Читать книгу Welten - das Erwachen - Dagmar Dietl - Страница 7

Kapitel 5

Оглавление

Sina und Raphael sind gründlich erleichtert darüber, dass ich sie nicht zwinge, mit mir in den Bayerischen Wald zu fahren. Sina will die Ferienwoche lieber zu Hause mit ihren Mädels verbringen und Raphael hat sowieso zu nichts Lust. Er will in dieser Woche „mal chillen“ – als ob er sonst etwas anderes täte. Phil findet meinen Entschluss, allein mit Anne zu reisen, gut. Er glaubt, ich käme auf andere Gedanken und wäre dann etwas eigenständiger. Und meine Mutter hat sich schnell dazu bereit erklärt, ein Auge auf ihre beiden Enkel zu halten. Sie will während den Ferien bei uns im Gästezimmer einziehen.

Die Zeit bis dahin vergeht eher schleppend mit dem üblichen Alltagsstress. Der Traum von dem Engel hat sich leider nicht wiederholt.

Ich knie vor meinem Koffer, der wie ein weit geöffnetes Maul auf dem Schlafzimmerboden liegt, und überlege, was ich alles mitnehmen muss. Normalerweise packe ich auch für die Kinder und Phil. Sina ist dabei recht selbstständig – sie denkt in der Regel an alles, während Raphael mit seinem Handy, dem Ladekabel, einem externen Akku und einem Deo auf Reisen gehen würde. Das ist tatsächlich das einzige, worin er empfindlich ist. Er hasst Schweißgeruch, seinen eigenen und den von anderen. Immerhin!

Phil hingegen hat nie die Zeit, selbst zu packen. Da er immer bis kurz vor der Abfahrt arbeitet, würde er wahrscheinlich auch die Hälfte vergessen. Er verlässt sich vollkommen auf mich. Auf die Frage, was denn wäre, wenn ich etwas vergessen hätte, antwortet er lakonisch: „Man kann alles nachkaufen. Wir fliegen ja nicht zum Mond.“

Ich bin da anders. Ich habe gerne meine eigenen Sachen dabei. Gewohntes und Vertrautes, ich will nichts ver-gessen. Dieses Mal ist das Packen tatsächlich ganz anders: einfach und unkompliziert. Leila liegt neben mir und beobachtet kritisch jeden meiner Handgriffe. Lange Pullis, Fleece-Jacken, Mütze, Wandersocken, Wanderhose, Jeans, ein paar schönere Oberteile und… und… und… Ganz zum Schluss packe ich Leilas Decke, umhüllt mit einer Plastiktüte, in die Sporttasche. In die Seitentaschen kommen meine Turnschuhe, Wander-schuhe, Waschsachen. Ich merke, wie ich das Packen zelebriere. Ein Teil nach dem anderen wandert in die Tasche, ganz überlegt und bewusst. Ich fahre ohne Kinder und Mann, nur mit meiner besten Freundin in den Urlaub. Ein Wahnsinn! Das mag für viele Leute völlig normal sein, für mich ist es das nicht. Die Familie geht normalerweise vor, ich stelle meine eigenen Wünsche zurück und achte auf die anderen. Doch auf einmal ist es für mich nicht nur kein Problem, sondern sogar ein Vergnügen, nur für mich zu packen. Keine Ahnung, was mit mir los ist. Ich habe nicht mal einen Funken eines schlechten Gewissens. Aus der Tüte von unserem Buchladen fingere ich den Wanderführer „Mittlerer Bayerischer Wald“, den ich mir gekauft habe. Ganz altmodisch, mit Wanderkarten. Raphael hat mich deshalb gestern ausgelacht: Dafür gäbe es ja wohl inzwischen Apps und wie „oldschool“ ich eigentlich sei. Ich mag aber den Geruch von neuen Büchern. Sie anzufassen, aufzuklappen, das Rascheln der Seiten, einfach alles. Während ich in dem Buch blättere, überkommt mich ein Gefühl des Heimkommens. Dabei war ich doch noch nie im Bayerischen Wald. Wieso habe ich solche Gefühle für eine Gegend, die ich gar nicht kenne und auf die ich nur durch Zufall gestoßen bin? Goldsteig – das Wort habe ich schon einmal gehört, dachte aber, dabei handele es sich um Molkerei-produkte. Es gibt aber einen Fernwanderweg mit diesem Namen. Das ist genau meins: Ab in die Ferne! Nur meine Fitness lässt zu wünschen übrig. Dabei muss ich lachen. Ich greife wieder in die Tüte, falte vorsichtig die Karte „Oberes Teisnachtal“ auf und fahre mit dem Finger über die Wanderwege rund um Achslach. Plötzlich bleibt mein Finger an einem Punkt kleben. Ich lese: „Regensburger Stein.“

