Читать книгу Der Engel mit den blutigen Händen - D. Bess Unger - Страница 14

12. März, Donnerstag, Heidelberg

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Nasse, dicke Schneeflocken fielen vom grauen Himmel, der Winter war nach einem kurzen Frühlingsausbruch zurückgekehrt. Die fünfzehnjährige Lena schlenderte zusammen mit ihrer Freundin Shara frierend und schlecht gelaunt über den Schulhof des Hölderlin Gymnasiums.

In einer Ecke standen drei Mädchen und zwei Jungen aus der 11A. Die Mädchen hatten die Köpfe zusammengesteckt, gemeinsam glotzen sie auf das Display eines Smartphones, ab und zu kicherten sie, eine stieß mit einem Mal einen schockierten Schrei aus. Die zwei Jungen ordneten sich vom Typ her in Bleistift und Radiergummi ein. Beide trugen teure Lederjacken. Der dicke Junge redete auf den anderen ein und zeigte ihm etwas, das in seiner Hand lag.

Shara, vorlaut wie es ihre Art war, rief ihm zu: »Hi, verteilst du Packs? Dealst du? An Haschisch wären wir interessiert.« Im Kifferjargon kannte sie sich aus, Drogen waren im Unterricht das Thema der Woche.

Genervt blickte der Große zu ihnen herüber. Er hatte ein blasses Gesicht mit müde blickenden Augen, die Brauen waren gepierct. Shara konnte sehen, dass etwas Buntes herunterfiel. Niemand in der Gruppe bemerkte, wie es im Schnee versank. »Darüber macht man keine Witze«, raunzte er. »Verpisst euch, ihr Humanmüll!«.

»Nicht so rotzig, du Schrottfresse«, gab Shara wenig damenhaft zurück. »Zumal ich höflich gefragt habe!« Sie erlaubte sich diese Frechheit, da ein Lehrer vorbeischlenderte und die Gruppe misstrauisch beäugte.

Die drei Mädchen bekamen nichts mit, unbeteiligt standen sie in kurzen T-Shirts im Schneegestöber und Lena wunderte sich, dass sie nicht froren. ›Der dealt mit Drogen‹, dachte sie, ›wie sonst würden die Mädchen das bei dem Sauwetter ohne Jacken aushalten?‹

Der Spargeltarzan schaute auf. Lenas sportliche Figur, ihre seidig glänzende schwarze Haare gefielen ihm. Als sein Blick auf ihre ausgeprägten Mandelaugen und hohen Wangenknochen fiel, verlor sich schlagartig sein Interesse. ›Eine Asylantin‹, dachte er. ›Das Pack hat es schon an diese blöde Schule geschafft.‹

»Klaro«, antwortete der stämmige Junge mit der schicken Lederjacke. »Ein bisschen Antörnen, ihr Tussis? Alles da, Shit, Crystal Meth, Glückspillen, nichts Gefährliches. Oder blaue Bomben für eure Kerle? Dass sie bei euch Flachbusen einen hochkriegen?«

»An deiner Stelle wäre ich vorsichtig mit solchen Angeboten«, sagte Lena. »Das kann übel ausgehen! Davon abgesehen: Nein, nicht interessiert!« Angeekelt wandten sich die Mädchen von der Gruppe ab. Die nachgerufenen Beleidigungen versuchten sie zu überhören.

»Hat der das im Ernst gemeint?«, fragte Shara. »Und was war das mit der blauen Bombe?«

Lena flüsterte ihrer Freundin eine Erklärung ins Ohr. Herausprustend stiefelten sie davon. »Mit den Drogen, das war nur Angabe. War wohl von der Themenwoche angeregt.«

Die Schulglocke läutete, die Schüler verzogen sich ins Gebäude. »Warte!« Shara lief rasch zu der Stelle, wo die Jungen gestanden hatten.

»Was suchst du da? Los, wir müssen uns beeilen!«, drängte Lena.

Doch Shara ließ sich nicht beirren. Sie knetete den Schneematsch durch, zog einen Plastikbeutel mit aufgedrucktem rotem Sticker heraus, schob ihn in die Hosentasche und lief zu Lena zurück.

