrea Centaurium«, flüsterte Vasilios erstaunt, »Wo kommt das denn her?« Der Strauß war mit einem dünnen Band zusammengebunden, es war tiefschwarz und schien wie von innen her zu leuchten. Augenblicklich stand das Traumbild des Kentauren erneut vor seinem Auge. In Gedanken versetzte er sich in die Zeit der griechischen Götter zurück. Hatte der verletzte Kentaur Cheíron mit diesem Heilkraut nicht seine Wunden geheilt? War er nicht der weiseste und gerechteste unter den Pferdemenschen gewesen, ein fundierter Kenner der Arzneikunde?

Lächelnd wollte er die Traumbilder von Kentaur und Rabe abschütteln. Doch die Erinnerung an den gestrigen Nachmittag brach unvermittelt über ihn hereinbrach: ›Ich bin abgestürzt, habe mir das Bein und einige Rippen gebrochen, ich hatte am Kopf eine blutende Wunde. Wieso verspüre ich keine Schmerzen?‹ Er versuchte aufzustehen und konnte nicht fassen, wie leicht es gelang. Er tastete den Unterschenkel ab, alles war in Ordnung. Er fasste sich an die Brust, atmete tief ein und aus. Von Rippenbrüchen keine Spur. Er betastete den Kopf, alles fühlte sich gesund an. Er besah die Hände, sie waren unverletzt, zeigten nicht die geringste Schramme. War neben dem mysteriösen Gestaltwandler auch der Absturz in die Tiefe Bestandteil des Traums gewesen?

Dessen ungeachtet hielt er das Tausendgüldenkraut in Händen, gebunden mit einem Band in einer Farbe, wie aus einer fremden Welt. Wer hatte das dem Schlafenden in die Hand gedrückt? Hier, in dieser Bergeinsamkeit? Ein Wanderer?

Er hörte Hundegebell. »Iason! Hier bin ich!«, rief er. Seine Stimme kam ihm kräftiger vor.

Der Hund lief auf ihn zu, aufgeregt begann er an ihm zu schnuppern. »Alles in Ordnung, Iason«, sagte er und streichelte ihn über den Kopf. »Schade, dass du mir nicht verraten kannst, wessen Duftspur du da erschnüffelst.«

Mikis, ein Junge aus Zagora, kam eifrig winkend den Hang herunter. An schulfreien Tagen trieb er sich bei dem Hirten herum. »Hi, Vasilios«, schrie er schon von Weitem. »Akylas’ Ziegen ...«

»Tot, ich weiß«, unterbrach ihn Vasilios. »Blöde Sache das.«

»Nein, nein. Was redest du? Heute Morgen sind sie aufgetaucht. Putzmunter. Ist das nicht irre?«

»Prima«, krächzte Vasilios. Zu mehr konnte er sich nicht aufraffen. Hatte er nicht mit eigenen Augen gesehen, dass die eine tot, die andere in den Abgrund gestürzt war? ›Am besten, ich erzähle keinem Menschen, was mir seit gestern Abend passiert ist.‹ Er stellte sich die Schlagzeile in einer Boulevardzeitung vor: Angehender Medizinstudent stürzt bei der Suche nach zwei Ziegen im Gebirge ab. Von einem Kentaur errettet! Tote Ziegen wieder wohlauf! Das Studium könnte er vergessen, stattdessen wäre ihm ein Aufenthalt in einer Klapsmühle sicher.


Als Vasilios auf sein Elternhaus zuging, hupte es hinter ihm. Ärgerlich drehte er sich um. Vor ihm hielt ein roter zweisitziger Roadster. Atridi und Athina saßen darin, beide herausgeputzt, wie für eine Party.

Wie unter Zwang wandte er sich der attraktiven Blondine zu, sah ihr direkt in die Augen. Unbewusst umpackte seine Hand den Stiel der Blumen, die mit dem tiefschwarzen Band zusammengebunden waren.

Unter seinem forschenden Blick entglitt Athina die engelhafte Anmut ihrer Gesichtszüge. Die Hexe in ihr erkannte, dass der vermeintliche Dorftrottel sich anschickte, die mühsam errichtete Maske ihrer Unschuld zu durchdringen. Verstört fixierte sie ein Muttermal über seiner linken Augenbraue. Hatte dort nicht die Ahnung eines fünfzackigen Sternes mit tiefschwarzen Rändern aufgeleuchtet? War der bei ihrer gestrigen Begegnung schon vorhanden gewesen? Hatte sie ihn übersehen? Mühsam versuchte Athina eine magische Einwirkung auf seine Schmerzempfindlichkeit, doch im Gegensatz zu gestern blieb ihre Bemühung ohne jede Wirkung. ›Verdammt, warum klappte das nicht?‹ Ihr Blick glitt an Vasilios herab, hin zu der Hand mit den belanglosen rosa Blüten. Sie musste ihre Augen abwenden, als sich das Schwarz des Bandes in ihre Augen brannte.

»Hi, Vasilios! Hast du einen Unfall gehabt?« Atridis Stimme klang nach echter Besorgnis. »Deine Hose ist blutverschmiert!«

Vasilios sah an sich herab. Stimmt, da waren Blutspuren. Hatte der Hirtenhund aus diesem Grund interessiert an ihm geschnüffelt? »Nein, nein, das stammt nicht von einem Unfall«, erklärte er gedankenverloren. »Das ist das Blut einer Ziege. Die hatte eine verhängnisvolle Begegnung mit einem Wolf.« Er sah auf, ein Blick ausgefüllt mit Verachtung und vermischt mit einer Spur von Mitleid traf Atridi.

Atridis Augen verengten sich vor Zorn. ›Ist dem eine Laus über die Leber gelaufen? Was erlaubt sich der Schnösel? Ich frage ihn höflich, als Dank wirft er mir diesen abfälligen Blick zu! Womit habe ich das verdient?‹

»Atridi, wir müssen los, unsere Verabredung!«

»Stimmt, wir sind spät dran!«

Grußlos fuhren die Beiden davon.

Der Engel mit den blutigen Händen

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