Meine Augenlider werden schwer und ich bin urplötzlich sterbensmüde. Ich schließe die Augen und sehe sofort einen wunderschönen Ort, wie auf einer inneren Leinwand. Ein großer Felsen ragt in die Höhe, geprägt von der beruhigenden Stille der Natur, mit Blick auf eine weite Landschaft. Ich erkenne die Donau, die sich durch dieses innere Bild schlängelt und fühle mich willkommen. Langsam nähere ich mich dem Felsen und klettere ihn hinauf. Merkwürdigerweise fühlt sich das Gestein warm an. Ich sehe über die sanft hügelige Donaulandschaft bis zu den Alpen. Unbändige Energie und Lebensfreude durchströmen mich. Es riecht nach feuchtem Herbstlaub, die Äste der Bäume bewegen sich sanft im milden Wind. Eine vorwitzige Haarsträhne tanzt vor meinen Augen hin und her. Ich sehe an mir herab und stelle fest, dass ich ein rotes, bodenlanges Kleid trage. Es leuchtet in der Sonne und wird vom Wind bewegt.

Zwischen dem Rascheln der Blätter erklingt ein leises Kichern. Ich suche nach der Ursache des Geräuschs und sehe am Boden sieben winzige, leuchtende Wesen. Junge Mädchen. Sie sehen freundlich zu mir auf und halten ihre Hände vor die Münder, um ein Kichern zu unterdrücken. Ihre Kleider erstrahlen in den schönsten Farben, von Blau über Rot, Gelb, Grün, Rosa und Lila bis hin zu Gold. Sie sind nicht größer als 20 Zentimeter – das kann ich beim Vergleich mit der Vegetation der Umgebung erkennen – wirken aber viel größer auf mich. Ihr kindliches Strahlen berührt mich, fängt mein Herz ein und bettet es weich – ihre Gesichter sind rein, reiner als die von Säuglingen. Ich setze mich neben sie auf den Felsen und drehe meine Handflächen in Richtung meines steinernen Sitzplatzes. Sofort entstehen hellgoldene Lichtstrahlen zwischen dem Felsen und meinen Handflächen. Die kleinen Wesen tanzen in diesem Licht. Sie nehmen ihre Hände nach oben, als wollten sie noch mehr Licht in sich aufnehmen und darin duschen. Nach einer Weile lege ich meine Hände gefaltet in meinen Schoß. Das Licht verschwindet augenblicklich, die kleinen Mädchen hören auf zu tanzen. Die größte von ihnen, die das goldene Kleidchen trägt, legt ihre winzige Hand auf meinen Oberschenkel und flüstert: „Danke, Oriana.“

Ich höre mich antworten: „Bitteschön.“

„Gut, dass du uns endlich wieder besuchen kommst. Wir haben gedacht, du hättest die Steinelfen vergessen“, sagt die Größte und ihre Stimme klingt wie winzige Glocken.

„Manches dauert seine Zeit“, sage ich, „aber jetzt begebe ich mich auf meine alten Wege, um Neues zu entdecken.“

„Wir brauchen dich hier, Oriana!“, sagt die Elfe. Dabei streicht sie sanft über meine Hand. Es fühlt sich an, als kitzle mich eine Fliege.

Leilas fiependes Gähnen holt mich zurück in unser Schlafzimmer. Mein Finger liegt noch immer auf diesem Punkt in der Wanderkarte. Er fühlt sich ganz heiß an. Was war das denn schon wieder? Ein Traum? Doch ein schöner Traum! Aber Elfen?

Ich bin überhaupt kein Fantasy-Fan. Ich bin eine knallharte Realistin, lebe im Hier und Jetzt und nur dort. Oder etwa nicht? Woher kommen auf einmal solche Träume? Ich bin doch kein Kleinkind! Anne würde sagen, wer tagträumt, ist urlaubsreif. Da gebe ich ihr Recht. Meine Beine kribbeln – wie lange ich wohl hier gesessen habe? Wieder waren diese Traumbilder äußerst real! Ich mache mit meinem Handy eine Notiz von dem Namen des Felsens, Regensburger Stein.

