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Kapitel 8

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Der Bayerische Wald empfängt uns in den schönsten Herbstfarben. Sattgrüne Nadelbäume mischen sich in Gruppen bunt gefärbter Laubbäume. In den Talsenken und an den Nordseiten der Wälder liegen Nebel-schwaden. Unser Urlaubsort liegt hoch über der Donau und Straubing, weshalb Annes SUV alles geben muss. Wir fahren eine kurvige Straße entlang auf über 750 Höhenmeter. Ich bin überrascht, welches herrliche Panorama sich mir bietet. Ich habe zwar gewusst, dass es hier hohe Berge gibt, wie den Großen Arber, den Rachel und den Lusen zum Beispiel, aber dass das Land zwischen den Gipfeln schon so hoch liegt, hätte ich nicht gedacht.

Als wir die Passhöhe erreicht haben, bietet sich uns ein atemberaubender Blick auf die Donau und halb Nieder-bayern, ganz so, als wolle uns die Landschaft sagen: „Schau, alles ist doch friedlich und unbedeutend. Die Donau schlängelt sich, wie sie es seit Jahrtausenden tut, in Richtung Schwarzes Meer, unaufhaltsam und immer gleich. Ohne Interesse an den Gedanken und Taten der Menschen.“

Woher kommen auf einmal diese Gedanken? Sehr philosophisch! Das ist aber eine gute Lebens-einstellung, fällt mir auf. So ein Fluss hat es damit wohl etwas leichter als wir Menschen.

Wir haben auf einem kleinen Parkplatz oberhalb des Passes angehalten und sind das kurze Stück zurück zu dem Aussichtspunkt gelaufen.

„Fantastisch! Das muss ich fotografieren!“, hat Anne ge-schwärmt, ein gewagtes Bremsmanöver vollzogen und ihren SUV auf dem kleinen Wanderparkplatz abgestellt.

Leila ist sichtlich genervt und möchte nur einen ruhigen Schlafplatz. Ich lache in mich hinein. Warte du nur auf die nächsten Tage! Wenn Leila wüsste, wohin sie überall noch mit muss.

Die schrägen Strahlen der Abendsonne erhellen mit ihrer letzten Kraft die ersten prägnanten Erhebungen des Bayerischen Waldes. Mächtig, still und trotzdem freundlich liegen die Hügel vor uns. Dazwischen, teilweise versteckt, zum Teil ganz offen, liegen Bauernhöfe, abseits vom Trubel der Stadt und von Menschenmassen. Von hier oben sehen die Gebäude winzig und friedlich aus. Wie lebt es sich wohl so abseits von Stress und Hektik? Ein sanfter Wind bewegt die Baumwipfel und zupft mit Gelassenheit abwechselnd gelbe und rote Blätter von den Herbstbäumen. Die vollkommene Stille wird nur durch das leichte Rauschen des Windes unterbrochen. Plötzlich mischt sich in das Rauschen der angenehmen Abendbrise ein Summen und Singen.

„Der Morgen erwacht.

Die Weltenwanderin hat an uns gedacht!“

Was? Ich lausche angestrengt und höre diesen Satz immer und immer wieder - melodisch, rhythmisch und wirklich kaum über das Rauschen des Windes hinweg wahrzunehmen. Höre ich nur meine Gedanken oder ist das wirklich? Und woher kommt der Gesang? Ich drehe meinen Kopf nach rechts und links, doch der Gesang wird weder lauter noch leiser. Spricht für die These „nur meine Gedanken“. Anne steht neben mir, guckt leicht verträumt und macht Fotos - abwechselnd mit dem Handy und mit ihrer Spiegelreflexkamera. Ich höre sie mehrmals „ach wie schön“, „toll“ oder „das haben wir uns aber verdient“ sagen. Dabei legt sie immer wieder ihren Arm um mich.