Frau Brechthold war noch nicht da, einige Schüler wischten hektisch über die Displays ihrer Smartphones. Lena und Shara hingen mit anderen an den Fenstern und blickten in das Schneegestöber hinaus.

Shara packte Lena am Arm. »Da, schau! Dick und Doof!«

Auf dem Schulhof wühlten die beiden Jungen im Schneematsch. Die Schüler an den Fenstern johlten, ein Mädchen aus einem unteren Stockwerk rief Unverständliches nach unten. Sie drohten wütend hinauf und schüttelten die Fäuste.

»Die können suchen, bis sie schwarz werden«, flüsterte Shara. »Ich habe, worauf sie scharf sind!«

»Zeig her, was ist es?«, wollte Lena wissen.

Shara schob ihre Hand in die Tasche. Die Tür des Klassenzimmers fiel ins Schloss, die Lehrerin war hereingekommen.

»Auf die Plätze, ein bisschen dalli!«, schimpfte sie beim Anblick der Schüler, die sich aus den aufgerissenen Fenstern lehnten. »Die Fenster zu! Ich verteile jetzt ein paar Arbeitsblätter für unser Thema von heute.«

Als sie zu Sharas Tisch kam, wollte die etwas mit der Hand verdecken, zu spät, die Lehrerin erstarrte. Vor Shara lag ein Beutelchen, eingepackt in eine Folie mit aufgedrucktem rotem Sticker.

»Shara, was ist das? Woher hast du das?«, fuhr sie das Mädchen an. Im Lehrerkollegium waren Bilder dieser Hülle herumgereicht worden, die Polizei hatte darauf aufmerksam gemacht.

Lena folgte mit den Augen dem ausgestreckten Zeigefinger der Lehrerin und erkannte sofort, was das Emblem auf dem Sticker darstellte. Seit ihrem siebten Lebensjahr betrieb sie Shinson-Hapkido, eine aus Korea stammende Technik zur Selbstverteidigung. In ihrem Übungsraum stand eine Buddha-Figur: Seine linke Hand lag mit der Handfläche nach oben im Schoß, die andere ruhte auf dem Knie, die Finger zeigten nach unten in der Geste der Erdberührung.

Auch auf dem Sticker war ein sitzender Buddha in der Meditationshaltung zu sehen. Er trug ein rotes Gewand, die Hautfarbe war giftgrün, auf einem dünnen Hals saß der Kopf eines kahlköpfigen Alien mit schlitzförmigen Raubtieraugen. Boshaft starrte es auf eine schwebende Erdkugel, die über seiner linken Hand schwebte. Lena hatte das Gefühl, dass sie das Bild schon gesehen hatte. Wo war das nur gewesen? Ihr fiel es nicht ein.

»Shara! Ich habe dich etwas gefragt! Gehören die Drogen dir?«, unterbrach die bestürzt klingende Stimme von Frau Brechthold Lenas Gedanken.

»Drogen? Das sind doch keine Drogen«, stammelte Shara. »Ehrlich Frau Brechthold, ich habe das da unten auf dem Schulhof gefunden«. Ihr Blick ging zu ihrer Nachbarin hin. »Fragen Sie Lena, die ...« Ihre Stimme versagte, hilfesuchend blickte sie ihre Freundin an.

»Komm mit vor die Tür, Shara!« Frau Brechtholds Lippen waren schmal geworden, Lenas Bestätigung nahm sie nicht zur Kenntnis.

»Nehmt die Biologiebücher heraus und lest Kapitel 3. Formale Genetik!«, rief sie der Klasse zu und wandte sich zur Tür. Shara stand auf, mit gesenktem Kopf folgte sie der Lehrerin.

Keiner der Schüler öffnete das Buch, alle sprangen von ihren Plätzen auf und umringten Lena.

