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Kapitel 2

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Die Herbstferien der Kinder kommen mit großen Schritten auf uns zu und ich würde – wieder einmal – gerne verreisen Raus aus diesem Alltag und weg von den Verpflichtungen, die mich so belasten. Wieder einmal möchte ich suchen, was ich dann doch nicht finden kann, weil ich nicht weiß, wonach ich eigentlich suche. Also erwähne ich im abendlichen Kurzgespräch mit Phil die Urlaubsplanung, in der Hoffnung, dass er mir zumindest so lange zuhört, bis wir ein passendes Urlaubsziel gefunden haben. Vermutlich wird es wieder mir überlassen bleiben, wo wir hinfahren. Ich bin sehr wählerisch, habe oft Kritik an Urlaubsorten, den Unterkünften und an der Art der Anreise, deshalb überlässt Phil mir normalerweise die Auswahl. Aber seine Zustimmung möchte ich trotzdem gerne haben.

Pünktlich um acht schneit Phil zur Tür herein. Er hängt sein Jackett fein säuberlich im Flur auf den Butler und betritt die Küche. Ohne hinzusehen kann ich jedes Geräusch seinen vertrauten Bewegungen und Hand-griffen zuordnen, könnte die Sätze, die jetzt folgen werden, mit hundertprozentiger Sicherheit voraus-sagen.

„Hallo, Schatz!“

Und los geht’s! Ein kurzer Schmatz auf die Wange, väterlich, so als würde er seine Kinder begrüßen. Ein kurzes „Was gibt’s?“, nachdem er seinen Blick über den Herd schweifen ließ, auf der Suche nach dem übrig gebliebenen Mittagessen. Immerhin schätzt Phil meine Kochkünste. Natürlich ist noch etwas übrig, weil die Kinder „keinen Hungerhaben und den lieber mit irgendeinem Fast Food stillen. Das ist cooler!

Etwas zu kochen, das allen schmeckt und bekommt, ist

in meiner Familie eine logistische Meisterleistung, kombiniert mit einer seherischen Gabe. Phil muss auf Cholesterin und Fett achten. Er ist nicht übergewichtig, aber der Stress in seiner Arbeit hat ihm in der Vergangenheit bereits ein Vorhofflimmern beschert. Er sollte sich mehr bewegen, aber das schafft er zeitlich nicht. Zumindest achtet er auf sein Essen, sein Abendbierchen lässt er sich aber nicht nehmen. Am Wochenende setzen wir uns ab und an aufs Fahrrad oder Phil begleitet mich bei einer Runde mit dem Hund. Für alles darüber hinaus ist er zu erschöpft. Er hat schon lange keine geregelten Arbeitszeiten mehr. Häufig arbeitet er mehr als 50 Stunden in der Woche und nimmt sich, wenn es nicht reicht, Arbeit mit nach Hause, um am Wochenende „mal drüber zu schauen. Das bedeutet, dass er sich stundenlang in seinem Büro verschanzt und nur zu den Mahlzeiten auftaucht.

Raphael hätte gern nur Fleisch auf seinem Teller und dann bitte Filet oder Rindersteak. Burger, Pizza, Pommes oder Chips isst er zur Not auch. Gemüse taugt seines Erachtens nur zur Dekoration. Von Cola und Spezi konnte ich ihn abbringen, wenigstens zu Hause – ich habe einfach keines mehr gekauft. Er hat Übergewicht, was ihm angeblich egal ist. Wie es in ihm drinnen aussieht, kann ich nur ahnen. Seine Aggressionen lassen aber darauf schließen, dass er überhaupt nicht mit sich zurechtkommt. Helfen lassen möchte er sich aber auch nicht. Und schon gar nicht von mir.