Das macht es für mich allerdings um einiges schwieriger, den Gesang einem Ort zuzuordnen. Jetzt hab ich‘s! Er kommt definitiv aus den Bäumen! Oder doch vom Boden? Nein, aus den Bäumen.

Anne hat sich zu mir gewandt und macht ein Foto von mir. „Wie du wieder schaust, so angestrengt und ernst. Jetzt lächle doch mal!“

Also lächle ich, so gut es geht, und konzentriere mich trotzdem weiter auf den Gesang. Er endet erst, als ich meine Gedanken sortiere und denke „Wo steckt ihr denn?“ „Hier, in den Baumwipfeln“, höre ich prompt die Antwort in meinen Gedanken. Aber es hört sich nicht an wie meine Gedanken oder meine Worte. „Baumwipfel“ ist ein Wort, das ich nicht verwenden würde – ich würde Baumspitze, oder Spitze des Baumes sagen. Höre ich jetzt schon Stimmen in meinem Kopf? Um das zu testen, versuche ich es nochmals: „Wo genau?“, denke ich, und es kommt wieder eine Antwort: „In den Baumwipfeln, direkt vor dir!“

Ich starre die drei riesigen Fichten vor mir an, kneife die Augen zusammen und sehe zarte Wesen in den Baum-spitzen von Ast zu Ast springen. Sie winken mir zu. Es sind keine Elfen, wie aus meinem Traum. Sie sind kleiner, noch feingliedriger und zarter gebaut und haben längere Arme und Beine.

Erneut formuliere ich eine Frage in meinem Kopf: „Wer seid ihr?“

„Wir sind die Lysen des Koropofelsens.“ Dabei zeigen einige auf den Berg hinter uns auf der anderen Straßenseite. „Wir sind gekommen, um dich persönlich zu begrüßen, Oriana.“ Die Lysen springen aufgeregt von Zweig zu Zweig.

Leila hebt schnüffelnd die Nase, fängt an zu knurren und verbellt dann genau den Baum, auf dem die Lysen ihren Hüpftanz aufführen.

„Leila, was hast du denn?“ Anne beugt sich zu meiner Hündin hinunter und streichelt sie mit beiden Händen.

„Sie muss da ein Eichhörnchen gesehen haben“, lüge ich mehr schlecht als recht.

Mit dieser Erklärung gibt sich Anne zufrieden und

fotografiert weiter den Sonnenuntergang. Die vor-gelagerten Erhebungen des Bayerischen Waldes werden eingetaucht in ein warmes Abendrot. Die Lysen haben aufgehört zu springen, haben sich zwischen die Nadeln der Fichten gesetzt und schauen sich ebenfalls das Abendrot an. Leila hat sich beruhigt und sitzt neben mir. Nur Anne, mit ihrem Drang, alle Momente akribisch auf Fotos festhalten zu wollen, stört dieses Idyll, welches fast aus einem alten Bilderbuch ent-sprungen sein könnte. Eigentlich eher aus einem Märchenbuch. Denn es sitzen dort ja noch die Lysen im Baum und wippen mit ihren langen Beinen, weswegen die Zweige, auf denen sie sitzen, sanft schaukeln.

„Es sind die Drachen, die das Feuer machen. Wandelst du zwischen den Welten, kann das Feuer auch dir gelten“, höre ich auf einmal in meinem Kopf. Was soll das jetzt schon wieder heißen? Ich starre in die Fichte. Die Lysen sind verschwunden. Oder sehe ich nur nicht mehr vernünftig, weil es schon dämmert? Ich formuliere eine Frage an die Lysen: „Seid ihr noch da?“, aber in mir hallt nur der Satz nach „Es sind die Drachen, die das Feuer machen“. Ich lasse meinen Blick über die in blutrotes Licht getauchten Hügel schweifen, als mir ein Schauer über den Rücken fährt und mir gleichzeitig heiß und kalt wird. Wäre ich ein Hund, würden sich meine Nackenhaare zu einem Kamm aufstellen. Langsam löst sich das Rot im Schatten der aufkommenden Dunkelheit auf. Leila knurrt wieder, meine Gänsehaut fühlt sich plötzlich an wie aufkommendes Fieber. Mein Blick bleibt an den Hügeln hängen. Mit den Augen an diesem Ort festgeheftet, antworte ich Anne auf ihre Fragen wahlweise mit „hm“, „aha“ und einem lang-gezogenen, verwunderten „okay“. Ich warte auf etwas, ich weiß nur nicht worauf.

