Читать книгу Der Engel mit den blutigen Händen - D. Bess Unger - Страница 13

6. März, Freitag, Volos

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Sechs Tage waren seit dem Besuch ihres Neffen vergangen. Seitdem hatte Athina keinen Fuß vor die Tür gesetzt. Verbittert saß sie in der miesen, ungeheizten Wohnung und starrte aus dem vergitterten Fenster. Nach dem kurzen Gastspiel des Frühlings vom letzten Wochenende war es kalt geworden, es regnete Bindfäden. Dabei hätten an einem pastellzarten Himmel federartige Cirruswolken ziehen und von den Bergen her Frühlingsdüfte heranziehen müssen. Man hätte den Salzduft der schaumbekränzten Ägäis riechen müssen, nicht die Geruchsschwaden des stinkenden Mülls, den die Müllabfuhr seit Wochen vergessen hatte abzuholen.

»Um diese Zeit sind wir immer mit dem Auto zum Shoppen nach Athen gefahren», seufzte sie wehmütig. »Ach, die Dido Boutique in der Apollonos! Atridi und ich haben uns dort mit den neuesten Kreationen eingedeckt.« Ein verträumtes Lächeln umspielte ihren Mund, als sie an die ausufernden Nächte dachte, die den kostspieligen Einkäufen gefolgt waren.

Ihre bisherige Lebensplanung war zusammengebrochen. Siebenundvierzig Jahre war sie alt, hatte nie einen Beruf erlernt, ihre Mutter war vor acht Wochen gestorben, das Elternhaus hatte der Schulden wegen verkauft werden müssen. Mit der Freundschaft zu ihrer wohlhabenden Freundin Atridi, die sie seit Jahren großzügig an ihrem glamourösen Lebensstil hatte teilnehmen lassen, war es endgültig aus. Abgeschnitten war sie von den weltweit gefundenen Spendern von Sternenstaub, jetzt saß sie in diesem Loch hier, das sich Wohnung nannte. Ein grandioser Abstieg!

Und warum das alles? Atridis Geist war im Laufe der dreißig Jahre immun gegenüber ihrer magischen Unterwerfungsmagie geworden. Als ihr die Kontrolle über Atridi entglitt, hatte die augenblicklich nach einem Mann Ausschau gehalten und ihn in dem stadtbekannten Rechtsverdreher Alexis auch ruckzuck gefunden. Dabei war dieser Affe zehn Jahre jünger als Atridi! Doch der Glanz des Reichtums, in dem er sich in der Folge würde sonnen können, verdeckte schätzungsweise die Schattenseiten ihres alternden Körpers.

»Atridi«, hatte sie nach dem Tod ihrer Mutter gefleht, »kann ich vorerst bei dir einziehen? In deinem Haus ist Platz genug.« Diese Person hatte die Frechheit besessen, sie kühl zurückzuweisen! »Leider, es geht nicht«, hatte sie gesäuselt und selig vor sich hingelächelt. »Du weist, Alexis will bei mir einziehen, diese Woche noch. Frische Liebe verlangt nach intimer Zweisamkeit.«

»Atridi, hast du von Männern mittlerweile nicht genug? Wir gehen jetzt auf die Fünfzig zu! Mit wie vielen Kerlen haben wir denn in den letzten dreißig Jahren geschlafen?! Und, was war daran so berauschend? Die wollen doch immer nur auf die Schnelle in uns abspritzen und anschließend sind wir uninteressant. Siehst du das etwa anders?«

»Mit einigen Männern fand ich es schön. Ach, die jugendlichen Liebhaber, für die habe ich eine Schwäche! Muskulös, schlanke Hüften, ein knackiger Po, dafür schwärme ich.«

»So? Und warum hast du an immer an meinem Körper herumgespielt?«

»Ach Athina! Mit unseren lesbischen Spielchen haben wir nur die anwesenden Männer scharfmachen wollen. Auf uns! Das war nicht ernsthaft gemeint. Und nebenbei, ohne die anregenden Liebescocktails, die du gemixt hast, hätte ich dich niemals angerührt. Igitt, ich bin doch keine Lesbe! Mein Gott, Athina, werde endlich erwachsen und selbstständig! Hänge nicht ständig an meinem Rockzipfel! Such dir einen Mann und verkaufe deine Pülverchen und Liebestränke an deine auserwählte zahlreiche Kundschaft. Verstehe doch, ich habe Torschlusspanik! Alexis wirkt noch jungenhaft, ist scharf auf mich. Diese Chance werde ich mir nicht entgehen lassen, da kannst du reden, was du willst.«

Das war es gewesen mit der langjährigen Freundschaft. ’Jemand müsste den Papalukas einen Denkzettel verpassen.’