Sina dagegen ist eine militante Veganerin und würde am liebsten mit uns Fleischessern nicht einmal am gleichen Tisch sitzen. Zwinge ich sie dazu, führt dies unweigerlich zu einem flammenden, hochemotionalen Vortrag über Massentierhaltung und Tierquälerei, unterstützt durch die Vorführung grausamer Handyvideos. Sie hat sich von ihrem Taschengeld ein privates Pfannen- und Topfset für die Zubereitung ihrer Speisen gekauft, damit diese auf keinen Fall mit unseren „Sündenpfuhl-Lebensmitteln“ in Berührung kommen. Die Töpfe trägt sie nach dem Abwaschen in ihr Zimmer – zur Sicherheit. Dort lagern auch ihr Privatbesteck- und -geschirr sowie vegane Aufstriche. Sogar einen privaten Kühlschrank musste Phil ihr kaufen. Ein „Bitte, bitte, bitte! Daaaad!“ genügte, damit mein Mann mit ihr zum Elektrogroßhandel fuhr.

Sinas konsequenter Veganismus ist natürlich für Raphael das sprichwörtliche „gefundene Fressen“, wenn es darum geht, einen Streit mit der großen Schwester zu provozieren. Raphael reizt Sina bis aufs Messer, im wahrsten Sinne des Wortes. Er verwendet ihr Geschirr bevorzugt für seine Wurstbrote, die er dann vor ihren Augen dekorativ zerkleinert. Sinas darauffolgendes Geschrei ist seine Belohnung für die böse Tat. Ich kann Sina verstehen: Raphael ist einfach ein Meister der Provokation.

Na ja, und ich versuche seit der letzten Geburt mein Gewicht zu reduzieren.

Die Kombination der diversen Zubereitungsvarianten ist daher eine echte Herausforderung. Ich mache mir Gedanken über Kalorien, die Wünsche meiner Familie und achte penibel auf die Vorgaben von Sinas Topf- und Kochwahnsinn. Außerdem koche ich jeden Tag frisch, wenn ich von der Arbeit und dem anschließenden Einkaufen nach Hause komme. Meine beste Freundin Anne rät mir schon lange, ich solle mit „diesem Theater“ aufhören. Ich hoffe aber immer noch inständig, dass ich so meine Lieben alle wieder an einen Tisch bekomme oder wenigstens einmal am Wochenende zu einer gemeinsamen Mahlzeit. Ist es nicht meine Aufgabe als Hausfrau und Mutter zu kochen? Meine Schwiegermutter sieht das auf jeden Fall so. Sie erweckt ohnehin den Anschein, in allem perfekt zu sein, und teilt mir ihre Anschauung auch immer wieder gerne mit.

„Schau, was aus meinen beiden Söhnen geworden ist! Phil ist bei Audi unentbehrlich und über sein Gehalt kannst du dich nicht beschweren!“

Nein, kann ich tatsächlich nicht. Aber was nützt es uns,

wenn wir keine Zeit haben, in der wir das Geld miteinander ausgeben können und Phil permanent seine Gesundheit gefährdet? Diese Argumentation interessiert meine Schwiegermutter nicht, obwohl sie das sollte. Er ist schließlich ihr Sohn! Die Sorgen um Phil trage ich ganz alleine. Ich wüsste nicht, was ich mit meinem Leben anfangen sollte, wäre er nicht mehr da. Ich „schmeiße“ zwar unsere Familie, aber er gibt mir dafür den Halt und das Vertrauen.

„Und Thomas ist Richter am Oberlandesgericht in München.“

Das betont meine Schwiegermutter dann immer so, als wäre ich zu blöd, das Wort Oberlandesgericht zu verstehen, oder wüsste nicht, wie bedeutend die Landeshauptstadt Bayerns ist. Diese Sätze höre ich seit 18 Jahren, ab dem Zeitpunkt, an dem ich das erste Mal Phils Mutter getroffen habe.

„Ich bin Frau Wittmann, Therese Wittmann. Da wir uns nun häufiger sehen werden, darfst du mich Therese nennen!“

Diesen Satz habe ich, mit all den Betonungen und Pausen, immer noch im Ohr. Von oben herab, arrogant und selbstverliebt.