Anne versucht indes, Leila zu beruhigen, aber die knurrt weiter und immer lauter. Solch ein Knurren kenne ich von ihr nicht, es ist sehr tief, fast ein Gurgeln. Wäre sie ein Mensch, würde ich sagen, sie ist voller Hass. Ihre Wut richtet sich auf etwas, was dort drüben schon ist oder bald auftauchen wird.

Und dann sehe ich es! In einiger Entfernung erhebt sich ein riesiger Vogel aus dem Wald. Obwohl, dafür ist es viel zu groß. Wie ein Raubvogel über seiner Beute kreist er in der Luft, stürzt hinab, taucht wieder auf und verharrt und stürzt erneut in das grüne Dickicht der Bäume. Seine Flügel sind im Verhältnis zu dem länglichen Körper klein. Das Tier schlängelt sich durch die Luft wie ein Aal und das Restlicht lässt den Körper grau-braun erscheinen. Dann kreist es wieder über dem Wald wie ein Vogel, der die Thermik ausnutzt, um Höhe zu gewinnen. Leila bellt wie verrückt, woraufhin uns das Tier seinen Blick zuwendet.

Jetzt weiß ich, was es ist: ein Drache! Wie angekündigt.

Der Drache steuert plötzlich in unsere Richtung. Leila zerrt an der Leine, tobt förmlich und springt dabei in die Luft. Für mich klingt ihr Gebell und Grollen wie „Geh weg, verschwinde!“ Gereizt von Leilas Bellen, schießt der Drache direkt auf uns zu und das in einer Geschwindigkeit, der mein Blick fast nicht folgen kann. Erst kurz vor uns kommt der Drache in der Luft zum Stehen und richtet sich drohend auf. Ein riesiges, mächtiges, bedrohliches Wesen, das scheinbar nur aus Muskeln und Haut besteht. Er faucht mir seinen fauligen, rauchigen Atem ins Gesicht. Es stinkt nach verbranntem Fleisch, nach Kadaver und Tod. Plötzlich reißt er mit einem tiefen Grollen sein Maul auf, als wolle er jeden Moment Feuer speien.

Doch nichts passiert. Der Drache verharrt mitten in der Bewegung, als würde er in sich hineinhorchen. Nach wie vor steht er in der Luft vor uns, wie angewurzelt. Und spricht! Seine Stimme ist donnernd, rau, wie ein weit entferntes Gewitter. „Dich und deinen kläffenden Begleiter hole ich mir später. Ich darf heute noch nicht mit euch spielen. Aber ich kann warten! Ich habe schon so lange gewartet. Ich werde euch beobachten. Dies hier ist mein Wald.“

Obwohl mir in der Gegenwart des Drachen heiß ist, friere ich gleichzeitig, habe Gänsehaut und bin völlig unfähig, mich zu bewegen. Auch Leila scheint erstarrt zu sein, als der Drache herangerauscht kam, sie hat aufgehört zu bellen. Was sie tut, kann ich nicht kontrollieren, weil ich unfähig bin, meinen Kopf zu drehen. Wie festgewurzelt stehe ich immer noch an der gleichen Stelle, meine Gliedmaßen unbeweglich, meine Züge versteinert.

Ich spüre, dass Annes Blick auf mich gerichtet ist. Der Drache schaut erst in ihre Richtung und wendet sich dann wieder mir zu, um mich aus seinen feuerroten Augen nochmals bitterböse anzuschauen. Dann verschwindet er mit der gleichen Geschwindigkeit, mit der er gekommen ist, hinter dem inzwischen fast schwarzen Wald.