Es klopfte an der Haustür. »Ach, das wird die liebestolle Kalliopi sein, die sich telefonisch angemeldet hat«, stöhnte Athina. »Ihr Partner ist ihr weggelaufen und jetzt will sie ihn zurückhaben.«

Ihre Laune verbesserte sich, Liebeszauber waren für sie eine leichte Übung, verbrauchten nur eine geringe Menge magischer Energie und brachten eine erkleckliche Summe ein. Freilich waren in letzter Zeit Kunden rarer geworden, moderne Frauen setzten immer mehr auf greek-date.gr, der beliebten Partnervermittlung im Internet.

Kalliopi war verwirrt. Hier sollte die brandneue Wohnung der Weisen Frau sein? Sie zog einen Zettel aus der Tasche. Es stimmte, Kiriazis 21. Verwilderter Garten, Flachbau, beschmierte Wände, vergitterte Fenster, alles heruntergekommen. Auch die Haustür machte einen desolaten Eindruck, die Schrauben der Klingel waren herausgedreht, sie hing an zwei dünnen Stromkabeln herab. Schüchtern klopfte sie. »Blöde Idee«, schalt sie sich. Schon bedauerte sie, geklopft zu haben.

Eine Minute verging, endlich näherten sich Schritte und die Tür öffnete sich.

»Kalliopi? Schön, dass du gekommen bist! Komm rein, komm rein!«

Die Frau passte nicht in dieses düstere Umfeld. Schlanke Gestalt, faltenloses Gesicht, dunkle Lidschatten mit feingezogenem Lidstrich, tomatenroten Lippen, blond gelockte Haare, marinefarbenes Kleid mit Pailletten. Seltsam wirkten ihre komischen Kurzfingerhandschuhe. ›Vielleicht der Altersflecken wegen‹, dachte Kalliopi. ›Man sagt, sie soll bereits über vierzig Jahre alt sein. Eigentlich kaum zu glauben.‹

Athina hatte die verwirrte Miene der Kundin bezüglich ihrer Wohnung richtig gedeutet. »Das alles hier ist ein Provisorium.« Sie machte ein umgreifende Gebärde. »Auf die Handwerker ist kein Verlass, erscheinen nicht.« Ohne Umschweife packte sie Kalliopis Handgelenk und zog sie in die Küche. »Was kann ich für dich tun, Kleines?«

Unaufgeräumt, verwohntes Mobiliar, in der Ecke ein verschmutzter Gasherd, von der grauen Decke mit gelblichen Rändern getrockneten Wassers hing ein nackte Glühbirne, der Kunststoffboden war rissig, die Fenster starrten vor Staub. ›Verdammter Mist, was mache ich hier‹, fluchte Kalliopi. ›Nie im Leben bekomme ich hier Hilfe.‹ Verschämt sagte sie »Ich komme wegen meinem Partner.«

»Ich weiß, ich weiß«, lächelte ihr Gegenüber. »Er hat dich verlassen. Lass mich raten, nicht wegen einer Jüngeren, nein, wegen einer Älteren, weil er scharf auf ihr vieles Geld ist. Aus diesem Grund hat er dir Wohnung und Auto überlassen. Habe ich recht?«

›Woher weiß die Frau das? Das habe ich nicht am Telefon erzählt. Oder etwa doch?‹ Ihre Zuversicht, hier Rettung zu finden, wuchs etwas. »Ja, mein Alexis hat sich einer ältlichen reichen Schlampe zugewendet. Die geht auf die Fünfzig zu! Was kann die ihm im Bett schon bieten! Der elende Kerl! Ich will ihn zurück!« Kalliopi hatte sich in Rage geredet. Sie warf Athina einen bittenden Blick zu. »Sie können mir doch helfen?«