»War das Crystal Meth?«

»Das Zeug, das bei dem Schauspieler gefunden wurde?«

»Wie nimmt man es?«

»Schniefen, rauchen, spritzen?«

Frage auf Frage umschwirrte Lena. »Nein, nein!«, wehrte sie sich. »Wir haben es nur gefunden, unten auf dem Schulhof.« Ungläubiges Gelächter, niemand schien das zu glauben.

Die Tür öffnete sich, alle rannten zu ihren Plätzen. Man hörte eifriges Aufschlagen der Biologiebücher und hektisches Blättern. Frau Brechthold setzte sich auf ihren Stuhl und sagte nichts. Shara schob sich auf ihren Platz, sie schien bedrückt. Lena nahm unter dem Tisch die Hand ihrer Freundin und drückte sie.

Schweigend blickten die Schüler zu Frau Brechthold. Endlich schien ein Ruck durch die Lehrerin zu gehen, sie stand auf. »Dieser Vorfall passt zu unserem Wochenthema wie die Faust aufs Auge. Julia, hast du deine Präsentation fertig?«

Selbstbewusst erhob sich Julia, ging an den Computer und steckte ihren USB-Stick ein. »In meiner PowerPoint-Präsentation möchte ich über die Art der Drogen, die Dealer, ihre Kontaktaufname und über Preise reden«, legte sie los. »Wenn ihr etwas nicht versteht, dürft ihr mich gerne unterbrechen«, erlaubte die Klassenbeste gnädig ihren Mitschülern.

»Ich rede heute nicht über Drogen, die man legal, zumindest wenn man volljährig ist, in jeder Tankstelle kaufen kann«, begann sie. »Nein, ich spreche von illegalen Drogen.«

Schon zeigte der Beamer die erste Folie:

 Haschisch

 Marihuana

 Ecstasy

 Speed

 Crack

 Kokain

 getrocknete Pilze

 Chrystal Meth

Schnurgerade wollte Julia mit ihren sorgfältig recherchierten Erklärungen loslegen, da wurde sie schon von Peter unterbrochen. »Entschuldige, getrocknete Pilze! Das sind doch keine Drogen.«

Verwirrt starrte Julia auf ihre Folie. Sie ersetzte getrocknete Pilze durch Magic Mushrooms. »Ups, unbedeutende Ungenauigkeit. Natürlicherweise sind damit nicht Champignons, Pfifferlinge, Steinpilze gemeint, sondern halluzinogene Pilze. Pilze, die den Sehsinn, Hörsinn und Tastsinn verändern.«

»Wachsen die bei uns im Wald?«, wollte Annika wissen.

Ratlos blickte Julia zur Lehrerin. Die half aus. »Einige schon. Zum Beispiel der Spitzkegelige Kahlkopf

»Heißt der nach unserem Direktor?«, konnte sich Felix nicht zurückhalten. Die Klasse brüllte vor Lachen, der Schulleiter war für seine spezielle Kopfform eine beliebte Zielscheibe für Witze.

Frau Brechthold versuchte, das alles zu überhören. »Die Druiden, ihr wisst, das waren die Priester der Kelten, haben den Spitzkegeligen Kahlkopf in ihre Zaubergetränke gemixt. Weiter im Text, Julia.«

Die Klassenbeste gab ihre gegoogelten Erkenntnisse zum Besten. »Die Drogen, von denen wir reden, werden vorwiegend aus Pilzen gewonnen, die es bei uns nicht gibt. Sie haben unverfängliche Namen, zum Beispiel der Mexikaner oder der Hawaiianer. Sie werden getrocknet, als weißes Pulver verkauft und haben eine teuflische Wirkung: Erst führen sie euch in eine wunderbare Welt, in der ihr Gott zu begegnen glaubt, sodann kommen Ängste auf, die euch am Leben verzweifeln lassen.«

Die Klasse mühte sich, Interesse zu heucheln.

»Wer kommt als Dealer in Frage?«, fragte Julia in die Runde. Bevor jemand zur Antwort ansetzen konnte, erschien die passende Folie:

  Fremde auf der Straße

 Mitschüler

 Freunde

 Geschwister

Sofort erhob sich ein wütendes Prostestgemurmel.