Ich bin damals noch in meiner Ausbildung zur Bank-kauffrau gewesen. Für alle coolen Ausbildungsplätze war mein Notendurchschnitt von 2,3 schlicht und ergreifend zu schlecht. Therese musterte mich von oben bis unten und fragte mich nach all meinen Vorlieben und Hobbys, Haushalts- und Kochkünsten aus. Wie ich Wäsche wasche, wie ich bügle, welche Gerichte ich zubereiten kann. Es hätte mir auffallen müssen, in welche Familie ich da einheirate. Aber ich war jung, verliebt und trug immer die Worte meines Vaters spazieren: „Dein Mann muss erst noch gebacken werden.“ Mein Vater war der Ansicht, dass meine Ansprüche an meinen Zukünftigen viel zu hoch wären. Er kam aus der Nachkriegszeit, vertrat das damals typische Frauenrollenbild. Ich dagegen war ein Kind der BRAVO-Generation, mit ständig neuer Schwär-merei für ein Boy-Band-Mitglied. Die Träume für mein Leben setzten sich zusammen aus Karriere machen, aufregende Orte erleben, ein schickes Auto besitzen und emanzipiert durchs Leben schreiten. Dann traf ich im Leichtathletik-Verein auf Phil, den Mädchen-schwarm: groß, sportlich, schlank, muskulös. Phil war dort der Lokalmatador und das Ziel der Begierde aller nicht vergebenen Frauen unter 25, wahrscheinlich auch darüber. Alleine sein Name war für damalige Verhält-nisse ausgefallen. Kein Mensch sonst hieß Phil. Schließlich war das englisch und daher exotisch. Dieser Name war die Idee seines Vaters gewesen, der lange in England gelebt hatte. Er wollte seinem Kind mit diesem Namen etwas Besonderes mitgeben.

Phil war von sich selbst und seinen Erfolgen bei der Weiblichkeit eingenommen und ignorierte mich völlig. Es war aber auch nicht schwer, mich zu übersehen. Ich war klein und „zaundürr“, hatte daher keinerlei Attribute der Weiblichkeit zu bieten. Außerdem trug ich einen faden Haarschnitt, eine nichtssagende, fahlgraue Haarfarbe, und machte eine Ausbildung im langweiligsten Beruf, den man sich, meiner damaligen Meinung nach, vorstellen kann. Außerdem scheiterte ich meist schon an einem vernünftigen Bewerbungs-bild. Ich sah einfach langweilig aus. Hatte ich es einmal bis zu einem Vorstellungsgespräch geschafft, bekam ich meinen Mund nicht auf. Nein, selbstbewusst war ich noch nie und Sprüche meines Vaters, wie „Frauen gehören an den Herd“ förderten mein Selbst-bewusstsein auch nicht gerade.

Meine Mutter hingegen hatte immer für eine ordentliche Ausbildung plädiert. Sie war aber auch eine andere Generation, 21 Jahre jünger als mein Vater. Meine Mutter ist mir auch heute noch eine große Stütze. Als mein Vater 2002 an Lungenkrebs gestorben ist, war meine Mutter gerade einmal 45. Mein Vater hat mir durch seine guten Beziehungen als Vorstand einer Bank zu einem Praktikum in meiner jetzigen Arbeitsstelle verholfen, wo ich nach meiner Ausbildung auch geblieben bin.

Meine Mutter muss nicht arbeiten, da sie finanziell

gut abgesichert ist. Nach dem Tod ihres Mannes ist sie sehr selbstbewusst geworden, unternehmungslustig und sozial stark engagiert. Es kommt mir so vor, als ob sie sich noch einmal neu erfunden hat. „Noch ein Mann kommt mir nicht ins Haus“ ist ihre Devise. Meine Mutter ist liebevoll, hat Humor, kann Situationen sehr schnell richtig einschätzen, findet immer die passenden Worte und weiß, wann ich eine Umarmung bitter nötig habe. Sie ist mein großes Vorbild. Sie holt mich auch immer wieder aus meinem Trott und Frust. Wir gehen dann ins Café, zusammen einkaufen oder machen kurze Ausflüge. Ohne meine Mutter würde ich im Alltag ertrinken. Auch die Kinder lieben ihre Oma, weil sie immer ein offenes Ohr für sie hat.

Meine Mama sagt mir immer wieder, dass ich eines Tages meinen Weg finden werde, und macht mir damit Mut.