Das Herz der Magierin machte einen Hüpfer, als der Name ’Alexis’ fiel. ›Schau, schau, wie klein die Welt ist‹, dachte sie. »Kein Problem, mein Kind, bei deinem Aussehen wird das ein Kinderspiel. In einer Woche wird dein Alexis auf Knien zurückgekrochen kommen.« Prüfend taxierte sie Kalliopis Körper von Kopf bis Fuß: Mitte zwanzig, annehmbares Gesicht, üppige Formen genau dort, wo sie hingehörten, der ideale Körper für einen Mann in den Vierzigern. »Du hättest ihm ein Kind schenken sollen! Das hätte ihn an dich gebunden. Mit Sicherheit sehnt er sich nach einer Tochter.«

Kalliopi lächelte bitter. »Es hat nicht sollen sein. Ich wollte es, er auch, aber der Doktor hat gesagt, dass ich keine Kinder bekommen könne.«

Athina machte eine abfällige Geste. »Die Pfuscher haben von den Künsten einer Kräuterfrau meines Formats nicht die geringste Ahnung. Lass mich nur machen. Du hast, wie am Telefon besprochen, ein Haar von deinem Geliebten dabei?« Sie nahm einen durchsichtigen Plastikbeutel entgegen, hielt ihn gegen das Licht. »In Ordnung, das reicht. Nebenbei bemerkt, hat Alexis noch Sachen bei dir herumliegen?«

«Ja, seinen Lieblingsanzug. Heute Nachmittag will er ihn abholen.« Sie wischte sich über die feucht gewordenen Augen.

Aus dem Küchenschrank holte die Magierin ein Schröpfglas und einen goldenen Becher, füllte ihn zur Hälfte mit Keuschlamm-Tinktur und fischte das Haar von Alexis aus dem Beutel. »Zwei Haare können das Schicksal eines Menschen bestimmen«, erklärte sie und riss Kalliopi ohne Vorwarnung ein Haar aus. Sie ging zur Feuerstelle, erhitzte in einem Schmelztiegel rotes Wachs, goss die Tinktur mit den beiden Haaren hinein und rührte die zähe Masse sorgfältig entgegen dem Uhrzeigersinn um. Sie nahm den Tiegel vom Feuer und wartete, bis die Masse sich abgekühlt hatte.

Athina gab ihr die Form eines Talers, in den sie einen fünfzackigen Stern hinein ritzte, sowie oben und unten jeweils ein Auge. »Den Talisman nähst du in das Futter seines Anzugs«, befahl sie. »Wenn Alexis ihn anzieht, wird er zu dir zurückkehren. Für für alle Zeiten.«

»Das ist alles?« Kalliopi war skeptisch. »Wir müssen keinen Liebestrank aus Kräutern einnehmen? Mit einem Tropfen Blut von uns beiden?«

»Wozu soll das nützen?« Die naiven Menschen! »Vertraue mir, alles paletti! So, jetzt zu deiner zukünftigen Tochter.« Athina dehnte sich wohlig, die Sache begann ihr Spaß zu machen. ›Wenn Alexis zu seiner Verflossenen zurückkehrt, wird das Atridis Selbstbewusstsein gehörig ankratzen. Bekommt die vermeintlich Unfruchtbare des Weiteren ruckzuck eine Tochter, gibt ihr das den Rest. Das ist mir die Verschwendung von Sternenstaub wert.‹

Von einem Ikonenschrein holte Athina eine silberne Dose und entnahm ihr einen geschliffenen, seltsam geformten Rosenquarz, den Fruchtbarkeitsstein. Er glich einer hochschwangeren Frau, war durchscheinend und hatte im Inneren rosafarbene Einschlüsse in der Form eines Fötus. Eine zunehmende, Leben bringende Mondsichel, ein fünfstrahliger Stern und eine Schlange, das Symbol für Weiblichkeit, waren eingraviert. Die uralten Symbole bewirkten einen hervorragenden Zauber.