»Ja, ich weiß«, beschwichtigte Julia. »Bruder und Schwester als Dealer, das klingt nicht glaubhaft, kommt aber vor. Und Mitschüler? Auch an unserer Schule wird mit Drogen gehandelt, das wissen wir doch alle. Wo wird uns das Teufelszeug angeboten?«

  auf dem Schulhof

 am Bahnhof

 in der Disco

 auf Plätzen in der Stadt

 auf Popkonzerten

 im DarkNet (= Teil des InterNet)

»Braucht jemand Tipps, wie man mp3-Dateien und Videos illegal aus dem DarkNet bezieht?« Felix warf sich in die Brust und blickte gönnerhaft in die Runde. »Falls ja, intime Tipps in der Pause! Ich habe da meine Beziehungen.«

»Felix!«, rief Frau Brechthold empört. »Auch wenn dich Urheberrechte oder andere rechtliche Details dem Anschein nach nicht scheren, ziehe deine Mitschüler gefälligst nicht in solche schmutzige Deals hinein. Verstanden?«

»DarkNet, was ist das?«, warf Benan ein. »In letzter Zeit hört man so viel davon.«

»Kannst du das bitte kurz erklären, Felix«, sagte Frau Brechthold und vermied einen Blick in Julias Richtung.

»Kann ich. Das ist ein Netzwerk, bei dem die Teilnehmer ihre Verbindungen untereinander manuell herstellen. Es ist nur für Eingeweihte sichtbar, um frische Anwärter aufzunehmen, müssen die von den Usern eingeladen werden.«

»Kann ich endlich weitermachen?«, meldetet sich die empörte Julia. »Ich komme auch gleich zum Ende meiner Präsentation.«

Genervt wandten die Schüler sich Julia zu.

»Was kosten Drogen? Meine Tante arbeitet bei der Polizei. Von der habe ich die folgende Preisliste.«

  1 Gramm Marihuana oder Haschisch 10 €

 1 Ecstasy-Tablette 15 €

 1 g Kokain 150 €

 1 g Crack 78 €

 1 g Chrystal Meth 75 €

 50 g getrocknete Pilze 15 €

»So viel Geld für so wenig Stoff? Das kann sich doch kein Schüler leisten!« war die allgemeine Ansicht.

Frau Brechthold war zufrieden. »Prima Julia, eine ausgezeichnete Präsentation.«

Glückstrahlend verzog sich Julia auf ihren Platz, im Vorbeigehen warf sie Benan einen verliebten Blick zu.

»So, meine Lieben.« Frau Brechtholds Gesicht nahm einen lauernden Ausdruck an. »Was für eine Droge ist im Grunde eher harmlos? Was meint ihr?«

»Meine Mutter hat zugegeben, dass sie an der Uni Schwarzer Afghane geraucht habe«, ließ sich Leonie vernehmen. »Das sei nicht schlimm, Alkohol wäre viel gefährlicher als Haschisch. Alle hätten das probiert!« In einem scheinheiligen Tonfall schob sie »Sie auch, Frau Brechthold?« nach.

»Schwarzer Afghane? Was ist das denn? Das klingt ja voll eklig!«

»Ja, Schwarzer Afghane ...«, die Lehrerin kam kurz aus dem Tritt, fing sich aber wieder: »Na schön, Haschisch, ihr wisst, damit bezeichnet man das getrocknete Harz aus den Drüsenhaaren der Cannabis-Pflanze. Es ist fünfmal wirksamer als Marihuana, das aus den Blütenblättern, Stängeln und Blättern der Hanfpflanze hergestellt wird. Kommt der Haschisch aus Afghanistan, nennt man ihn Schwarzer Afghane, kommt er aus dem Libanon, heißt er Roter Libanese. Der Stoff aus Afghanistan war in meiner Jugend berüchtigt, denn er war enorm kräftig. Stimmt, in meiner Studienzeit haben fast alle Studenten gehascht. Ich auch. Erzählt das bloß niemandem, hört ihr!«

»Stimmt also doch! Sich zudröhnen und kiffen ist nicht beknackt«, rief Robert und schaute triumphierend in die Runde.

