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Kapitel 7
ОглавлениеPünktlich um neun klingelt es an der Tür. Ich bin bereits seit sechs Uhr wach und warte darauf, dass Anne kommt. Fertig angezogen, stehe ich im Flur.
„Anne, hallo! Dann kann es ja endlich losgehen!“
Phil und die Kinder wollen ausschlafen und haben sich deshalb schon gestern Abend verabschiedet. Meine Mutter hat sich natürlich nicht nehmen lassen, aufzu-stehen, und wartet zusammen mit mir auf meine Abreise.
Anne hat für Leila den Kofferraum ihres Wagens hundegerecht ausgestattet: Decken, Fanggitter, alles da, sogar an Leckerlis für Leila hat sie gedacht. Ich habe eigentlich mit unserem Auto fahren wollen, weil ich verhindern wollte, dass Anne sich all das Hunde-Zubehör extra für unseren Urlaub zulegen muss. Aber Anne hat kategorisch abgelehnt.
„Vielleicht kaufe ich mir selbst mal einen Hund“, hat sie gesagt und hinzugefügt: „Ich fahre! Dann kommt mein SUV endlich mal in bergiges Gelände. Da wo er eigentlich hingehört.“ Phil hat ihr das Auto vermittelt, es ist ihr „Zweitwagen für schlechtes Wetter“. Anne ist, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat, nicht mehr aufzuhalten. Deshalb lasse ich sie machen. Eigentlich bin ich sogar ganz froh, nicht selbst fahren zu müssen.
Wir packen meinen Koffer und die Reisetaschen auf den Rücksitz und Leila wird in den Kofferraum verfrachtet. Meine Mutter steht in der Haustür, aber als ich einsteigen will, winkt sie mich nochmals zurück.
„Ich wünsche dir einen wunderschönen Urlaub“, sagt sie. Dann schiebt sie noch hinterher: „Er soll dir helfen, deinen Weg zu finden!“ Dabei drückt sie mich fest, mit ihrer gewohnten Herzlichkeit. Meinen Weg finden? Wie kommt sie denn jetzt darauf? Merkwürdig. Ich habe einen Weg: Mann, Kinder, Haus, Job! Ist das kein gut beschrittener Weg? Nicht gut genug?
Anne startet den Motor und ich steige nachdenklich in ihr Auto ein. Wir winken meiner Mutter zu.
„So, endlich!“, sagt Anne und startet die Zielführung ihres Navis mit einem Knopfdruck.
Zielführung, zielführend, hm, welches Ziel? Schon wieder dieses Wort! Eigentlich bin ich von einem erholsamen Mädelsurlaub ausgegangen: Wandern, Essen, Wellness, Schlafen, Reden. „Eigentlich“, das ist auch wieder so ein Wort. „Eigentlich“ ist mein Leben echt in Ordnung. Aber trägt dieses „eigentlich“ nicht bereits eine Einschränkung in sich, fordert förmlich die Frage nach einem „Aber“ heraus? Meine Rastlosigkeit, die ich schon immer in mir getragen habe, ist durch das Leben mit Phil, meine Mutterschaft und unsere Reisen jedenfalls nicht vergangen. Seit ich diese merk-würdigen Träume habe, ist mir dieser Zustand aber erst richtig bewusst geworden.
Auf unserer Fahrt nach Straubing reden wir viel über unsere gemeinsame Schulzeit, die Jugend und über unsere Träume von damals. Von einer CD läuft Musik der 80er- und 90er-Jahre. Ich würde lieber etwas anderes hören, aber es ist ja Annes Auto. Also halte ich meinen Mund.
Anne ist sich hinsichtlich der Verwirklichung ihrer Träume treu geblieben. Ich hingegen wollte eigentlich Theaterwissenschaften studieren. Zumindest im Alter von 14 wollte ich es noch. Mit 18 wollte ich unbedingt für ein Jahr ins Ausland und danach einen Mann mit einem Bauernhof und vielen Tieren kennenlernen, der aber einen lukrativen Job in Vollzeit haben sollte. Und was habe ich jetzt? Ein Theater zu Hause und ein Haustier. Zumindest reisen können wir viel, dank Phils gut bezahlter Stelle. Ich bin mir bis vor ein paar Wochen sicher gewesen, dass ich an meinem Leben gerne ein paar Dinge verändern würde, es aber grundsätzlich das ist, was ich will. Oder wollte.
