Читать книгу Welten - das Erwachen - Dagmar Dietl - Страница 5

Kapitel 3

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Ich laufe auf ein Licht zu. Es ist kein normales Licht, es glänzt goldfarben. Aus dem Licht springen glitzernde Funken, die im Nachthimmel verglühen. Ich laufe und laufe und komme der Lichtquelle aber nur langsam näher. Dann sehe ich, wo das Licht herkommt. Es entspringt der Spitze eines Turmes. Er ist perlmuttfarben und in sich gedreht, wie das Horn eines Einhornes. Der ganze Turm glüht aus sich heraus, das Licht ist hell, fühlt sich aber auf meiner Haut warm und freundlich an. Jeder Strahl, der mich erreicht, füllt mein Herz mit Liebe und Zufriedenheit. Ich laufe weiter, bis eine Stimme ertönt und mich anhalten lässt. Sie sagt: „Deine Suche wird bald zu Ende sein. Du trägst die Wahrheit bereits in dir! Ich drehe mich in die Richtung, aus der die Stimme kommt, und sehe eine dunkel gekleidete Gestalt, deren Umhang glänzt wie die Schuppen von Fischen. Die Gestalt jagt mir keine Furcht ein. Sie wirkt warm und vertraut auf mich, wie eine lang vergessene, geliebte Person, die man wieder-gefunden hat. Ich will auf sie zugehen, aber die Gestalt bedeutet mir, Abstand zu halten. Ihr Gesicht kann ich nicht sehen. Sie hält etwas davor, einen schwarzen Umhang oder etwas Ähnliches. Ich bleibe stehen und atme tief ein, um das merkwürdig vertraute Gefühl, das diese Figur umgibt, in mir aufzunehmen. Ich fasse mir an die Brust, an die Stelle, an der mein Herz sitzt, und fühle, dass es sich vollkommen anfühlt. Dann nimmt die Gestalt das, was ich für einen Mantel oder einen Umhang gehalten habe, vom Gesicht. Es sind Flügel, übergroße Flügel – sie überragen die Gestalt sicher um einen halben Meter. Es ist ein Mann, ein Engel. Er breitet die Flügel aus und obwohl sie eine riesige Spannweite haben, fürchte ich mich nicht. Sie wirken eher wie ein Schutzschild. Nun winkt mich der Engel zu sich heran. Ich bin sicher noch 20 Meter entfernt und gehe auf den Engel zu, langsam, bedächtig, wie auf ein scheues Wild, um es bloß nicht zu verschrecken. Der Engel steht wie ein Fels da. Sein Gewand ist lang, liegt in Falten auf dem Boden und glitzert wie tausend Diamanten, als würde die gesamte Liebe der Welt aus diesem Gewand leuchten. Mit meinem Blick darauf sinkt diese Liebe direkt in mich ein und füllt mein Herz. Das Kleid leuchtet von selbst. Das Gesicht des Engels ist das Schönste, was ich je gesehen habe. Sein Blick ist rein auf vollkommenste Art und Weise, voller Liebe und Verständnis, und mein Herz beginnt vor lauter Zuwendung zu rasen. Dann gleitet mein Blick auf seine linke Hand, in der er eine leuchtend blaue Kugel hält. Diese Kugel gehört mir. Das weiß ich. Ich strecke meine Hand danach aus, bis meine Fingerspitzen sie berühren. Es durchströmt mich das Gefühl sicherer Gewissheit, endlich angekommen zu sein. Meine Suche ist beendet und ich möchte nur noch ruhen. Ich sinke vor dem Engel auf die Knie. Erschöpft von meiner lebenslangen Suche schließe ich die Augen.

„Mama? Maamaa!“

Ich weiß nicht, wo ich bin, aber ich weiß genau, dass ich hier nicht sein will. Hier bin ich einsam und es ist kalt. Meine Gedanken rasen, ich versuche alles, um zurück zu diesem magischen Ort zu kommen, zu dem Engel und zu seiner alles umfassenden Liebe. Aber erfolglos.

Die Realität beginnt meinen Traum zu zerfressen.

„Mama, du hast verschlafen!“

Ich zwinge mich, die Augen zu öffnen. Sina steht vor meinem Bett und hat ihre Hand auf meine Schulter gelegt. Ich realisiere das Wort „Mama“. So hat Sina mich seit Monaten nicht mehr genannt.

„Was ist los mit dir? Bist du krank? Oder hast du ein Gespenst gesehen?“ Sie deutet auf meine Wange.

„Du hast da Tränen und bist total blass.“

Ich schlage die Decke meines Bettes zurück und versuche aufzustehen, doch meine Füße fühlen sich an, als seien sie aus Blei. Ich bin leer, ohne Sinn und ohne Liebe.

