Читать книгу Welten - das Erwachen - Dagmar Dietl - Страница 6

Kapitel 4

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„Astrid, bist du da?“

Dauerklingeln.

„Astrid?!“, höre ich die Stimme meiner Freundin Anne gedämpft durch die Haustür.

Ich erwache aus meinem Tagtraum auf dem Fußboden der Küche sitzend, angelehnt an die Küchenzeile.

Leila liegt neben mir – offenbar hat sie den Gedanken aufgegeben, in den Garten gehen zu dürfen. Langsam rappele ich mich auf, steif wie eine 90-Jährige. Immer noch barfuß und im Morgenmantel tapse ich über den kalten Fliesenboden zur Haustür.

Anne habe ich total vergessen! Ich öffne die Türe.

Annes Blick spricht Bände über meinen Zustand.

„Um Gottes willen, Astrid, was ist denn mit dir passiert? Bist du krank? Du bist blass wie ein Leichentuch. Hast du ein Gespenst gesehen?“

Kommt fast hin, denke ich.

Resolut schiebt sich Anne in den Flur und mich vor sich her ins Wohnzimmer. Ich lasse ihre Bevormundung widerstandslos über mich ergehen. Sie drückt mich sanft auf unser Sofa, holt eine Decke von Phils Fernsehsessel und legt sie mir über die Beine. Auf dem Weg zur Terrassentür streichelt sie Leilas Kopf und lässt den Hund in den Garten. Leila sieht erleichtert aus. So was passiert mir sonst nie – ich vergesse doch meinen Hund nicht!

Anne wirkt belebend auf mich, als würde sie mein Realitätsbewusstsein wieder einschalten. Ich höre sie in der Küche hantieren, Wasser läuft, der Schrank, in dem der Kaffee ist, wird geöffnet, ein Löffel klirrt, die Kaffeemaschine gluckst vor sich hin. Anne und ich wollten um 10 Uhr gemeinsam zum Walken gehen. Ich schaue auf die Uhr an unserer Stereoanlage: zwanzig nach zehn. Die letzten dreieinhalb Stunden sind wie weggeblasen. Als wäre ich nicht da gewesen.

Anne kommt mit zwei Kaffeetassen aus der Küche zurück, mustert mich nochmals von oben bis unten und ihr Blick bleibt an meinen nackten Füßen hängen.

„Richtig krank siehst du aber nicht aus! Hast du verschlafen?“

Ich nicke und fingere nach der Kaffeetasse, die Anne direkt vor mir auf den Tisch abgestellt hat.

Anne verschwindet im Flur und kommt mit meinen Hausschuhen zurück: „Hier!“ Dabei hält sie mir auf-fordernd meine plüschigen Schuhe hin.

„Die standen im Flur, als wärst du auf der Flucht gewesen!“

Während sie spricht, lässt sie sich in Phils Fernsehsessel plumpsen.

Ich verschlafe nicht. Nie. Seit ich Anne kenne – und das ist seit unserer Schulzeit in der Realschule – war ich immer die personifizierte Pünktlichkeit. Daher wundert mich Annes prüfender Blick nicht. Ich starre aus dem Fenster und überlege krampfhaft, was ich auf die nächste Frage antworten soll.

Und da kommt sie schon!

„Was ist passiert?“

Anne kennt mich besser, als jeder andere Mensch, umgekehrt ist das sicher auch so. Daher kann ich getrost schon vor Annes Frage nach einer passenden Antwort suchen.

„Du wirst mich jetzt vielleicht für verrückt erklären, aber ich habe total real geträumt. Obwohl Sina mich morgens geweckt hat, bin ich gar nicht richtig wach geworden. Die letzten dreieinhalb Stunden sind wie ausgeblendet!“

Anne schaut interessiert.

Ich erzähle ihr, so gut ich kann, von dem Traum, dem Turm, dem Licht und dem schwarzen Engel, der etwas Bedeutsames in der Hand gehalten hatte. Während ich erzähle, kann ich nicht verhindern, dass mir Tränen über die Wangen laufen. Anne reicht mir wortlos ein Taschentuch und sieht mich durchdringend an. Wir schweigen eine Weile. Das Schweigen ist keinesfalls unangenehm. Ich denke immer noch an den Engel – Anne hat aber eher reelle Hilfe für mich im Sinn.

„Wie läuft es mit Phil?“

Ihre Frage fährt durch die Stille wie ein Messer durch weiche Butter.