»Wenn Alexis zu dir zurückgekehrt ist, lass dir im Bett etwas einfallen. Wenn er auf dir liegt und kommt, muss dieser Quarz unter deinem Becken liegen! Hast du das verstanden?« Athina drückte ihr den Stein in die Hand. »Pass gut auf ihn auf, er ist über die Maßen wertvoll. Bring ihn mir danach sofort zurück!«

Im Boden der Dose mischte sie ein Getränk, der die Empfängnisbereitschaft stärkte. Das Rezept des magischen Tranks war uralt, stammte aus Indien und hatte schon unzähligen Frauen geholfen. Das bestimmende Hexenkraut in der Anwendung war die Alraune, sie wurde mit Galgant und Ingwer, Blüten von Muskat und Keuschlamm in einem genau ausgewogenen Verhältnis gemischt. Hinzu kamen fein geschnittene Haare eines schwarzen Hengstes, die stärkten die männliche Zeugungskraft.

Athina zerstieß alles sorgfältig in einem Mörser, kochte das Pulver in einem schweren Rotwein auf und filtrierte den Sud in einem Baumwolltuch ab. Sie füllte die tiefrote Flüssigkeit in ein Glasfläschchen und gab, bevor sie es verschloss, drei Tropfen aus einem mit Gold verzierten Kristallflakon hinzu, den sie wie einen Schatz hütete. Das war drittwichtigste Gabe, die ihr Biglia hinterlassen hatte.

Kalliopi hatte dem Treiben der Frau interessiert zugesehen. Genau so hatte sie sich das Mischen eines Zaubertrankes vorgestellt. Unerwartet überfiel sie eine schreckliche Kälte, ihr wurde schwarz vor Augen, schützend schlug sie die Arme um ihre Brust. Im Unterbewusstsein hörte sie die Hexe murmeln:

Die Dunkelwelt umhüllt dich,

Dein Körper ist nackt.

Noch zeigt er nicht die Spur des Lebens,

Das deinen Bauch verlassen wird.

Bald wird dich weiten

Das gezeugte Leben.

Sanft wirst du wiegen,

Das behütete Kind!

So mir nichts, dir nichts wie die Kälte sie angefallen hatte, war sie auch wieder verflogen. Kalliopi öffnete die Augen. Erschrocken fuhr sie zurück. Vor ihr auf dem Tisch lag ein schwarzer verhärteter Klumpen von zusammengebackenen Organen und Krallen. Wo kam der mit einem Mal her?

Augenblicklich warf Athina ein Tuch über den Träger der magischen Energie und schob Kalliopi den Flakon zu. »Bevor ihr im Bett zur Sache kommt, geht ihr Essen. Dabei mischst du den Inhalt in seinen Wein. Alexis wird nichts merken, der Trank ist farb- und geschmacklos.« Sie stand auf. »So, das war es.«

Kalliopi nestelte aus ihrer Handtasche eine Geldbörse hervor und entnahm eine 50 Euro Banknote. »Ist das ausreichend?« Sie blickte Athina an und erwartete ein von Dank erfülltes Lächeln ob ihrer Großzügigkeit.

»Meine Kleine«, sagte die Hexe und tätschelte Kalliopi die Hand. »Steck dein Geld weg.« Ihre Gesichtszüge wurden hart. »An jenem Tag, an dem dir dein Arzt deine Schwangerschaft bestätigt, kommst du mit 5 000 Euro zu mir.«

Entgeistert starrte Kalliopi sie an. »5 000 Euro für eine halbe Stunde Arbeit? Ich glaube nicht, dass ...«

Athina fiel ihr ins Wort. »Du glaubst, das sei zuviel? Du bekommst deinen Mann zurück, ich lasse dich mit einer Tochter schwanger werden, obwohl du nicht fruchtbarer bist als die Wüste Sahara. Geh jetzt! Spätestens in einem Monat sehen wir uns.«

Als Kalliopi auf der Straße stand war sie noch immer geschockt. »Die sieht von mir keinen Cent«, murmelte sie im Weggehen. Doch dann erinnerte sie sich an diese furchtbare Kälte, die sie angeweht hatte und an den ekligen Klumpen, der urplötzlich auf dem Tisch gelegen hatte. Sie wusste, sie würde zahlen.