Meine Muskeln entspannen sich wieder. Ich sehe Anne an. Sie hat die Kamera sinken lassen und sieht verwirrt aus. „Was ist denn mit dir und deinem Hund los? Was habt ihr denn gesehen? Du schaust aus, als hättest du in eine Zitrone gebissen. Eine Engelssichtung war das wohl gerade nicht!“, sagt sie und lacht herzlich über ihren eigenen Witz.

Darüber bin ich sehr froh, denn sonst wäre ich wohl nicht wieder aus meiner Schockstarre heraus-gekommen.

„Ähm, du hast jetzt nichts gesehen oder gehört?“, frage ich vorsichtig.

Anne hat aufgehört zu lachen. „Was gesehen?“

„Den Dra…“ Ich halte inne. „Du hast nichts gesehen oder gespürt? Gerochen?“

Ich bin fassungslos, denn der Drache war so real wie meine linke Hand. Er hat mir seinen heißen Atem ins Gesicht geblasen. Es kann doch nicht sein, dass Anne nichts davon mitbekommen hat! Sie hat nur eineinhalb Meter von mir entfernt gestanden. Das Vieh war nicht zu übersehen und teuflisch gestunken hat es außerdem. Leila! Leila hat ihn auch gesehen, sonst wäre sie nicht so ausgeflippt. All das möchte ich Anne sagen, aber ich halte lieber den Mund.

„Was hätte ich sehen sollen? Jetzt sag schon! Was hast du denn gesehen?“

Ich antworte nicht. Anne zieht ihre Jacke über. Wann hatte sie die denn ausgezogen? Das habe ich ja gar nicht mitbekommen. Das ist es!

„War dir eben warm oder sogar heiß?“

Anne nickt. „Ja, irgendwie war da so ein warmer Wind, gut zehn Grad wärmer. Da musste ich mal kurz meine Jacke ausziehen! Irgendwie muss da die Sonne…“, sagt sie und wird dann still, weil ihr selbst gerade auffällt, dass ihr Erklärungsversuch allen physikalischen Grundsätzen widerspräche.

Also hat sie etwas gemerkt! „Sonst noch etwas?“, bohre ich nach. „Noch irgendwas bemerkt?“

„Ja, dein doofes Gesicht und euer wortloses Gestarre in die Luft! Was hast du denn jetzt gesehen?“

Jetzt wirkt Anne eher wie ein kleines Kind, das unbedingt schon vor Weihnachten wissen möchte, was in den Geschenkverpackungen drin ist.

Ich überlege, wie ich Anne mein Verhalten erklären kann, ohne dass sie sofort kehrt macht und mich in eine psychiatrische Klinik einliefert. Aber wie ich das Thema drehe und wende – es klingt verrückt. Wirklich passende Worte fallen mir nicht ein. Also schlage ich Anne vor, zum Auto zurückzugehen, denn es ist inzwischen fast dunkel geworden und in der Unterkunft haben wir unsere Ankunft für vier Uhr angekündigt. Sicher warten sie schon auf uns. Vielleicht finde ich unterwegs die richtigen Worte.

Leila zerrt mich in Richtung unseres Autos. Ich kann ihr nicht übelnehmen, dass sie es kaum erwarten kann, hier wegzukommen. Und auch ich bin froh, wenn wir den Ort hier verlassen haben. So real und so furcht-einflößend es war, so fasziniert bin ich von diesem eleganten, mächtigen Wesen. Okay, im Film habe ich schon Drachen gesehen, aber wer einem echten gegenübersteht, der ist doch schon sehr nahe am Durchdrehen. Es waren jetzt schon mehr als genug verrückte Träume in letzter Zeit! Ich hoffe, im Urlaub komme ich zur Ruhe. Ich selbst und meine überaktive Fantasie.