„Eigentlich wie immer. Er ist viel auf der Arbeit, redet wenig und ist gedanklich immer woanders“, antworte ich. Ich weiß genau, worauf Anne hinaus will.

„Kann es sein, dass dein Traum mit deinem Wunsch nach mehr Liebe, Nähe und Zuneigung zu Phil zusammenhängt?“

Ich nicke halbherzig, sage aber nichts. Ich möchte das Gespräch nicht noch weiter ausdehnen. Denn ich weiß eines: Mit Phil hat dieser Traum absolut nichts zu tun. Dieser Traum hängt mit meiner inneren Unruhe zu-sammen. In diesem Traum war ich das erste Mal, seit ich denken kann, innerlich ruhig und habe mich geborgen und angekommen gefühlt. All diese Gedanken kreisen mir durch den Kopf.

„Geht doch mal wieder essen!“, höre ich Anne sagen.

Aber ich hänge schon wieder an dem Bild mit dem Engel fest.

„Nehmt euch Zeit füreinander.“

Was hat der Engel in seiner Hand gehalten? Es war blau… Und warum war der Engel eigentlich schwarz gekleidet? Müsste er nicht weiß sein? Und sein Gesicht? Es war, als würde ich einen uralten Bekannten ansehen.

„Welche Farbe haben Engel normalerweise? Also, wie sind sie gekleidet?“, frage ich meine Freundin.

„Astrid, hast du mir in den letzten Minuten zugehört?“ Warum beantwortet sie meine Frage eigentlich nicht?

„Ja, habe ich, aber welche Farbe haben Engel? Was meinst du?“

„Weiß natürlich“, antwortet Anne und zuckt dabei irritiert mit den Schultern, als wolle sie lieber ihren Paartherapieansatz verfolgen.

„In allen Engelsabbildungen, die ich kenne, sind Engel weiß gekleidet, stehen in hellem Licht und haben weiße Flügel. Vielleicht ist es deine dunkle Sehnsucht, die den Engel in Schwarz hat erscheinen lassen!“

„Hmm“, brumme ich.

Leila kratzt wedelnd an der Terrassentür und will hereingelassen werden. Ich bin dankbar für diese Ablenkung. Ich schnappe mir das Hundehandtuch, knie mich neben Leila auf den Boden und putze ihre Pfoten. Anne ist auf dem Holzweg mit ihren Erklärungsversuchen. Natürlich sehne ich mich nach Geborgenheit und Liebe. Mein Mann ist mir schon seit längerer Zeit fremd geworden. Er lebt sein Leben in seiner Karriere. Frau und Kinder gehören zum Image dazu. Er ist nicht unfair oder böse, aber eben emotional für mich nicht mehr zu erreichen. Aber hinter dem Traum muss etwas anderes stecken. Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr bin ich davon überzeugt, dass es eine tiefe Bedeutung hat, was ich gesehen habe.

Anne merkt, dass ich ihr und der Paarbeziehungs-thematik ausweiche.

„Hey Süße, lass uns doch einfach ins Café gehen. Etwas Ablenkung würde dir guttun!“

Ich überlege kurz, ob ich mich herausreden soll, indem ich den Haushalt, Wochenendeinkauf oder Leilas große Gassirunde vorschiebe. Weil aber solche Ausreden bei Anne nur selten funktionieren, oder eigentlich nie, stimme ich zu. Anne ist einfach zu überzeugend.

Sie packt mich am Oberarm und schiebt mich Richtung Treppe. „Zieh dich an, mach dir Farbe ins Gesicht und dann komm!“

Ich tapse, immer noch barfuß, nach oben ins Bad. Oh ja, schminken ist eine gute Idee. Wie ich aussehe! Furchtbar, blass und mit leerem Blick. Wie kann man das Gefühl haben, etwas gefunden zu haben und es im selben Moment wieder zu verlieren? Nur aufgrund eines Traumes!

Zehn Minuten später sitzen wir im Auto auf dem Weg in unser Stammcafé in Ingolstadt. Nicht, dass wir in unserem Ort keine Cafés hätten, aber ich bin immer froh, wenn ich mal in die Stadt komme. Und gerade heute bin ich dankbar dafür, dass Anne diese Vorliebe mit mir teilt.