Die Magierin war in Fahrt gekommen. »Ich muss Damis anrufen. Für die Nennung des Aufbewahrungsortes der Schlüssel ist eine Gegenleistung fällig.« Sie griff zum Telefon und wählte seine Nummer. Ihrem Neffen war es in der Tat gelungen, den Schlüssel zur Nemesis aus Atridis Wohnung zu entwenden und mithilfe der Taucherausrüstung die Drogen aus dem versenkten Schiff zu bergen. Er hatte sie nach Deutschland schmuggeln können, um sie dort zu verkaufen.

»Geh ran, Damis«, flehte sie. »Mach schon.«

»Was ist, Tante?«, hörte sie ihn schnaufen. »Ich entlade zurzeit den LKW.«

»Wo bist du? Heidelberg oder Mannheim?«

»Im Geschäft von Filippos, in Heidelberg.«

»Das trifft sich bestens. Was für Drogen hast du aus dem Meer gefischt?«

»Crystal Meth und Cannabis«, flüsterte Damis. »Das verkauft sich prima.«

»Wie ist das Zeug verpackt?«

»Wieso interessiert dich das? Willst du das Zeug auch nehmen?« Damis begann sich zu wundern. »In Packs, das sind so Papierbriefchen.«

»Nicht für mich«, wehrte sie ab. »Hör zu, ich weiß, wie wir die Papalukas in die Pfanne hauen können. Und sag es besser gleich, wenn du dich nicht traust.«

»Leg schon los.«

»Auf einige der Drogenbeutel schreibst du in winziger Schrift die Adresse von Filippos’ Geschäft. Sieh zu, dass du die Beutel an Schüler verkaufen kannst! Bekommst du das hin?«

»Kein Problem.«

»Verstecke anschließend eine Drogenkiste mit ein paar zerrissenen Drogenbeutel im Lager von Filippos’ Laden. Das ist dein Part, um den Rest kümmere ich mich.«

Nachdenklich kratzte sich Damis den Kopf. Würde der Verdacht des Drogenhandels ausschließlich auf Filippos Papaluka fallen? Was, wenn die Polizei auch ihn ins Visier nehmen würde? Zweifel blieben, doch die Aussicht, den Papalukas einen Denkzettel zu verpassen, war zu verlockend.


Der Regen hatte aufgehört. Athina trat an das Fenster, öffnete es und lehnte ihre Stirn an das rostige Gitter. Der Wind verjagte die letzten Wolkenfetzen vom Himmel, der Frühling meldete sich zurück. Angeekelt von dem Geruch der nassen Müllberge auf der Straße warf sie das Fenster zu.

Für eine lange Zeit würde Filippos Papaluka im Gefängnis verschwinden. Ein kolossaler Schicksalsschlag für ihre ehemalige Freundin. Ihr geliebter Bruder, ein gewöhnlicher Zuchthäusler! ›Doch reicht mir das schon? Was - außer banaler Rache und schaler Genugtuung - habe ich davon, wenn Atridi sich um Filippos sorgt? Wenn ihr Liebhaber sie verlässt? Als Trostpflaster hat sie ja noch ihre geliebte Nichte! Der Balg wird ihr Trost in der Einsamkeit sein.‹

»Nicht übel, dass du jetzt Lena ins Spiel bringst«, lobte sie sich. »Sie könnte sich zu einem Problem auswachsen.« Atridis Nichte war Trägerin des gewaltigsten Vorrates an unberührter magischer Energie, der Athina bisher untergekommen war. Eine dreißigjährige Erfahrung hatte sie gelehrt, dass es viel wahrscheinlicher war, einen Sechser im Lotto zu bekommen, als auf einen solchen Menschen zu stoßen.

»Wenn Lena auf einen Hexer trifft, kann er ihre magische Energie erwecken und sie damit zu einer übergroßen Magierin machen«, stöhnte sie. »Auf der anderen Seite könnte der Hexer dem Mädchen auch seinen Sternenstaub komplett entreißen und ihn für sich vereinnahmen!« In beiden Fällen würde ihr eine Konkurrenz von beachtlichem Ausmaß erwachsen.

Ihr Blick fiel auf den Träger ihrer Schwarzen Künste. Verlockend und sich anbietend lag er vor ihr auf dem Tisch. Wie unter Zwang umschlossen ihre Hände den verhärteten Klumpen von Organen und Krallen. Sie packte derart kräftig zu, dass sie aufschrie. Die nach außen weisenden Klauen bohrten sich in ihre Handflächen. Warmes Blut versickerte in dem Träger.