Oh Mama, danke für diese Worte. Du weißt gar nicht, wie gut sie mir tun. Realistisch betrachtet sieht es nicht ganz so rosig aus. Ich bin mittlerweile 35, die Jugendträume sind ausgeträumt, und ich kann außer dem Weg in die Waschküche und zum Supermarkt nichts erkennen, was die Bezeichnung mein Weg verdient hätte.

Als junges Mädchen war ich also weder schön noch sportlich oder besonders gut in der Schule, unterer Durchschnitt, nach meiner eigenen Beurteilung. Dass man sich, besonders als weiblicher Teenager, selbst aburteilt, gehört wohl mit zum Erwachsenwerden. Nur bei mir ist das miese Selbstbewusstsein erhalten geblieben.

Rückblickend wundere ich mich deshalb über mein erstes Zusammentreffen mit Phil. Das war auf der Kartbahn, auf der ein Sechs-Stunden-Rennen veranstaltet wurde, mit einer parallel stattfindenden großen Party. Da pro Gruppe immer eine Frau und zwei Männer fahren mussten und meine Freundin sich hartnäckig weigerte, saß ich ein paar Minuten später zum ersten Mal in einem Kart. Ich fuhr und anscheinend machte ich meine Sache gut, vor allem immer besser. Meine Teammitglieder feuerten mich an. Ich fand Gefallen am Kartfahren, fuhr über drei Stunden und verschaffte unserem Team einen riesigen Vorsprung. Wir wurden Zweiter.

Mein erster Pokal! Das erste Mal Respekt und Anerkennung von einer größeren Menge Menschen. Plötzlich nahmen mich die Jungs wahr, weil ich ja so cool gefahren war.

Phils Team wurde nur Dritter. Er sprach mich zum ersten Mal an, obwohl wir im gleichen Leichtathletik-Verein waren, gratulierte mir förmlich und fragte nach meinem Namen. Das war mein erster Schritt aus dem Schatten meines Vaters. Phil lud mich an diesem Abend auf eine Cola ein, fuhr mich nach Hause und ab da waren wir unzertrennlich.

„Ich wusste gar nicht, wie liebenswert und intelligent du bist!“, waren seine Worte am Abend meines Rennerfolgs. Was darauf hindeutete, dass er mich sehr wohl wahrgenommen hatte, ich aber nicht in sein „Beuteschema“ gepasst hatte. Aber: Was für ein Satz von so einem Typen! Ich war sofort hin und weg.

An diesem Abend kam es zum ersten Kuss.

Wie ein Tag das ganze Leben verändern konnte!

Ich färbte mir die Haare strahlend blond, begann mich zu schminken, achtete auf meine Kleiderwahl und wurde zu einem hübschen, jungen Mädchen.

Durch Erfolge in der Ausbildung entwickelte ich ein bisschen mehr Selbstbewusstsein und fühlte mich zum ersten Mal wertgeschätzt. Für seine Unterstützung bei dieser Entwicklung bin ich Phil unendlich dankbar. Aber mein Selbstbewusstsein war immer an Phil gekoppelt. War er nicht da, fiel ich immer wieder in meine alten Selbstzweifel zurück. Immer, wenn ich unsere Ehe überdenke, erinnere ich mich an dieses Erlebnis. Unser Alltag hat wohl unsere Zuneigung ermüden lassen, trotzdem schätze und liebe ich meinen Mann.

Phil legt sich den Nudelauflauf auf einem Teller zurecht und packt ihn in die Mikrowelle. Während der Teller summend rotiert, versuche ich herauszufinden, wie Phils Stimmung ist. Ich merke, er würde jetzt liebend gerne schweigend in die Zeitung gucken, aber dann sieht er zu mir in die Ecke der Küche, in der ich gewöhnlich stehe, wenn ich mit ihm reden will und nicht weiß, wie ich anfangen soll.

„Was ist los? Du sagst nichts. Dann möchtest du doch etwas?“

Wie gut Phil mich kennt! Seine Stimmung scheint auch in Ordnung zu sein. Also hole ich tief Luft und...

„Mooom! Ich geh noch mal schnell zu Tess! Oh, hi Dad!“ Sina hält sich am Türrahmen fest und lehnt sich in die Küche. Da sie supercool ist, heißen wir nur noch Mom und Dad.