Kaum, dass ich die Türe des SUVs zugeschlagen habe, bohrt Anne nochmals nach.

„Und?“

„Wie und?“ Ich weiß genau, was Anne wissen möchte, hoffe aber, so Zeit zu gewinnen, um die richtigen Worte zu finden.

Wir stehen mit laufendem Motor auf dem kleinen Park-platz. Anne schaut mich fragend an.

„Kannst du bitte losfahren? Wir sind echt spät dran.“

Nach wie vor ist mir unheimlich zumute, hier oben auf der Passhöhe. Mir ist klar, dass dieses Wesen schneller ist, als alle Tiere, welche ich aus unserer realen und logisch erklärbaren Welt kenne. Also nützt es vermutlich auch nichts, sich in einem Auto zu verstecken. Es ist, wie nachts an der Friedhofsmauer vorbeizugehen. Da beschleunige ich auch meinen Schritt, um schnell vorbeizukommen. Die Geister der Toten, gäbe es sie, würden mich aber trotzdem einholen. Ich fühle mich merklich sicherer, hier in Annes Gefährt mit geschlossenen Türen. Immer noch fahnde ich fieberhaft nach den passenden Worten, mit denen man einem bodenständigen Menschen eine Drachensichtung erklären kann. Ich habe meine Hände in der Tasche meiner Fleecejacke vergraben, trotzig, wie ein Schulkind kurz vor dem Ausfragen an der Tafel, und meine Finger spielen mit der Visitenkarte. Plötzlich spüre ich Zuversicht und die richtigen Worte fliegen mir zu.

„Es gibt zwischen Himmel und Erde mehr, als wir zu sehen vermögen“, sage ich.

Anne schaut mich verwirrt an. Sicher ist das nicht die Antwort, die sie erwartet hat.

Ich weiß nicht, woher die Worte kommen, aber es fällt mir auf einmal ganz leicht, über ein so verrücktes Thema zu sprechen. „Das Auge des erwachsenen Menschen ist für viele Dinge blind. Unter uns leben andere Wesen, große und kleine, gute und auch böse. Manche kennt man aus Märchen, Mythen und Fantasiegeschichten, andere sind völlig unbekannt und tauchen in keinem Buch und keiner Erzählung auf.“

Es sprudelt nur so aus mir heraus. Gespannt lausche ich meinem eigenen Vortrag. „Zu diesen Wesen gehören auch Drachen. Und das vorhin, das war ein Drache. Wenn Drachen irgendwo auftauchen, steigt die Umgebungstemperatur ein paar Grad. Das hast du auch gemerkt. Es gibt Drachen, die werden vom Guten geleitet oder vom Bösen gesteuert. Dieser Drache eben hat mich bedroht.“

Stille. Keine Reaktion. Weder von Anne, noch von

mir selbst. Ich bin fassungslos, woher ich diese Informationen habe. Und Anne scheint es nicht besser zu gehen. Mit dem Unterschied, dass sie den Drachen nicht gesehen hat und mir diese eigenartigen Erklärungen glauben muss. Ich selbst suche in meinen Gedanken nach weiteren Informationen, aber da kommt nichts mehr. So als wäre ein Buch aufgeklappt, ein Absatz daraus laut vorgelesen und das Buch danach wieder zugeklappt worden. Jetzt fühlt es sich so an, als würde jemand eine Hand auf das Buch halten, sodass ich es sicher nicht mehr öffnen kann. Zu, fertig, aus, vorbei die Geschichtsstunde.

Anne krallt sich mit beiden Händen am Lenkrad fest, ihre Knöchel sind weiß. Wir sind noch immer keinen Meter gefahren. Der Motor läuft mit einem gleich-mäßigen, beruhigenden Brummen, und Anne starrt mich wortlos an. Die mit allen Wassern gewaschene, schlagfertige und weltgewandte Anne an den Punkt vollkommener Fassungslosigkeit zu bringen, ist echt schwer. Sie steht mit beiden Beinen im Leben, ist eine Vorzeige-Realistin. Ich habe ihr früher schon weitaus weniger mystische Dinge erzählt und dafür nur Gelächter geerntet.