Der Schmerz gebar die Lösung: ›Ich lasse Atridis geordnete Welt auf der ganzen Linie aus den Fugen geraten. Ich trenne sie nicht nur von Liebhaber und Bruder, nein, ich bringe nicht zuletzt ihre Nichte um! Verlassen, einsam und am Boden zerstört wird sie mir keinen Widerstand entgegensetzen können. Erneut werde ich sie umgarnen, wie in jenen Tagen, als ich ihre Eltern um die Ecke bringen ließ. Ihren angeschlagenden Geist werde ich mir endgültig unterwerfen.‹

Im ersten Moment war Athina erschrocken über diese barbarischen Eingebungen. Sie wollte schon aufstehen und den Träger der Schwarzen Magie in den Schrein zurückstellen. Doch es war zu spät. Wie ein heimtückisches Krebsgeschwür hatten die Gedanken Besitz von ihr ergriffen, schon arbeitete ihr Gehirn an der Realisierung.

Wie sollte sie das Mädchen aus dem Weg räumen? Ein Unfall? Nein, die Zeitlinien von Lena und den am Unfall beteiligten Menschen müssten verändert werden, eventuell noch die der behandelnden Ärzte, wenn sie nicht sofort hin war. Darin steckten zu viele Unwägbarkeiten.

»Sie soll sterben, stückchenweise, von allen verlassen«, sprach die Magierin mit dem engelsgleichen Aussehen und den blutigen Händen in die Stille des Raumes. »Ich werde ein mysteriöses Zusammenspiel zwischen Mensch und Dämon arrangieren.«

Um einen Dämon herbeizurufen, musste einer der ungeheueren Flüche eingesetzt werden. Drohend standen ihr die Konsequenzen vor Augen, nahezu ihren kompletten Sternenstaub würde sie verbrennen müssen! Und woher neuen nehmen?

Fluch? Fluch! Der Atem stockte ihr. Was hatte Biglia vor dreißig Jahren ihr zugeflüstert? ’Du kannst einen Sternenstaubträger mit einem Fluch töten und ihm damit seinen Sternenstaub entreißen.

Warum hatte sie daran nicht gleich gedacht? Der Sternenstaub des Mädchens würde auf sie übergehen, wenn sie es tötete! In Zukunft musste sie keine Konkurrenz von fremden Magiern mehr fürchten. Glücksgefühle begannen jede Zelle ihres Körpers zu durchströmen, ihr war zumute, als schwebe sie über den Wolken.

Wie die Verwünschung gestalten, damit der Sternenstaub in sie einfließen würde? Stunde um Stunde saß Athina da. Die Hände hatten den Hexenträger umpackt, tiefer und tiefer bohrten die Krallen sich in die Haut, ihr Blut floss und floss, versickerte hinein in die ausgetrockneten Herzen der Hähne. Den Schmerz nahm sie nicht wahr. Die Erinnerung an ein Gespräch mit ihrem Geliebten stieg in ihr auf. ’Wenn du jemandem mit Gewalt seinen Sternenstaub entreißen willst, musst du ihm einen grausamen Tod bereiten. Unterstütze den passenden Fluch, indem du eine weiße und eine schwarze Taube opferst.

›Ich muss Zosimas sofort eine Nachricht schicken. Auf der Stelle soll er die Vögel besorgen und eine Axt mitbringen. Noch in dieser Nacht gehe ich zum Kreis der Verfluchung. Ich werde aus der Dunkelwelt einen Dämon herbeirufen. Unmerklich wird er sich an das Mädchen anklammern, wird seinen Todessirup in sie einträufeln. Im Sommer, wenn Lena nach Griechenland kommt, ist sie reif für den Tod.‹

Mitleid mit ihrer verflossenen und zukünftigen Freundin hegte sie nicht. War sie nicht die personifizierte Ursache ihres Unglücks?