„So spät noch?“, fragt Phil genervt. Man merkt ihm an, dass ihm eine weitere Verzögerung auf dem Weg zu seinem Fernsehsessel gar nicht passt. „Und die Hausaufgaben?“, schiebt er pflichtbewusst hinterher. „Gemacht, und bevor du fragst, ich hab auch gelernt. Ciao.“ Und weg ist sie.

„Astrid, wieso sagst du denn nichts?“, werde ich nun gefragt.

Was soll ich sagen? Dass Sina zuverlässig ist, in der Schule mitarbeitet, ihre Hausaufgaben macht und spätestens um neun Uhr zu Hause sein wird? Phil starrt mich an. Mit einem scharfen Blick schaut er tief in mich hinein. Dieser Blick macht mir jedes Mal Angst, als wäre es nicht Phil, sondern jemand ganz anderes, der mich ansieht. Und da kommt es wieder in mir hoch: dieses ablehnende Gefühl anderen Menschen gegenüber. Aber warum passiert das auch bei meinem Mann? Wir sind schon so lange zusammen, ich sollte ihn doch nicht ablehnen.

„Also?“, hakt er nach.

Natürlich weiß ich, was er will und versuche alles in einen kurzen Satz zu fassen.

„Wohin sollen wir in den Herbstferien fahren?“, sprudelt es aus mir heraus. Geschafft!

„Ich kann keinen Urlaub nehmen. Wir waren im Sommer schon vier Wochen weg. Weißt du eigentlich, was das alles gekostet hat? Warum willst du immer weg? Bei uns zu Hause ist es doch auch schön!“

Diese Antwort habe ich sowohl befürchtet als auch erwartet. Diese endgültige Absage, die mir jegliche Hoffnung auf eine Flucht aus meinem Alltag nimmt. In fünf Sätzen innerhalb dreier Sekunden ist alles gesagt. Endgültig. Ich starre Phil an. Meine Schultern ziehen sich zusammen, machen mich krumm und klein und in meinem Kopf tobt ein Hämmern. Mir fällt kein Gegen-argument ein. Wie immer, ich stehe wie das kleine Mädchen vor einem strengen Vater. Mein Kopf produ-ziert trotzige Gegenwehr - ich will aber weg, ich will einfach weg - aber die Worte kommen nicht über meine Lippen. „Astrid...“ Phil macht einen Schritt auf mich zu, streckt seine Arme aus und sein Gesichtsausdruck wird weich. „Es geht nicht. Wirklich nicht.“ Ich gehe auf ihn zu und lasse mich umarmen. „Ich weiß, wie wichtig es für dich ist, aber ich kann meine Kollegen nicht im Stich lassen. In der Zeit läuft das Evaluationsprojekt mit dem Mittmann.“ Jetzt brauche ich einen klaren Kopf. Ich will während der Schulferien hier nicht herumsitzen müssen. Sina und Raphael würden bloß bis mittags im Bett und abends ewig unterwegs sein. Die würden mit ihrer Mutter definitiv nichts unternehmen. Meinen Urlaub habe ich in der Bank aber schon lange genehmigen lassen. Ich muss einfach weg! Offensichtlich sind meine Gedanken zu hören oder zumindest liest Phil erfolgreich in meinem Gesicht. „Schatz!“ Oh, diese Anrede! Phil macht eine lange Pause, seufzt tief und bemüht noch einmal seinen liebevollen Blick. „Wenn du so gerne weg möchtest, dann fahr doch mit den Kindern. Ohne mich.“ Alleine, ich? Was mach ich denn schon alleine? Nichts. Seit Raphaels Geburt bin ich zum Hausmütterchen mutiert. Für alles, was über Haushalt und Kinder-betreuung hinausgeht, brauche ich meinen Mann, meine Mutter oder meine beste Freundin Anne. Und nun schlägt Phil mal eben vor, ich solle alleine mit den Kindern wegfahren. So etwas traue ich mich gar nicht. Am Ende soll ich noch fliegen, inklusive Ausweiskontrolle, Check-in, Mietwagen, Fremd-sprache. Das kann ich nicht. Will ich nicht, das ist wohl die zutreffendere Aussage. Bin ich zu bequem, für meinen Wunsch nach einer Urlaubsreise über meinen phlegmatischen Schatten zu springen? Astrid, echt. So weit ist es mit dir schon gekommen?