Jetzt denke ich das nicht mehr. Es fehlt etwas Grund-legendes in meinem Leben. Kann ich anhand eines Traums meine tiefsten Wünsche und Sehnsüchte er-kennen? Mir fällt die blaue Kugel wieder ein, die der Engel mir in die Hände gelegt hat. Wofür steht sie?
Die Fahrt bis nach Straubing vergeht wie im Flug. Kurz vor der Ankunft bereitet mich Anne auf das Treffen mit ihrer Verwandtschaft vor.
„Das sind beide ganz liebe Leute. Mein Onkel Franz ist ein herzlicher, grundguter Mensch, ebenso wie meine Tante. Johanna ist nur ein bisschen anstrengend. Beschäftigt sich mit Esoterik und so Zeugs. Am besten lässt du sie einfach reden. Wir bleiben ja nicht so lange.“
Ich nicke und stelle mir Annes Tante und Onkel vor. Wahrscheinlich trägt er zu einer braunen Hose eine graue Strickjacke, hat ein bisschen Übergewicht und eine Glatze. Sie ist vermutlich schlank, hat lange graue Haare und läuft in einem knöchellangen beigen Natur-baumwollkleid herum, mit Birkenstocks an den Füßen. Bei dem Gedanken muss ich grinsen. Anne hält kurz vor einem Reformhaus in Straubing, natürlich im Parkverbot, springt aus dem Wagen und kehrt Minuten später mit veganen Keksen und einer Flasche Rotwein zurück - ebenfalls vegan. „Was kann denn schon an einem Rotwein vom Tier sein?“, überlege ich. Die Leute und ihre Essgewohnheiten! Wie bei mir zuhause…
Kurz darauf stehen wir vor dem Haus von Annes Verwandten. Leila ist über die Möglichkeit, sich bewegen zu können, sichtbar erleichtert. Sie explodiert förmlich aus dem Kofferraum heraus, rennt umher und schnuppert an jedem Grasbüschel.
Anne klingelt.
Sekunden später steht schon ein Mann in der Haustür.
„Hallo, Onkel Franz!“ Anne fällt ihm um den Hals. Nun, der Onkel sieht ganz anders aus, als ich ihn mir vorgestellt habe. Er wirkt erstaunlich jung; ich hätte gesagt, höchstens um die vierzig, vielleicht etwas älter. Anne hält ihm die Weinflasche entgegen. „Für einen gemütlichen Abend!“, sagt sie und zwinkert. Onkel Franz nimmt die Flasche entgegen, tritt zur Seite und deutet einladend in Richtung Flur.
„Und wer bist du denn?“, fragt er freundlich, als Leila sich ihm schwanzwedelnd nähert. Er beugt sich zu Leila herab und krault sie an den Ohren.
„Das ist Leila und ich bin…“ Weiter komme ich nicht.
„Sie sind Astrid, nicht wahr?“, sagt Onkel Franz und strahlt über das ganze Gesicht. „Anne hat uns schon viel von Ihnen erzählt.“
Leila hat noch keine Lust, ins Haus zu gehen. Deshalb schüttele ich Annes Onkel rasch die Hand und erkläre, dass ich mit dem Hund noch eine Runde um den Block laufen will und dann nachkomme.
Anne und Franz nicken mir kurz zu, bevor sie im Haus verschwinden. Ich höre meine Freundin noch ein paar Worte mit ihrer Tante wechseln, dann fällt die Tür ins Schloss.
Während ich die Straße überquere, mustere ich die Häuser der Wohnsiedlung. Sie sind alle ähnlich gebaut - vermutlich auch zur gleichen Zeit entstanden - und haben gepflegte Gärten. Manche Häuser sind schon renoviert worden, andere haben noch den 80er-Jahre-Charme. Hier würde ich mich auch wohlfühlen. Das Haus von Annes Tante und Onkel sticht dadurch hervor, dass es quadratisch statt rechteckig ist. Außerdem ist es kleiner und hat lauter „alternative Dekoration“, wie ich das gerne nenne, im Garten stehen. Über der Haustür hängt ein Windspiel aus ungleich langen, silbernen Rohren und produziert ein melodisches „Hallo“ für jeden, der an diesem Haus vorbeigeht. Bunte Holzskulpturen und Stahlfiguren sind überall im Garten verteilt. Zwischen den verblühten Herbstblumen im Beet befinden sich bunte Glaskugeln. Die Vorhänge sind gelb-orange und auch innen auf den Fensterbänken stehen Blumen. Die Fenster und Türen sind aus hellem Holz und farblos lackiert. Am Haus ist ein Rosenspalier angebracht, welches die Rosensträucher über die Jahre fast komplett erobert haben.