Es war schon dämmrig, als Athina in Horefto eintraf. Aus Westen blies ein kalter, scharfer Wind, trotz des warmen Mantels fröstelte sie. Die Magierin blickte zum Himmel empor, mit Befriedigung sah sie, dass im Süden das Sternbild der Taube durch die milchigen Wolkenfetzen blitzte, die von dem zunehmenden Mond durchstrahlt wurden. Über dem Sternbild der Taube leuchteten die Planeten Saturn und Jupiter. Die Sterne standen für ihr Vorhaben günstig: Der Einfluss des Jupiters sorgte dafür, dass ihr Vorhaben Schritt für Schritt auf sein schreckliches, maßloses Ende hinauslief; der Saturn wachte darüber, dass keine unvorhersehbaren Ereignisse Lenas Schicksal verhindern konnten.

Der Fischer Zosimas wartete schon an der verabredeten Stelle. Er war für Athinas finstere Machenschaften der ideale Gehilfe. Ohne Fragen zu stellen oder viel Geld zu verlangen, tat er für sie die seltsamsten Dinge. Athina wusste um das Verbrechen, das auf Zosimas lastete, und er ahnte, dass sie sein Geheimnis kannte. So bildeten sie eine unheilvolle Schicksalsgemeinschaft.

Sein von grauen Strähnen durchzogenes Haar war nach hinten zu einem Knoten zusammengebunden. Wer von seinen unter buschigen Augenbrauen hervorblickenden grauen Augen fixiert wurde, dem lief ein kalter Schauer über den Rücken. Er war mager, etwa vierzig Jahre, seine verlebten Gesichtszüge ließen ihn viel älter erscheinen. Er wusste, dass Athina Schreckliches vorhatte, es war ihm egal. Alles war ihm egal und das schon seit Jahr und Tag. Er erlaubte sich ein höhnisches Grinsen, als Athina auf ihn zutrat.

»Hast du die Tauben und die Axt, Zosimas?«, herrschte sie ihn an.

Er warf die Zigarette weg, trat mit dem Stiefel die Glut aus und deutete wortlos auf die Kiste und seinen Gürtel, an dem eine Handaxt hing.

»Komm, lass uns zu dem Waldplatz gehen«, forderte sie ihn auf.

Zosimas nickte, nahm den Kasten unter den Arm und ging voran zu dem magischen Platz oben im Wald, an dem Athina ihre dunklen Beschwörungen zelebrierte. Die Magierin hielt einige Meter Abstand, der Fisch- und Schweißgeruch, der seinen Kleidern anhaftete, war ihr zuwider.

Ihre Augen hatten sich bald an die Dunkelheit gewöhnt, das Mondlicht gab ausreichend Helligkeit. Sie folgten einem Bergpfad, bogen in den Wald ab und erreichten eine Lichtung, die dicht mit Gras bewachsen war. In der Mitte stand ein Wildapfelbaum. Am Rand der Lichtung hatte Athina vor Jahren schon begonnen, Hexenkräuter wie Stechapfel, Bilsenkraut, Tollkirsche, Wolfsmilch, Johanniskraut und Baldrian anzupflanzen.

Die Magierin befahl Zosimas, den beiden Tauben eine Schlinge um den Hals zu legen, sie auf zwei gegenüberliegenden Ästen des Apfelbaums festzubinden und die Axt in den Stamm des Baumes zu schlagen. Die Tauben blieben dabei gelassen, kein Laut war zu hören. Da die scharfe Klinge der Axt in die Rinde einschlug, gab es einen Ton, als würde der Baum wehklagen.

Zosimas ging zum Rand der Lichtung, setzte sich gleichmütig mit dem Rücken zu Athina auf seine Kiste und blickte über das dunkle Land.

Athina entnahm ihrer Tasche sieben angespitzte Pflöcke von einer Korkeiche. Sie drückte jeden im Abstand von einem Schritt vom Baumstamm so in den Boden, dass sie die Ecken eines regelmäßigen Siebenecks mit dem Wildapfel-Baum im Zentrum bildeten. Die Pflöcke verband sie mit einem in Hühnerblut getränkten Wollfaden. Mit einem Rechen richtete sie die Grashalme innerhalb des magischen Siebenecks in Richtung des Mondes aus. Sodann legte sie nach einem befremdlichen Muster quadratische, rechteckige, dreieckige und kreisförmige Metallplättchen in den Farben blau und rot auf die Erde.