„Aber ich habe doch keine Ahnung, wohin!“, höre ich mich selbst stammeln.

Phil schaut durch mich hindurch an die Küchenwand, stellt sich wahrscheinlich gerade meine unsichere Art im Umgang mit unbekannten Situationen vor. Und dann schlägt er etwas vor, womit ich niemals gerechnet hätte. „Ein Arbeitskollege war im Sommer im Bayerischen Wald. Ihm hat es gut gefallen dort. Er fand‘s günstig, es ist nicht weit zu fahren und die Pension war recht ordentlich. Und er durfte seinen Hund mitbringen!“

Das „Bing!“ der Mikrowelle unterbricht meine Gedanken.

Mit dem Auto fahren oder mit dem Zug? Bayerischer Wald, ist das nicht nur etwas für ältere Semester? Hund? Leila kann mit! Will ich überhaupt alleine wegfahren? Und Bayerischer Wald ist irgendwie nichts, worüber man hinterher stolz berichten kann. Was tut man da, außer wandern?

Phil nimmt seinen Teller aus der Mikrowelle und stellt ihn auf dem Küchenbuffet ab.

„Ich schreibe schnell meinem Kollegen und frage, wo genau er war.“ Und damit verschwindet mein Mann im Flur und lässt mich in der Küche stehen. Der hat‘s aber eilig. Will er mich etwa loswerden? Ich mag ohne ihn nicht wegfahren. Nach einem kurzen gedank-lichen Ausflug bin ich schon wieder die schüchterne Astrid. Leila erhebt sich von ihrem Lieblingsplatz und kommt zu mir in meine Küchenecke. Sie legt den Kopf auf meinen Oberschenkel und mustert mich. Normalerweise hasst sie Urlaubsplanungen. Ich bin sicher, dass sie uns versteht. Urlaub heißt für sie: ab zu meiner Mutter. Dort geht es ihr zwar nicht schlecht, aber sie vermisst mich. Und ich sie – jedes Mal. Das letzte Mal, dass wir Leila mit in den Urlaub genommen haben, ist vier Jahre her. Wie ich Leila so betrachte, merke ich, dass mir der Gedanke an Urlaub mit Hund zu gefallen beginnt. Vielleicht sollte ich die Kinder einpacken und raus in die Natur. Bayerischer Wald klingt nach viel Wald. Nach frischer Luft. Nach Erholung. Phil kehrt mit seinem Handy in der Hand zurück. „Sie waren in Achslach, östlich von Deggendorf. Nicht weit weg von der A3. Da kommst du leicht mit dem Auto hin. Das schaffst du schon. Ist das nicht eine gute Idee? Du kommst hier raus! Ist das nicht das, was du möchtest?“ Achslach, nie gehört. Leila wedelt, ich streichle un-bewusst über ihren Kopf und Bilder von gemeinsamen Wanderungen inmitten von unberührten Wäldern gehen mir durch den Kopf. Was bin ich eigentlich für eine Mutter? Sollte mir nicht das Bild „Spaziergang mit den Kindern“ durch den Kopf gehen? Doch ich habe jetzt schon die Befürchtung, dass dieser Vorschlag bei meinen Kindern nicht gut ankommen wird. „Also gut!“, sage ich entschlossen. „Ich frage nachher die Kinder und sehe mir die Unterkunft im Internet an.“

Was für ein Aktionismus, super Astrid. So kenne ich mich ja gar nicht. Aber es hat mich eine riesige Überwindung gekostet. Leilas Kopf liegt immer noch auf meinem Oberschenkel, als Phil zufrieden mit seinem Teller in der einem, dem Handy in der anderen Hand Richtung Fernsehsessel entschwindet.

Nachdenklich lasse ich mich im Schneidersitz auf dem Küchenfußboden nieder. Leila nutzt die Gelegenheit und krabbelt auf meinen Schoß. Ihren Körper drückt sie an meinen. Ich versinke in Gedanken an unsere gemeinsamen Unternehmungen und lege meinen Kopf auf ihren. Hoffentlich lebst du noch lange, kleine Maus!