Wenn Anne und ich in Achslach sind, möchte ich diesen Ort besuchen. Besonders würde mich interessieren, ob es dort tatsächlich so aussieht, wie ich es gesehen habe. Doch was, wenn ja? Ich glaube, dann würde ich ziemlich erschrecken. Aber, das kann nicht sein!, beruhige ich mich selbst.

Verzweifelt versuche ich, das taube, kribbelnde Gefühl aus meinen Beinen herauszuschütteln, indem ich

einen eigenartigen Schmerztanz aufführte. Raphael, der gerade auf dem Weg zur Toilette an der offenen Schlafzimmertür vorbeigeht, fragt: „Alles okay, Mum? Sieht etwas unchillig aus!“

„Ja, ja, alles okay. Nur meine Beine…“ Dabei deute ich auf die Stelle, die kribbelt.

Raphael geht, den Blick wieder auf den Handy-bildschirm getackert, weiter in Richtung Toilette. Ein Wunder, dass er mich überhaupt gesehen hat. Ich setze mich hin und versuche das unangenehme Gefühl wegzuatmen. Es kribbelt und sticht weiter. Erst als ich mehrfach über meine Beine streiche und sage „Hört auf zu kribbeln, hört auf, aufhören!“, ist der Zauber schlagartig zu Ende. Merkwürdig, aber sicher Zufall, ein angenehmer Zufall. Dabei erwische ich mich bei dem Gedanken, wie phantastisch es wäre, eine solche Art der Schmerzlinderung zu beherrschen.

Dann beschließe ich, niemandem, auch nicht Anne, von diesen Träumen zu erzählen, nicht von den Elfen, auch nicht von dem so realen Traum mit dem Engel und der darauffolgenden Begegnung mit dem Engel im Park. Anne würde denken, ich spinne. Außerdem sind das Kindereien – als Nächstes träume ich dann von fliegen-den Einhörnern und feuerspeienden Drachen. Bei dem Gedanken muss ich laut lachen.

Raphael kommt von der Toilette zurück.

„Mama, du wirst immer seltsamer!“, stellt er fest und verschwindet wieder in seinem Zimmer.

Ja, auf einen Nicht-Eingeweihten müssen mein Indianertanz und mein irres Gekicher von eben wohl befremdlich wirken. Ich habe vermutlich Reisefieber.

Was mich aber wundert, ist, dass nach ein paar Wochen

Ruhe jetzt wieder so ein Traum aufgetreten ist. In meinem Alltag ist nichts Aufregendes vorgefallen, was eine solche durchgeknallte Reaktion erklären würde.

„Ich bin normal“, erkläre ich mir selbst, gleich ein paar Mal, damit es durch die Wiederholung wahrer wird. Träume arbeiten doch bekanntlich Erlebtes auf – so liest man zumindest. Auf einmal kommt mir Frau Wagerles Satz zu Beginn des Monats in den Sinn, als sie bei mir in der Bank ihre Rente abgeholt hat.

„Kindchen“, hat sie gesagt und mir dabei ihre Hand auf den Arm gelegt, „nun bist du bereit.“

Das ist komisch gewesen. Bereit? Wofür? Für Tagträume oder für Kindereien wie Elfen und andere Fantasiewesen? Andererseits: Frau Wagerle ist alt, da darf man mal komische Sachen sagen. Als ich nachgefragt habe, hat sie nur gesagt: „Das wirst du merken.“ Normalerweise siezt mich Frau Wagerle, aber bei diesen Sätzen hat sie mich geduzt. Und es kam mir auch nicht so vor, als ob Frau Wagerle selbst gesprochen hätte, sondern es klang, als käme eine fremde Stimme ganz tief aus ihrem Innersten. Vor allem wie sie es gesagt hat, klang außergewöhnlich feierlich, als hätte sie etwas Heiliges verkündet. Das habe ich an diesem Tag gar nicht richtig wahrgenommen, aber jetzt, nach diesem Traum, wird mir bewusst, dass diese Stimme und die merkwürdige Betonung ihren Worten Bedeutung verliehen haben.

Ich habe in den folgenden Wochen versucht, alles, die Träume, die Erscheinung und Frau Wagerles Verhalten, zu ignorieren. Mein Alltag ist ohne Engel, Elfen und fremde Stimmen wirklich leichter zu bewältigen! Vor allem verschlafe ich nicht. Anne zieht mich noch immer mit meinem damaligen Anblick auf. Das Wort „Schreckgespenst“ ist auch schon gefallen.