Der Rasen bräuchte noch seinen Herbstschnitt und die Rosen müssten winterfest gemacht werden. Obwohl nicht alles perfekt ist – oder gerade deshalb? – wirkt das Haus charmant und einladend. Alles passt zu Annes Erzählung über ihre Tante. Nur dieser Franz wirkt etwas fehl am Platz.
Ich bin gespannt, wie es innen aussieht. Vor allem auf Annes Tante. Ich habe mit Esoterik schließlich rein gar nichts am Hut.
Leila ist mit ihrem Geschäft fertig und steht abwartend neben mir. Gerade in dem Moment, als ich die Straße überqueren möchte, sehe ich im Vorgarten von Annes Verwandtschaft eine goldleuchtende Fläche, aus der sich urplötzlich eine Gestalt herausschält. Nur allmählich werden ihre Konturen deutlicher, aber schon jetzt kann ich riesengroße Engelsflügel erkennen. Der Engel öffnet die Hände, als würde er mich einladen, das Haus zu betreten. Er ist schätzungsweise mindestens zwei Meter groß. Die Flügel lassen ihn noch viel größer erscheinen. Anders als bei „meinem“ Engel leuchtet er extrem stark. Nach und nach kann ich seine Gesichtszüge klarer erkennen. Er strahlt Ruhe, Wärme und Weisheit aus. Sein Gesicht ist freundlich. Ich fühle mich - im wahrsten Sinne des Wortes - zu ihm hingezogen, aber in dem Moment, in dem ich den ersten Schritt über die Straße mache, verschwindet der Engel. Beinahe renne ich zu der Stelle, an der er eben noch gestanden hat, und bin enttäuscht, keinen genaueren Blick auf ihn werfen zu können. Diese unglaublich starke Wärme, die ich in der Nähe dieser Wesen spüre… Es schockiert mich jedes Mal aufs Neue, dass diese Gefühle schlagartig vergehen und sich eine schmerzhafte Leere in mir breitmacht, sobald die Engel verschwinden. Ist das noch diese „normale“ Leere, die stets in mir war?
Ich stehe noch immer unschlüssig auf dem Gartenweg, als Anne die Haustür aufreißt und mich mit den Worten „Na, seid ihr beiden fertig?“ in Empfang nimmt. Benommen folge ich Anne ins Haus. Schon der Flur ist übervoll mit lauter hübschen wie kitschigen Dekoartikeln. Mir fallen sofort die vielen bunten, glattgeschliffenen Halbedelsteine auf, die in Schalen oder Gläsern auf Tischen und Fensterbänken herumstehen sowie die vielen kleinen und großen Engelsfiguren im Wohnzimmer.
Vielleicht war die Erscheinung im Garten gar kein Zufall und der Engel, den ich gesehen habe, gehört zu diesem Haus!?
Moment, habe ich das jetzt wirklich gedacht? Akzeptiere ich bereits Fantasievorstellungen in meinem ganz normalen Leben? Am helllichten Tag?
Anne legt ihren Arm um meine Schultern und schiebt mich in Richtung Esstisch, an dem ihre Tante sitzt. Sie sieht tatsächlich genauso aus, wie ich sie mir vorgestellt habe! Ihre langen, silbergrauen Haare fallen ihr weit offen über die Schultern. Ihr faltenloses Gesicht lässt sie jünger wirken und ihre strahlenden Augen sind farblich so außergewöhnlich, dass ich sie anstarren muss. Ihre Iriden erstrahlen in drei verschiedenen Farben und sie hat einen so freundlichen Blick.
„Das ist meine Tante Johanna.“
Annes Tante steht von ihrem Stuhl auf und hält mir ihre Hand zur Begrüßung entgegen. In dem Moment, als ich ihre Handfläche berühre, habe ich das Gefühl, diese Frau schon seit ewigen Zeiten zu kennen. Johanna schaut mir kurz, aber intensiv in die Augen, ehe sie mich zu sich heranzieht und umarmt. Auch die Umarmung fühlt sich nicht fremd an. Sie dauert auch diesen kleinen Moment länger als normale Umarmungen unter Freunden. Dann lässt mich Johanna wieder los, mustert mich eindringlich und sagt: „Schön, dass ihr den Weg zu uns gefunden habt.“
Wenn meine Schwiegermutter sowas sagt, dann ist immer ein schlecht versteckter Vorwurf dahinter. Bei Johanna klingt es so, als meine sie das ernst.