»Langsam, langsam Robert, heute ist das leider nicht mehr so. Der im Hanf enthaltene Wirkstoff heißt ...«

Frau Brechthold kritzelte die Buchstaben THC an die Tafel und darunter TetraHydroCannabinol.

»In in der guten alten Zeit war THC im üblichen Haschisch zu zwei bis drei Prozent enthalten, doch im Schwarzen Afghanen bis zu acht Prozent. Heute ist ein Stoff im Umlauf, der noch fünfmal stärker ist! Mit dieser geballten Ladung wird unser Gehirn nicht mehr fertig und auf Dauer schwer geschädigt. Glaubt also ja nicht, wenn euch jemand einreden will, kiffen sei harmlos!«

Von der Straße her erscholl ein Martinshorn. Der Polizeiwagen schien unmittelbar vor dem Schuleingang zu halten. Man hörte Türschlagen, aufgekratzte Stimmen. Alle rannten zu den Fenstern. Zwei Polizisten hatten einen Jungen zwischen sich genommen und führten in ab, eine Beamtin mit einem Schäferhund folgte. Aufgeregte Buh-Rufe, Pfiffe, Gejohle aus den Fenstern zum Hof begleiteten die Szene. Von der unteren Fensterseite erscholl ein Ruf. »Guckt mal! Die Bullen haben einen Schüler verhaftet!«

Als die Polizisten den Jungen ins Auto schoben, flüsterte Lena ihrer Freundin zu. »Mensch Shara! Das ist der dicke Junge, der die Tütchen verteilt hat. Hast du ihn etwa verpfiffen?«

Shara nickte. »Was sollte ich machen? Sonst hätte die Brechthold geglaubt, ich hätte das gefährliche Zeug mit in die Schule gebracht! Erzähl das niemandem, versprich mir das. Das war Crystal Meth. Das lasse ich doch nicht mir in die Schuhe schieben.«

»Zurück auf die Plätze!« Der Lehrerin kam die Unterbrechung nicht ungelegen. »Das seht ihr, was herauskommt, wenn man mit Drogen dealt. Zurück zum Thema! Welche von den heutigen Drogen gilt als äußerst chic? Na?« Sie blickte bewusst nicht in die Richtung, in der Lena und Shara saßen. Keine Antwort. Sie hackte auf der Tastatur herum, der Beamer zeigte ein Bild, in behandschuhten Händen lag ein Haufen gelblicher Kristalle.

»Kandiszucker! Nur Kandiszucker!« Jonas, der Klassenclown versuchte, die gedrückte Stimmung aufzuhellen. Vergeblich, der Beamer zeigte Bilder von vier Personen, jeweils ein Vorher- und ein Nachher-Bild. Erschrocken versuchten alle zu verstehen, was sie da sahen.

»Das seht ihr die Auswirkungen von Christal Meth! Crystal gehört mit zu den zerstörensten Drogen. Das Potenzial der Abhängigkeit ist gewaltig. Crystal wird überwiegend geschnupft, teilweise auch geraucht, in Wasser gelöst und intravenös injiziert. Spätfolgen sind Zahnausfall, epileptische Anfälle, Hirnblutungen und Herzversagen. In der Regel dauert der Verfall nur zwei, drei Jahre. Wer aber denkt schon an Verfall, wenn der Rausch einsetzt, Minuten nach der Einnahme.«