Leila schnauft tief aus, als wolle sie sagen: „Auf mich kannst du dich verlassen. Ich bin für dich da.“

Mir kullern Tränen über meine Wangen. Wie sehr ich diesen Hund brauche! Meine Schwiegermutter behauptet immer, der Hund stinke. Aber das stimmt nicht. Leila riecht nach draußen, nach frischer Luft, nach Unternehmungen, nach Wiese und Wald. Auch wenn sie nass wird, riecht sie nicht unangenehm.

Als Sina zurückkommt, pünktlich wie immer, sitze ich immer noch auf dem Boden. Sie sieht mich verwundert an. „Mama, was machst du denn da unten?“

Rasch schiebe ich Leila von meinem Schoß und richte mich auf, tue so, als müsse ich Schmutz von der Jogginghose wischen.

„Ich habe nur nachgedacht“, sage ich wahrheitsgemäß.

„Und geweint!“

Sina kann ich nichts vormachen. Sie ist sehr sensibel und erkennt Veränderungen in meinem Gesicht sofort.

„Ich habe nur meinen Gedanken nachgehangen. Alles okay!“

So wie ich das betone, klingt es nicht einmal für mich selbst überzeugend. Aber Sina spürt, dass ich nicht darüber sprechen möchte und schiebt ein diplomatisches „Dann gehe ich jetzt lernen“ hinterher. „Gute Nacht, Mom!“ Dann ist sie weg.

Dass Kinder erwachsen und selbstständig werden, ist mir bewusst. Trotzdem habe ich Angst vor dem Zeitpunkt, an dem meine Kinder aus dem Haus gehen. Hauptsächlich vor dem vielen Alleinsein. Obwohl ich es jetzt schon oft bin, sehr allein. Sina ist selbstbewusster als ich, sehr beliebt und eigentlich immer unterwegs. Sie erinnert mich stark an Phil. Was sie anpackt, wird gut. Ein tolles Mädel. Zum Glück muss sie sich nicht mit diesen Selbstzweifeln herumplagen. Mir kommen wieder die Worte von Frau Wagerle in den Sinn: „Sie sind etwas ganz Besonderes.“ Ob die alte Dame jemals Recht behalten wird?

„Los, wir schauen jetzt, wo dieses Achslach liegt!“, sage ich zu Leila, die mich unverwandt anschaut. Sie wedelt und marschiert voraus in Richtung Flur. Kurz vor der Küchentür bleibt sie stehen und sieht mich an, als würde sie fragen: „Kommst du jetzt?“ Ich folge ihr. In unserem Schlafzimmer schnappe ich mir den Laptop, setze mich aufs Bett und gebe „Achslach“ bei Google ein. Auf der Homepage der Gemeinde begrüßt mich

die nett dreinblickende Bürgermeisterin. Herzlich willkommen... und irgendwie klingt das, als meine es die Dame auch wirklich so. Ich klicke mich durch die angegebenen Links und betrachte die Bilder auf dem Download-Flyer. Sieht gut aus! „Unberührte Natur, schau Leila!“ Ich drehe den Laptop so, dass Leila, die sich neben mir ins Bett gelegt hat, auch reinschauen kann und klicke die verschiedenen Unterkünfte an. An einer Pension bleibe ich hängen. Berghof Gstettinger. Ein 200 Jahre altes Bauernhaus in Alleinlage. Das ist es. „Was meinst du, Leila, machen wir da Urlaub?“ Leila gähnt. Das tut sie oft, wenn ich sie direkt anspreche. Offenbar überlässt sie mir die Entscheidung. Ich beginne Gefallen an der Idee zu finden, mal ohne Mann weg-zufahren. Vielleicht bekomme ich so meinen Kopf frei. Möglicherweise wird mir dann bewusst, was ich immer suche und einfach nicht finden kann, weil ich es nicht kenne. Morgen werde ich die Kinder fragen und falls sie nicht mitkommen wollen, fahre ich alleine, beschließe ich trotzig. Überzeugt von meinen Plänen, schlafe ich mit Laptop auf dem Schoß und dem Hund neben mir ein.

Welten - das Erwachen

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