„Ich bin Astrid“, sage ich etwas verlegen, um irgendetwas zu sagen.
„Ich weiß!“ Dabei nickt Johanna zustimmend. Ihr Blick ist prüfend, als würde sie gerade meine Gedanken lesen. Normalerweise wäre mir ein solcher Blick sehr unangenehm, aber ich hänge immer noch an ihren faszinierenden Augen fest.
„Ein schönes Haus haben Sie!“, stammle ich, um die Stille zu durchbrechen.
Vollkommen zeitgleich bieten Annes Onkel und Tante mir das „Du“ an.
Leila fordert gerade Streicheleinheiten ein und rollt sich dabei genüsslich auf dem Teppich herum, als wäre sie hier zu Hause. Anne lacht und bückt sich, um Leilas Wunsch nach Zuneigung nachzukommen.
Johanna deutet auf einen freien Stuhl am Tisch.
„Wir können gleich mit dem Essen anfangen. Bitte setz dich, Astrid. Möchtest du Tee, Wasser oder vielleicht Kaffee?“
„Kaffee und ein Glas Wasser bitte“, antworte ich etwas zu hastig, während ich mich setze. Franz hat schon an-gefangen, uns Reis aufzutun. Als er bei mir ankommt, hält er mir mit fragendem Blick den vollen Löffel hin. Ich nicke.
„Und, Anne, wie geht’s deinen Eltern?“, will Franz wissen, während er die Soße austeilt und wieder bei mir innehält, um meine Zustimmung einzuholen.
„Ich denke gut. Ich war auch schon länger nicht mehr dort“, antwortet Anne.
Ihre Eltern sind vor einigen Jahren ins Allgäu gezogen, um dort den Ruhestand zu verleben. Anne hat überlegt, mit dorthin zu ziehen, aber die Nähe zu Nürnberg und die gute Infrastruktur der Gegend wollte sie nicht aufgeben. Deshalb sieht sie ihre Eltern relativ selten.
„Aber im August hatten wir ein paar schöne Tage gemeinsam in Berlin.“ Annes Paps, wie sie ihn nennt, ist Franz’ älterer Bruder. Er muss ein gutes Stück älter sein. Anne war früher öfter bei Onkel und Tante in Nieder-bayern, auch mal in den Ferien. Das weiß ich aus Erzäh-lungen und von Fotos.
Ich stelle fest, dass Franz mir unheimlich viel Soße aufgetan hat. Wahrscheinlich hätte ich „Stopp“ sagen müssen. Beschämt fingere ich nach dem Löffel und esse tapfer den Reis, der in Soße schwimmt.
„Franz hat es wohl sehr gut gemeint“, sagt Johanna auf einmal zu mir. „Lass ruhig stehen, was dir zu viel wird!“ Kann diese Frau denn Gedanken lesen? Mich würde wirklich interessieren, wie alt sie ist. Die Haare schon grau, die Haut aber nahezu faltenfrei. So eine Haut will ich später auch haben. Wie macht sie das?
„Was machst du denn beruflich?“, möchte Johanna von mir wissen. Ich erzähle von meinem Alltag in der Bank, von meiner Familie und meiner Reiseleidenschaft. Johanna hört aufmerksam zu und stellt immer wieder Zwischenfragen.
Nach dem Essen nimmt Anne Leila mit in den Garten und Franz räumt währenddessen den Tisch ab. Dann fragt er mich: „Mag dein Hund Ballspielen?“, und als ich nicke, folgt er Anne in den Garten.
Johanna und ich bleiben am Esstisch zurück. Das scheint ihr ganz gut zu passen, beinahe so, als hätte sie noch etwas zu erzählen. Ihr Gesicht verändert sich. Vorhin, als wir plauderten, sah sie freundlich und interessiert drein, jetzt wirkt ihr Ausdruck auf einmal geheimnisvoll. Etwas Mystisches, Tiefgründiges taucht in ihren Augen auf.
Ich warte, dass sie etwas zu mir sagt. Mein Blick streift eine kleine Engelsfigur in Schwarz, die auf dem Fensterbrett hinter Johanna steht. Ein Engel, so schwarz wie der aus meinen Träumen.