Leila hat mich nicht gehen lassen wollen und war so aufdringlich, dass wir sie kurzerhand mitgenommen haben. Mein Hund bleibt normalerweise gerne zu

Hause - heute scheint sie meine Gesellschaft dem Alleinsein vorzuziehen.

„Können wir kurz beim Luitpoldpark anhalten? Leila würde sich freuen!“

Anne nickt und kurz darauf schlendern wir schweigend nebeneinander her durch den Park. Leila ist sichtlich erleichtert, sich frei und ohne Leine bewegen zu können.

Ich bin schon wieder in meinen Gedanken bei dem Traum. Doch plötzlich fällt mir meine gestrige Recherche bezüglich meines Herbsturlaubs wieder ein, und auch, dass ich Anne um Rat fragen wollte, ob ich die Kinder mitnehmen oder lieber gleich alleine fahren sollte. Eigentlich habe ich sie heute früh fragen wollen. Ist mir komplett entfallen. Aber vielleicht ist es gut, dass ich es noch nicht geschafft habe. So berichte ich Anne von Phils Vorschlag eines Urlaubs ohne ihn, erzähle, wohin es gehen soll und erwähne auch meine Bedenken bezüglich der Attraktivität eines solchen Urlaubsortes für meine beiden verwöhnten Teenager.

Anne schaut mich nach Ende meiner Erklärung nur den Bruchteil einer Sekunde an und legt dann den Arm um mich.

„Die Kids lässt du mal schön zu Hause. Du fährst…“, sie macht eine theatralische Pause und deute dann mit beiden Händen auf sich, „…mit deiner besten Freundin! Wir machen uns eine wunderbare Mädchen-Wanderwoche mit Gesprächen über Mädchenthemen, gutem Essen und Wellness!“

Das ist es! Danke, Anne! Ich bewundere sie für ihre Fähigkeit zu spontanen Entscheidungen! Das ist meine beste Freundin, so wie ich sie kenne. Klar tut sie sich leichter als ich: Sie hat weder Mann noch Kinder und arbeitet selbstständig als Grafikdesignerin. Da muss man spontan und flexibel sein. Ich hingegen fühle mich in sicheren Bahnen mit langfristigen Entscheidungen unter Abwägung aller Eventualitäten am wohlsten.

„Und die Kinder?“, frage ich noch, kenne aber die Antwort bereits.

„Deine Mama hat sich doch zum Aufpassen mehrfach angeboten. Und – ehrlich – so viel aufpassen muss man in deren Alter auch nicht mehr! Das schafft sie schon.“

Mit Anne in den Urlaub fahren, das wird wundervoll. Eine Erholung! Sie kennt mich schon ewig, in allen möglichen und unmöglichen Situationen. Mal sehen, was meine Familie zu dieser Entscheidung sagt.

Wir haben uns auf eine Bank gesetzt, weil ich Anne die Homepage von Achslach und der Unterkunft auf meinem Handy zeigen möchte. Nach wie vor bin ich gerädert von dieser Nacht und daher sehr froh, mich hinsetzen zu können. Die herbstliche Sonne tut mir gut, vertreibt die Kälte aus meinen Knochen. Je länger wir hier sitzen, desto wacher werde ich, und der Gedanke, einen unkomplizierten Urlaub mit meiner Freundin zu verleben, begeistert mich immer mehr. Ich suche nach dem Flyer von Achslach und halte Anne das Handy unter die Nase. Leila liegt zwischen uns und kaut auf einem Ast herum. Während meine Freundin sich die Bilder ansieht, halte ich mein Gesicht in die Sonne und schließe die Augen.

„Aber das passt doch gut, mehr brauchen und wollen wir doch nicht“, sagt Anne.

„Denke ich auch“, höre ich mich sagen. Plötzlich öffne ich die Augen und blinzle zwischen den Baumgruppen hindurch, die etwa 50 Meter entfernt stehen. Irgendwas dort erregt meine Aufmerksamkeit. Auf einmal erfüllt sich mein Herz mit Wärme und Liebe, es beginnt zu springen und zu rasen. Das Gefühl kenne ich! Ich stehe auf und gehe auf die Baumgruppe zu. Immer mehr Freude, Liebe und Glück durchströmen mich. Ich kneife die Augen etwas zu, um besser gegen das Licht sehen zu können. Doch ich erkenne ihn wieder: Es ist der Engel in Schwarz. Dieses Mal ist er nicht ganz so klar zu sehen wie in meinem Traum. Die Flügel sind aber gut zu erkennen. Ich gehe wie ferngesteuert auf die Erscheinung zu. Der Engel scheint etwas zu mir zu sagen. Er spricht nicht, aber ich lese seine Worte ganz klar in meinem Kopf: Vertraue deinen Fähigkeiten, sie erwachen gerade! Vertraue! Vertraue! Vertraue! Das letzte ‚Vertraue‘ ist nur noch als Ahnung in meinen Gedanken zu hören. Dann ist die Engelsgestalt verschwunden.