»Warum nimmt man das Zeug, wenn man in der Folge wie ein Zombie aussieht?«

»Warum raucht man, wenn man die Ekelbilder auf den Zigarettenpackungen sieht? Menschen nehmen das Zeug, um ihr Leben geil zu finden, einen besseren Sex zu haben, den Himmel blauer, die Welt schöner zu sehen, die Musik intensiver zu erleben. Einer unserer Schüler ist dieser betörenden Verführung erlegen. Anfangs genügte ihm ein Schuss am Morgen vor der Schule, dann musste es immer öfter sein, am Schluss zehnmal am Tag. Eine unstillbare Gier nach immer mehr erfüllte ihn. Allmählich zog er sich in sich zurück, mit Freunden redete er nur belangloses Zeugs. Schreckliche Fantasien begannen ihn in den Nächten zu quälen. Er wurde aufbrausend oder lag starr auf dem Fußboden, total in sich versunken. Er hielt sich für eine Gefahr für die Menschheit, hörte eine innere Stimme, die ihm befahl, sich vor einen Zug zu werfen. Man brachte ihn in ein Krankenhaus für suchtkranke Jugendliche. Dort war er eingesperrt wie in einem Gefängnis. Von Zeit zu Zeit musste man ihn an das Bett fesseln, er gefährdete sich und die Mitpatienten. Erst nach Monaten glaubte man, ihn geheilt zu haben, und er wurde entlassen.« Frau Brechthold machte eine Pause, sie wirkte aufgewühlt.

»Ist er geheilt, Frau Brechthold?«, fragte Jana kaum vernehmbar.

»Nein, leider nicht. Ich habe Neuigkeiten gehört, und keine guten, wisst ihr. Er wurde rückfällig, die Zähne fielen aus, seine Persönlichkeit liegt nun in Trümmern. Antriebslos und leergebrannt dämmert er vor sich hin. Ich war seine Klassenlehrerin und kannte ihn als gescheiten und liebenswerten Jungen.«

Sprachlos starrte die Klasse ihre Lehrerin an. Endlich meldete sich Annika: »Warum konnte er denn nicht aufhören damit? Ich hätte ihm keine Drogen mehr gegeben, dann hätte er das Zeug vergessen.«

»Die Droge vergessen? Annika, der Junge ist süchtig! Süchtig! Wisst ihr, was das heißt? Er hat eine unstillbare Gier nach der Droge, gegen alle Vorsätze und Vernunft. Wenn du ihm das Zeug verweigerst, passieren schreckliche Dinge! Zuerst beginnt er unruhig zu werden. Ein Schwächegefühl überkommt ihn, er gähnt, zittert und schwitzt gleichzeitig, während eine Flüssigkeit aus Augen und Nase rinnt, was ihm vorkommt, als liefe heißes Wasser in seinem Mund empor. Für ein paar Stunden mag er in einen unruhigen Schlaf verfallen. Doch beim Erwachen, ein Tag nach Einnahme der letzten Dosis, betritt er die wahre Hölle! Das Gähnen kann so heftig werden, dass er sich die Kiefer ausrenkt, aus der Nase fließt jetzt ein dünner Schleim, die Augen tränen. Die Pupillen sind erweitert, die Körperhaare sträuben sich, die Haut ist kalt, sie wird zur Gänsehaut und sieht aus wie von einem gerupften Truthahn. Der Zustand verschlimmert sich, die Därme beginnen mit enormer Gewalt zu arbeiten. Die Magenwände ziehen sich ruckweise zusammen und verursachen ein explosives Erbrechen, wobei Blut mit austritt. Ungeheuer sind die Kontraktionen der Eingeweide. Der Leib sieht von außen so geriffelt und knotig aus, als seien direkt unter der Haut Schlangen in einen Kampf auf Leben und Tod verwickelt. Die Bauchschmerzen steigern sich. Der Darm entleert sich immerfort, sodass es laufend zu wässrigen Stuhlgängen kommt. Auf die Toilette schafft er es nicht mehr, er ist zu kraftlos.«

Zum Glück beendete die Pausenklingel die Schulstunde.

»Entschuldigt, dass ich euch das so drastisch erzählt habe. Aber genau so sieht die Realität aus. Denkt an den Jungen, wenn euch jemand zu Drogen verführen will! Egal zu welchen!« Frau Brechthold verließ das Klassenzimmer.

»Ich nehme nicht so ein Zeug«, unterbrach Benan die Stille. »Das mit den Schlangen ist ja widerlich«.


Die Schule war aus, das Schneetreiben hatte aufgehört und die Sonne war durch die gelbgrauen Wolken gebrochen. Es war mild geworden, der glänzende Schnee, der vor sich hinschmolz, blendete in den Augen.