„Ja, es gibt auch schwarze Engel“, höre ich Johanna auf einmal sagen. „Sie haben auch schwarze Flügel. Das sind aber keine schlechten oder gar bösen Engel. Es ist nur eine Farbe, die mit der Hierarchie unter Engeln zu tun hat.“
Ich starre Johanna an. Woher weiß sie, dass ich… oder ist sie nur meinem Blick gefolgt? Schwarze Engel gibt es also! Aber was ist mit den weißen und dem goldenen von vorhin?
„Woher…“, stammle ich und verstumme.
Johanna lächelt. „Viele halten mich für verrückt oder zumindest für nicht ganz normal. Ich beschäftige mich viel mit Engeln. Ich habe auch schon öfters welche gesehen. Sie geben mir Kraft und Stärke für den Alltag. Und viele sind schwarz, manche weiß. Nur die Erzengel sind goldfarben gekleidet, strahlend und leuchtend. Mein Schutzengel ist der Erzengel Gabriel. Neben Gabriel gibt es noch neun weitere Erzengel. Jeder Engel steht für etwas anderes. So soll zum Beispiel Erzengel Raphael die Heilungsprozesse der Menschen begleiten und unterstützen. Die anderen heißen noch Uriel, Haniel, Michael, Ariel, Jophiel, Chamuel, Zadkiel und Bariel.“
Ich bin gleichermaßen fassungslos und fasziniert, mit welcher Selbstverständlichkeit Johanna mit diesem ungewöhnlichen Thema umgeht. Noch dazu bin ich schrecklich aufgeregt, mein Atem geht stoßweise und ich weiß überhaupt nicht, wohin ich sehen soll. Schließlich wollte ich damals unbedingt erreichen, dass mein Sohn Raphael heißt. Phil war dagegen, meine Schwiegermutter sowieso, selbst meine Mutter war kritisch. Gegen den Willen aller habe ich mich durchgesetzt. Raphael!
Johanna schaut mich liebevoll an. „Du hast auch schon Engel gesehen, nicht wahr?“
Diese Frage überrennt mich völlig. Ich habe das starke Bedürfnis, dieser Frau mein Herz auszuschütten, andererseits kenne ich sie kaum und möchte nicht
wie eine Verrückte klingen, die irgendwelche Erscheinungen hat und sich wichtigmachen will.
„Du musst nichts sagen. Ich sehe es den Menschen an, wenn sie bereits einen Engel erblicken durften. Bei dir ist es gar nicht lange her, nicht wahr?“
Ich hole tief Luft und lasse mich fallen. Dann erzähle ich ihr von meinen Träumen, der Gestalt im Park und der Erscheinung in ihrem eigenen Garten. Beschreibe auch Kleinigkeiten, um glaubwürdiger zu wirken. Aber das ist offensichtlich gar nicht nötig. Als ich mit meinen Erzählungen ende, geht Johanna zum Regal, holt ein Buch sowie einen Stein an einer Kette.
„Hier habe ich ein Buch über Erzengel und welche Auf-gaben sie haben. Ich brauche es nicht mehr, du kannst es gerne haben. Kennst du deinen Schutzengel?“
Ich schüttele den Kopf, habe aber schon eine ganz starke Vermutung.
„Dann frage ich jetzt das Pendel“, sagt Johanna, nimmt den Stein an der Kette und fängt an zu pendeln. Dabei scheint sie immer wieder in sich hineinzuhören. Das Pendel bewegt sich in Kreisen, mal nach links, mal nach rechts. Ich fixiere Johannas Hand. Sie ist komplett ruhig, aber unter ihr bewegt sich der rosafarbene Stein. Ich habe schon davon gehört, aber das ist das erste Mal, dass ich jemanden pendeln sehe. Wie das wohl funktioniert?
Johanna legt das Pendel ab. „Dachte ich mir“, sagt sie. „Es ist auch ein Erzengel. Raphael!“
Mein Gesicht friert merklich ein.
Johanna rückt einen Platz weiter auf den freien Stuhl neben mir und legt ihren Arm um mich.
Mir ist schummrig im Kopf und gleichzeitig heiß und kalt. Raphael - der Name war mir schon vor der Geburt meines Sohnes so nah und fühlte sich richtig an. So richtig, dass ich bereit war, darum zu kämpfen, dass mein Sohn so heißen durfte.