Ich stehe mitten auf der Wiese und starre in eine herbstliche Parklandschaft. Leila ist mir gefolgt und Anne ruft gerade: „Hey, wartet auf mich! Wollt ihr mich nicht mitnehmen? Übt ihr schon für unseren Urlaub?“

Ich drehe mich verwirrt um.

Anne lacht und schaut auf ihre flachen hellen Lederschuhe hinunter. „Dann hätte ich jetzt schon mal Wanderschuhe anziehen sollen!“

Das warme Gefühl in mir verschwindet genauso schnell, wie es sich aufgebaut hat, und ich stehe da wie ein kleines Mädchen, dem andere Kinder das heiß geliebte Stofftier weggenommen haben.

„Oh Mann, Astrid, was ist heute nur mit dir los?“ Anne legt ihren Arm um mich, als ich wieder an der Parkbank angekommen bin. „Meine Diagnose ist: Du brauchst dringend eine Auszeit!“

Da hat sie wohl Recht. Was für ein eigenartiger Traum. Und wenn ich schon anfange, Tagträumen nachzu-hängen, sollte ich wohl wirklich mal wegfahren. Min-destens Luftveränderung. Besser Allesveränderung!

Anne hat immer noch ihren Arm um mich gelegt und hält mich fest. Dafür bin ich ihr sehr dankbar. Auch für ihre unkomplizierte Freundschaft. Anne fragt nicht viel, sie ist einfach da. War sie immer und wird es hoffentlich noch lange sein. Trotz meiner Zuneigung zu ihr ist das Gefühl von Wärme, das ich gerade während der Erscheinung erfahren habe, mit nichts zu vergleichen. Was geht da nur vor sich? Und von welchen Fähigkeiten spricht der Engel? Bilde ich mir nur alles ein, weil ich endlich einmal etwas Besonderes sein möchte? Ist mein Selbstbewusstsein so gering, dass ich schon Engelserscheinungen brauche, um vor mir selbst etwas zu gelten? Aber diese Nachricht war schon sehr deutlich und klar. Was hat sie zu bedeuten? Und warum jetzt?

„Redest du heute noch mal mit mir?“

Anne lacht, aber in ihrer Stimme schwingt ein leicht gereizter Unterton mit. Hat sie gerade etwas zu mir gesagt? Oh je, ich habe überhaupt nicht zugehört. Das wollte ich nicht. Während wir zum Auto zurückgehen, frage ich bemüht interessiert nach ihrem letzten Projekt. Anne legt los. Reden kann sie gut. Dass sie diese Erscheinung offensichtlich nicht gesehen hat, kann ich aus ihrem Verhalten schließen. Bin ich verrückt? Doch als ich zu Leila hinuntersehe, hebt sie den Kopf und ihr Blick sagt mir eindeutig: „Ich habe den Engel auch gesehen. Aber du kannst dich entspannen: Ich passe auf dich auf.“

Die Gedanken meines Hundes zu lesen ist nicht gerade ein Beweis für meine geistige Gesundheit.

Anne reagiert auf meine erneute gedankliche Abwesen-heit verständlicherweise gereizt.

„Sag mir, wenn ich dich langweile.“

Oje, ich darf auf keinen Fall den Eindruck aufkommen lassen, dass mich Annes Erzählungen von ihrem der-zeitigen Projekt nicht interessieren. Ihre Arbeit ist ihr heilig.

„Nein, entschuldige, ich bin nur etwas erschlagen. Alles gut, lass uns Kaffeetrinken gehen. Und - danke! Danke, dass du für mich da bist!“

Anne nimmt selten etwas krumm. Zum Glück! Sie drückt mich nochmals, bevor wir ins Auto steigen. Ich erwidere ihre Umarmung und bin wirklich erleichtert, im Moment nicht alleine zu sein.

Welten - das Erwachen

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