Shara und Lena hatten ihre Anoraks ausgezogen und gingen über den Schulhof. Jählings packte Shara Lenas Arm und drückte ihn angstvoll. »Da, der Spargeltarzan und die Mädchen. Sie kommen direkt auf uns zu!«

»Lass meinen Arm los, Shara! Sei unbefangen, schau nicht auf den Boden, sieh nach vorne. Sie werden uns nicht erkennen, sie blicken der Sonne entgegen. Das wird sie blenden.«

Shara warf Lena einen erstaunten Blick zu, als sie mit waschechter Sorglosigkeit über ihre Lieblingssängerin Rihanna zu sprechen begann. Mit scheinbarer Gleichgültigkeit ging sie an dem Jungen und den Mädchen vorbei.

»Wie schaffst du das nur, so cool zu bleiben?«

»Jahrelanges Training in Shinson-Hapkido«, erwiderte Lena. »Das wäre auch etwas für dich! In brenzligen Situation gerätst du nicht in Panik. Am besten kommst du morgen mit zum Training und schnupperst hinein.«

An der Bushaltestelle Richtung Ziegelhausen trennten sie sich. Lena bog in die Straße zum Geschäft ihrer Eltern ein. Als sie sich dem Laden näherte, sah sie, dass ihr Vater damit beschäftigt war, Steigen mit exotischen Früchten auf den vor dem Schaufenster stehenden Tisch anzuordnen. Einige Kisten standen noch auf dem Bürgersteig. Damis, der bei den Papaluka-Brüdern angestellt und für die Warentransporte der Geschäfte in Heidelberg und Mannheim zuständig war, hatte sie dort abgeladen. Lenas Vater schien die Arbeit Spaß zu machen, gekonnt pfiff er ein Lied seiner Lieblingssängerin Anna Vissi. Blaue Feigen, süßlich riechende Guaven, orangefarbene Sharonfrüchte, grüngelbe Mangos, birnenförmige Papayas und die bläulichen Jabuticabas wusste er farblich so geschickt anzuordnen, dass der Anblick eine reine Freude war.

Die ersten Passanten blieben stehen und betraten den Laden.

Lena bückte sich hinter den Ladentisch, um dort den Wohnungsschlüssel an sich zu nehmen. Als sie ihre Hand in das Glas mit dem Schlüsselmäppchen steckte, erstarrte sie. Ihr Blick fiel auf den Boden. Auf den sonst immer reinlichen Dielenbrettern lag ein Plastikbeutel. Lena zog die Hand aus dem Glas, hob ihn auf, drehte ihn um und sah in das Gesicht des böse blickenden Aliens. Vor Schreck ließ sie den Drogenbeutel fallen. Jemand musste ihn hinter dem Ladentisch verloren haben! Hier, in ihrem Geschäft! Wer?

Hastig hob sie das Beutelchen auf, steckte es in ihre Tasche, nahm den Schlüssel und ging nach oben. In ihrem Zimmer legte sie sich auf die Couch und betrachtet den Sticker auf dem Umschlag. Ja, es war das gleiche Bild wie das in der Schule. ›Den seltsamen Buddha habe ich doch schon früher gesehen‹, überlegte sie verzweifelt, ›wo nur, wo?‹

Um sich auf andere Gedanken zu bringen, zog Lena ein Buch aus der untersten Schreibtischschublade. Für sie stellte es eine Verbindung zu ihren indianischen Vorfahren her. Ihre amerikanische Mutter durfte es nicht sehen, ängstlich hütete die das Geheimnis ihrer Abstammung. Indianische Heilgeheimnisse von Frank Yellow Horse und John Standing Bear stand auf dem Umschlag. Sie schlug das Buch in der Mitte auf. Die Sonne begrüßen hieß das Kapitel, am Anfang stand ein indianischer Ritualgesang. Ihre Lippen begannen die indianischen Laute zu formen: »tuato ke tsche a mani u-elo.« Sie verstand den Text nicht, doch in ihrer Seele wurde etwas angestoßen, das ihre Ängste verklingen ließ.

Der Engel mit den blutigen Händen

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