„Astrid, willst du mir noch etwas sagen?“
„Ich, äh, mein… also ich…“ Tränen stürzen plötzlich wie Bäche aus meinen Augen und ich kann nicht mehr sprechen.
„Ja, ich weiß, dein Sohn trägt diesen Namen!“, sagt Johanna sanft und streichelt dabei über meinen Rücken. „Der Name des Schutzengels ist in deinem Unter-bewusstsein verankert. Deshalb hast du ihn gewählt.“
Ich bin sicher, bei meiner Erzählung vorhin, die Namen meiner Kinder nicht erwähnt zu haben.
Johanna erklärt weiter. „Du bist etwas ganz Besonderes, weißt du das? Deshalb ist dein Schutzengel einer der zehn Erzengel. Deine Träume sind Botschaften aus dem Unterbewussten. Gerade eben, vor unserem Haus, hat sich dein Engel dir sehr deutlich gezeigt. Er weiß, dass du nun für dieses Wissen bereit bist. Er steht dir bei in Situationen, in denen du seine Hilfe benötigst. Wenn du es zulässt, kann er dir helfen.“
Immer noch laufen Tränen über mein Gesicht, während ich aufmerksam Johannas Worten folge. Mein Kopf ist heiß, mein Herz pocht und es wird mir auf einmal vieles klar und deutlich. Ich fühle mich erleichtert und doch ist mein Herz schwer.
Woher weiß Johanna den Namen meines Sohnes? Sag mal, Astrid, ist das tatsächlich die einzige Frage, die du jetzt hast? Ich lächele kurz. Ich habe noch zig Fragen und bete darum, dass Johanna jetzt nicht aufsteht und in die Küche geht.
Nein, sie bleibt sitzen und da ihr Mann und Anne gerade aus dem Garten kommen, schlägt sie ihnen vor, noch ein bisschen mit Leila spazieren zu gehen. In dieser kurzen Zeit, bis Anne die Leine und Franz sich eine Jacke geholt hat, rasen unzählige Gedanken durch meinen Kopf. Bis gerade eben noch habe ich befürchtet, den Verstand zu verlieren und langsam verrückt zu werden. Mit Johanna hier zu sitzen, beruhigt mich sehr. Wenn ich verrückt bin, dann bin ich damit wenigstens nicht alleine.
Als die Haustür hinter Anne und ihrem Onkel zufällt, spricht Johanna weiter. „Engel können uns in schwierigen Situationen leiten, wenn wir ihnen zuhören. Kennst du die Situation: Du bittest um Hilfe und dann kommen Gedanken und Lösungen, und
du weißt nicht woher? Aber diese Gedanken passen genau zu dem Problem oder zu der anstehenden Entscheidung. Hör genau auf dein Inneres, dann hörst du deinen Engel. Manchmal greift ein Engel aber auch richtig ein: Du kannst zum Beispiel nicht auf die Straße gehen, weil dich etwas daran hindert, dich richtig festhält, und einen Bruchteil einer Sekunde später rast ein Auto vorbei. Es hätte dich erwischt. So oder so ähnlich kann es gehen.“
Johanna nimmt einen großen Schluck Wasser aus dem Glas vor ihr, während mir der Vorfall mit Leila in den Sinn kommt, als sie mich davor bewahrt hat, von einem Motorrad überfahren zu werden.
„Dass Engel bei dir in nächtlichen Träumen, aber auch am Tag auftauchen, hat übrigens eine tiefere Bedeutung. Vor allem, weil du dir sicher bist, dass es dein Engel ist, der dunkle, den du im Traum gesehen hast. Ich habe es gependelt. Er gehört tatsächlich zu dir. Er ist aber nicht dein Schutzengel.“ Johanna lässt ihre Worte wirken.
„Aber was ist er dann?“
„Das weiß ich leider nicht. Aber ich kann dir sagen, wer das wissen könnte!“
Wieder eine Pause. Johanna spricht ohnehin langsam, wenn sie aber etwas betonen möchte, wird sie noch langsamer: „Dein Unterbewusstsein!“
Ich schweige, weil ich nicht weiß, was ich mit dieser Antwort anfangen soll und versinke in Gedanken. Mein Leben verändert sich gerade – ins total Verrückte. Wie soll ich denn jetzt auf einmal mit meinem Unterbewusstsein reden, wenn ich es bisher nicht geschafft habe?!