Doch heute sagt Anne erst einmal nichts. Mechanisch löst sie die Handbremse, guckt in den Rückspiegel, schaltet auf Drive. Das Auto rollt an. Kurz vorm Einbiegen in die Straße tritt sie ruckartig auf die Bremse, sieht mich an, holt Luft, setzt zum Sprechen an, aber es kommen keine Worte aus ihrem Mund, nur ein komisches „ahm“. Sie schüttelt den Kopf und steuert das Auto endgültig auf die Fahrbahn.

Ich hänge immer noch an dem Bild mit dem Buch. Ich will mehr wissen. Wenn in diesem Buch steht, was ich wissen muss, dann muss ich es wieder aufbekommen. Der Drache war real. Ich habe ihn gesehen, gehört, gerochen und gespürt. Er muss echt gewesen sein.

Nach ein paar Kilometern Fahrt weitet sich das Tal und das Restlicht erhellt unser Urlaubsziel. Man kann das Leuchten der Laubbäume noch erkennen, die Wälder wirken schon schwarz. Wo der Drache wohl ist? Lebt er hier in der Nähe? Ja, das hat er doch gesagt, es sei „sein Wald“. Wo schlafen Drachen? Leben sie alleine oder in Gruppen? Gibt es männliche und weibliche Drachen?

Wir fahren an einem großen Hof vorbei, wo Betonmüll und Metallschrott gelagert werden. Dieser Haufen Müll passt überhaupt nicht in diese sonst so natürliche Land-schaft. Welche Menschen leben bloß hier? Ob dort wohl dieser Drache schläft? Ein merkwürdiger Gedanke. Was hat denn ein Drache mit einem Hof voller Stein- und Metallberge zu tun? Komisch, wie mein Gehirn so etwas zusammenbringt. Der Drache ist ein Naturwesen – er wird von Menschen unberührte Natur brauchen, nehme ich mal an. Die Besitzer des Hofes legen darauf anscheinend nicht so viel Wert.

Inzwischen ist es völlig dunkel geworden. Ich hoffe nur, dass zwischen diesem Hof und unserer Unterkunft ein paar Kilometer liegen. So einen Ausblick muss ich in meinem Urlaub nicht haben und ich möchte auch nicht jeden Tag daran vorbeispazieren. Zum Glück fahren wir noch fünf Minuten weiter, biegen dann ab in ein weites, flaches Tal. Auf dem Schild steht „Lindenau“. Ich wundere mich – wir wollten doch nach Achslach. Das Navi scheint aber zu wissen, wo wir sind. Es leitet uns durch die Ortschaft hindurch bergauf. Wir lassen die letzten Häuser des Orts hinter uns, es wird immer einsamer. Die Straße wird zu einem engen Schotterweg und endet direkt in einem Hof. Die Frauenstimme aus dem Navi lispelt: „Sie haben ihr Ziel erreicht.“ Wir stehen vor einem Bauernhof, der sehr alt wirkt, aber schön hergerichtet ist, zumindest soweit man das im Scheinwerferlicht des Autos erkennen kann. Das Erdgeschoss ist aus Stein gemauert, der erste Stock aus dunklem Holz. Kleine Fenster, aus denen

die Lichtstrahlen zwischen den bunten Vorhängen auf den Hof fallen, außen dazu passende Fensterläden. Davor Blumenkästen mit Herbstblumen und zwei alte Holzbänke, daneben ein kleiner eingefriedeter, gepflegter Bauerngarten. Vor dem Haus ein geräumiger Parkplatz. Idyllisch ist das Wort, das mir spontan dazu einfällt.

So begrüßt uns der „Bergbauernhof“.

Welten - das Erwachen

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