„Bleib noch liegen, Mama! Ich mache die Brotzeit für Raph.“ Sie dreht sich um, wirft nochmals einen besorgten Blick auf mich und geht in Raphaels Zimmer. Gerade frage ich mich, wer hier nun Tochter und wer Mutter ist. Aber dieser Ort aus meinem Traum, so wunderbar und warm: Wo ist er und wie komme ich dahin? Ich will unbedingt zurück an diesen Ort. Meine Suche, das spüre ich genau, sie wäre beendet. Ist es das, was ich finden möchte? Was ich brauche? Diesen Ort? Einen Engel? Kopfschüttelnd versuche ich, mich innerlich wachzurütteln. Ich habe verschlafen. Steh jetzt auf, Astrid. Du musst doch an Raphael denken. Ich nehme Sinas Angebot, sich um ihn zu kümmern, dankend an. Darf ich das als Mutter? Die Frage muss ich mir gar nicht stellen, erkenne ich, da ich mit meinen Gedanken zwischen Realität und Traum festhänge und gar nicht richtig funktionieren kann. War das ein Traum? Wenn ja, hat er sich verdammt real angefühlt. Er hat mir gegeben, was ich immer wollte. Das habe ich gesucht. Irgendwo habe ich gelesen, dass Träume Botschaften aus dem Unbewussten sind. Doch was will mir dieser Traum sagen? Was bedeutet er? Ich liege immer noch mit zurückgeschlagener Decke im Bett und mir ist kalt. Aber nicht wegen der Kühle in unserem Schlafzimmer – Phil schläft immer mit gekipptem Fenster –, sondern weil mir kalt ums Herz ist. Ich habe das Gefühl, als hätte der Engel aus dem Traum tatsächlich einen Teil von mir behalten. Ich versuche mich an den Bildern festzu-klammern, die mir so real erschienen sind. Sie verblassen mehr und mehr mit jeder Minute, die ich mich in der Realität aufhalte. Es hämmert in meinem Kopf. Bleibt bei mir, nicht verschwinden, will ich den Bildern zurufen. Ich brauche dieses Gefühl. Vielleicht bin ich wirklich krank und fiebere etwas. Ich versuche, mich im Hier und Jetzt zurecht zu finden. Was ist denn heute für ein Wochentag? Freitag, gut, ich muss nicht zur Arbeit. Obwohl ich das tägliche Bankgeschäft an sich gerne mag, belasten mich zunehmend die Menschen, die in der Bank aus und ein gehen. Mein Chef möchte schon lange meine Arbeitszeit hochsetzen, aber bislang habe ich mich mit dem Hinweis auf meine Kinder erfolgreich wehren können. Allerdings bin ich auch ungern zu Hause. Leila springt aufs Bett, schnauft mir ins Gesicht und ich fühle, wie langsam meine Kräfte zurückkehren und ich mich wenigstens aufrichten kann. Leila geht zur offenen Schlafzimmertüre, dreht sich dort um und sieht mich an. „Ja, Leila, ich komme schon.“ Sie wartet in der Türe und wedelt. Komm jetzt, sagt ihr Blick. Dieser ist nicht ungeduldig, holt mich aber erfolg-reich in die Realität zurück. Als ich Leila betrachte, schießt mir ein Gedanke durch den Kopf: „Ich helfe dir durch den Alltag! Vertraue mir“, scheint sie zu sagen. Kann ich jetzt auch noch die Gedanken meines Hundes lesen? Was für ein verrückter Morgen! Mit bloßen Füßen taste ich nach meinen Hausschuhen, werfe mir beim Hinausgehen den Morgenmantel über und folge meinem Hund nach unten in die Küche. Raphael ist tatsächlich schon in der Küche. Ein Wunder! „Hi, Mum!“ Zwei Worte aus seinem Mund und es ist noch nicht einmal zwölf Uhr? Raphael sieht mich prüfend an. „Wie geht's dir?“ Was ist denn mit meinem Sohn los? Er interessiert sich sonst doch nicht die Bohne für mich. Sina packt gerade die Brotzeit für die Schule in die Boxen, drückt Raphael eine davon in die Hand und schiebt ihn in Richtung Flur. „Lass Mama heute mal in Ruhe! Sie hat schlecht geschlafen“, ermahnt sie ihren kleinen Bruder.

Was ist denn mit meinen Kindern los? Ich erkenne sie gar nicht wieder. Wann haben sich die beiden einmal schon so für mich interessiert? Bei meiner letzten Grippe musste ich trotz hohen Fiebers den Haushalt schmeißen und als ich nicht kochen konnte, hagelte es Beschwerden und Kritik. Aber heute erkundigt sich mein Sohn nach meinem Befinden.

Aus dem Flur höre ich Sina rufen: „Beeil dich jetzt mal, Raph!“

Raphael steckt noch einmal den Kopf in die Küche: „Mama, kannst du mich heute Abend von Tom abholen?“ Ich nicke verträumt.

„Mama? Von Tom… abholen… heute… 19 Uhr?“

Er spricht lauter, abgehackt und betont jedes einzelne Wort. Anscheinend wirke ich nicht ganz zurechnungs-fähig auf ihn.

„Von Tom abholen, ja“, murmle ich in mich hinein.

Die Haustür fliegt zu und im selben Moment herrscht völlige Stille im Haus. Diese erdrückende Art von Ruhe, die förmlich Einsamkeit, beinahe Verlassenheit, ausatmet, welche ich so fürchte und normalerweise zu vermeiden versuche. Ich schalte das Radio ein. Leila steht unschlüssig mitten in der Küche und wartet, dass ich sie in den Garten lasse. Ich merke, wie die Kälte im Haus langsam in mir hochsteigt und es schüttelt mich. Ich stehe barfuß im Morgenmantel in der Küche, in meiner Ich-warte-ab-Ecke. Wo sind denn meine Hausschuhe hingekommen? Eben hatte ich sie doch noch an. Aber diesem Problem kann ich mich nicht weiter widmen, denn sofort sind meine Gedanken wieder bei dem Engel und dem warmen Gefühl aus dem wundervollen Traum. Ich mag ja hier herumlaufen, aber mein Kopf ist definitiv noch nicht im Wachzustand angekommen. Ich erinnere mich an viele Träume, habe hin und wieder auch eigenartige Träume, aber so einen real wirkenden und emotionalen Traum habe ich noch nie durchlebt. Leila steht wedelnd vor mir, als wolle sie sagen: Alles halb so wild. „Kannst du mir erklären, was das war?“, frage ich meinen Hund. Natürlich kommt keine Antwort.

Welten - das Erwachen

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