Johanna setzt erneut an: „Unter Hypnose kannst du mit deinem Unterbewusstsein sprechen, oder, besser gesagt, spricht dein Unterbewusstsein mit dem Hypnotiseur!“
Hypnose? Das habe ich schon einmal im Fernsehen gesehen. Unter Hypnose haben die Leute lustige Sachen gemacht, oder konnten nicht mehr zählen oder ihren Namen sagen. Ich habe das immer für Humbug gehalten.
„Weißt du, wie Hypnose abläuft?“
Ich schüttele den Kopf wie ein Schulmädchen, das seine Hausaufgaben nicht gemacht hat. „Nur das aus dem Fernsehen“, sage ich.
„Das ist Show und hat nichts mit der normalen thera-peutischen Hypnose zu tun. Das solltest du nicht ver-gleichen. Therapeutische Hypnose darf auch nicht jeder ausüben. Man muss einen therapeutischen Beruf nach-weisen können, zum Beispiel Heilpraktiker. Ich kenne sogar jemand Geeignetes hier in der Nähe“, sagt Johanna, steht auf und pflückt eine Visitenkarte von einer Magnettafel in der Küche. „Mit Frau Beckers’ Hilfe habe ich viel über mich erfahren und lernen dürfen. Ich gebe dir die Nummer mit. Vielleicht brauchst du ja diesbezüglich einmal Hilfe!“ Johanna drückt mir die Karte in die Hand. In einer ge-schwungenen Schrift steht auf einer hellgrünen Karte:
Vanessa Beckers
- Heilpraktikerin und Hypnosetherapeutin -
Bernried
Termine nur nach Vereinbarung
Ich stecke die Karte in meine Tasche. Irgendwie beruhigt es mich, diese Adresse zu haben.
„Du bist etwas ganz Besonderes, vertraue dir selbst und nutze deine Fähigkeiten!“, sagt Johanna eben noch, in dem Moment, in dem Anne und ihr Onkel vom Spazier-gang mit Leila zurückkommen. Und fast augenblicklich wechselt Johannas Gesichtsausdruck von diesem magi-schen zu einem normal-freundlichen.
„Ah, da seid ihr ja. Wer möchte Kaffee?“
„Oh ja, bitte!“, macht Anne theatralisch und tut, als wäre sie auf Entzug. Dann fragt sie mich: „Na, ist meine Tante verrückt oder ist sie verrückt?“
Eigentlich gar nicht, möchte ich fast sagen. Sie hätte
zu keinem passenderen Zeitpunkt in mein Leben treten können. Ich umschließe die Visitenkarte in meiner Tasche mit den Fingern – meinen sicheren Anker für Notfälle.
Anne lächelt mich siegessicher an. Wenn sie wüsste, was für einen riesigen Gefallen sie mir getan hat, mich ihrer Tante vorzustellen. Oder weiß sie das etwa?
Die restliche Zeit unseres Aufenthalts fällt unter die Kategorie „völlig normal“. Wir bleiben zwar länger als geplant, was daran liegen dürfte, dass sowohl Anne als auch ich uns sehr wohl fühlen. So ist es fast vier Uhr, als wir endlich aufbrechen.
Johanna umarmt mich sehr lange und warmherzig. Sie flüstert mir ins Ohr: „Lass mich wissen, wie es dir ergeht. Wenn du Hilfe brauchst, melde dich bitte bei mir. In deiner Situation kann man Hilfe von Leuten, die über den Tellerrand schauen können, wirklich brauchen. Ich weiß das aus eigener Erfahrung“, sagt sie und lächelt wieder so „mystisch“.
Onkel Franz ist da bodenständiger. „Meldet euch bald mal wieder!“, ruft er uns nach.
Während der kurzen Fahrt zu unserer Unterkunft bin ich noch ruhiger als sonst, was Anne auffällt.
„Geht‘s dir gut, Astrid?“, fragt sie.
Seit diese Träume begonnen haben, ging es mir noch nie besser.
„Danke, dass du mich deiner Tante vorgestellt hast.“
„Das ist das erste Mal, dass sich jemand bei mir bedankt, der Tante Johanna kennengelernt hat“, sagt Anne und grinst.
Wir fahren die restlichen Kilometer schweigend. Ich bin dankbar, nicht reden zu müssen und schaue aus dem Fenster, während meine Gedanken um die jüngsten Erlebnisse kreisen. Ehrlich gesagt, kann ich mir nicht vorstellen, dass an mir irgendetwas besonders sein soll.
Das wäre ja das erste Mal.