Je eine Kerze stellte sie in die sieben Ecken und zündete sie an. Athina hatte sie aus Honigwachs, Wiedehopfblut und pulverisiertem Tausendgüldenkraut hergestellt. Damit sollte das magische Siebeneck von Geistern abgeschirmt werden, die ihren Fluch stören könnten.

Athina trat in den Kreis der Verfluchung. Das durch die dahinziehenden Wolken fallende Licht des Mondes und die flackernden Flammen der Kerzen ließen ihre Gestalt bedrohlich erscheinen. Ihr Körper senkte sich nach vorn und sie fixierte mit den Augen die bunten Metallplättchen, die mit genau festgelegten magischen Kräften aufgeladen waren. Die roten und blauen Farben der Metallstücke verschmolzen vor ihren Augen, der Boden des Kreises der Verfluchung erstrahlte in Violett. Athina blickte auf und beobachtete die Tauben. Diejenige, die zuletzt wegfliegen würde, rief den Todesboten von Lena herbei.

In der Ferne war ein seltsamer Laut zu hören, wie erstauntes Rufen.

Die weiße Taube gab einen Schrei von sich und versuchte wegzufliegen. Athina packte den Vogel und erhängte ihn augenblicklich in der Schlinge. Mit der linken Hand riss sie die Axt aus dem Stamm, packte mit ihrer rechten die schwarze Taube, drückte sie gegen eine Astgabel und köpfte sie. Sie riss den rechten Flügel der weißen Taube und den linken Flügel der schwarzen Taube ab und legte sie auf ein Bett von trockenen Kräutern, das sie vorbereitet hatte. Sie zündete die Kräuter mit einer Kerze an, sie fingen sofort Feuer. Aus den verbrennenden Federn schossen Funken in den Himmel. Athina ließ das Blut der schwarzen Taube in die Flamme tropfen. Es verdampfte zischend.

Die Magierin führte die Geste der Öffnung aus: Beide Hände führte sie in Höhe ihres Bauches, die Handgelenke abgebogen, die Hände derart ausgestreckt, dass die Finger zueinander deuteten. Die zusammengelegten Hände zogen einen Kreis, zuerst nach oben und vorne, dann nach unten und die Bewegung endete über ihrem Bauch. Die Hände trennten sich bis auf Körperbreite und schoben sich unendlich sachte, als würden sie zwei schwere Türflügel auseinander schieben wollen, nach außen. Jählings wurden die drückende Arme mit der Gewalt von zupackenden Händen auseinandergerissen, Düsternis und eine schreckliche Kälte brach über die Welt herein. Sternenstaub verbrannte, der Tod einer Schülerin aus Heidelberg und der Tod von Atridis Nichte hier im Piliongebirge war beschlossen.

Ein Windstoß fuhr über die Lichtung, die sieben Kerzen und das Feuer erloschen. Hinter den Wolken verborgen war die Mondsichel vor den Saturn gezogen, doch für die beiden Opfer zu spät, er konnte seinen Einfluss auf die künftigen Ereignisse nicht mehr mindern.

Athina trat aus dem Ring. Den verbrannten Sternenstaub ließ sie als weißglühender Umriss ihres doppelten Selbst zurück. Geisterhaft und dämonisch stand die Kontur da, verblasste und war verschwunden. Athinas fühlte sich um Jahre gealtert.

Noch immer lasteten die furchtbare Kälte und die aussichtslose Düsternis auf ihr. Die Hexe verschränkte die Arme vor der Brust und zog den Stoff ihres Mantels um sich. Erleichtert blickte sie zum Himmel empor, sah die Sterne und den Abglanz des Mondes zwischen den Wolken dahintreiben. Erschöpft schleppte sie sich zum Rande der Lichtung. Zwei Mädchen hatte sie opfern müssen, wahrhaft nicht schön, doch dafür war ihre Zukunft gesichert.

Als die Beiden den Platz verlassen hatten, erhob sich ein Rabe vom Ast einer Robinie. Mit kraftvollen Flügelschlägen stieg er auf und flog zum höchsten Gipfel des Piliongebirges.

Der Engel mit den blutigen Händen

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