Morgen Vormittag wollen wir los, haben zwei Stunden Fahrt eingeplant, auch weil Anne auf dem Weg noch Verwandtschaft besuchen und dort zum Mittagessen bleiben will. Ich dagegen fiebere unserem Ziel entgegen und der erzwungene Stopp passt mir gar nicht in den Kram, aber Anne zuliebe willige ich ein. Ihre Tante, so erzählt Anne, sei etwas ganz Besonderes. Ein bisschen durchgedreht, aber sonst eine ganz Liebe. Und mit „durchgedreht“ kann ich zurzeit gut umgehen.

Es klingelt an der Haustür, und an Leilas Reaktion erkenne ich, dass es meine Mutter sein muss. Ich freue mich, dass sie schon einen Tag vor meiner Abfahrt kommt. So haben wir noch einen Abend, um beisammen zu sein und zu reden.

„Hallo, Mama!“

Wir umarmen uns fest und herzlich, länger als andere Leute. In den Armen meiner Mutter fühle ich mich von jeher warm und behütet. Bei ihr kann ich mich fallen lassen.

„Magst du mir deinen Koffer geben? Dann trage ich alles schon mal hoch ins Gästezimmer!“ Ich strecke meine Arme nach ihrem Gepäck aus. Meine Mutter drückt den Koffer energisch an sich und schüttelt den Kopf.

„Nein, so alt bin ich jetzt auch noch nicht.“ Voller Stolz schleppt sie ihr umfangreiches Gepäck selbst in den Flur.

Ich lasse sie gewähren. Wenn Mama sich etwas in den Kopf gesetzt hat, dann ist ohnehin jeder Widerspruch zwecklos. Hinter mir steht Leila und wedelt wie eine Verrückte. Auch sie liebt meine Mutter.

Die stellt ihre Tasche ab und hockt sich als Erstes neben Leila, um sie ausgiebig zu begrüßen.

„Na, Leila, hast du gut auf mein Kind aufgepasst?“

Leila schmatzt und gähnt, als sage sie „Ja, natürlich“. „Schön, dass du da bist“, durchbreche ich die innige Unterhaltung der beiden. „Möchtest du etwas trinken?“

Mama nickt und folgt mir in die Küche.

„Kaffee?“

Warum frage ich? Mamas einziges Laster ist der Kaffee, davon viel und schwarz. Sie braucht keinen Alkohol,

kein Fleisch, keine Süßigkeiten und schon gar keine Zigaretten. Mein Vater hat geraucht wie ein Schlot, wahrscheinlich kann sie den Geruch deshalb nicht leiden. „Das vergiftet mich“ ist ihre Meinung, und „Dein Vater hat für uns zwei geraucht“.

Mama ist mein Vorbild. Sie ist selten gestresst und wenn, dann merkt man es kaum. Sie ist klug, weiß fast immer Rat, und wenn sie keinen hat, dann sagt sie das offen. Sie sieht für ihr Alter fantastisch aus, ist schlank und sehr sportlich. Jeden Tag geht sie mit „ihren Damen“ zum Walking – Nordic Walking ist nach neuesten Erkenntnissen nicht gut für Schultergürtel und Rücken, daher nur Walking. Am Wochenende fährt sie gerne weiter weg zum Wandern. Und in der Nähe unseres geplanten Urlaubsortes war sie natürlich auch schon.

Während ich über sie nachdenke, schaue ich meine Mutter liebevoll an und wünsche mir, sie noch ganz lange an meiner Seite zu haben.

„Hallo, Oma!“ Raphael kommt gerade von seinen Freunden zurück und umarmt seine Großmutter. Das tut er sonst bei niemandem.

„Hallo, mein Großer!“ Meine Mama streicht ihm über den Kopf. Täte ich das, würde diese unschuldige Tat der Mutterliebe einen gehörigen Wutausbruch nach sich ziehen. Raphael steht stundenlang vor dem Spiegel, um sich zu stylen. Jedes Haar hat seinen Platz. Da darf natürlich niemand seine Frisur anfassen.

Außer - offenbar - die Oma.

„Wie war’s denn bei deinen Freunden?“

Meine Mama berührt selten heikle Teenager-Themen, und wenn, dann immer mit Humor. Sie weiß auch genau, welcher Tonfall nötig ist, um eine Antwort zu bekommen.

„Cool war’s!“

Normalerweise wäre das Gespräch spätestens hier beendet und Raphael würde sich in sein Zimmer ver-ziehen. Stattdessen schwingt er seinen Hintern auf die Küchenarbeitsplatte, schaukelt mit seinen Beinen und zeigt sich auskunftsbereit. „Wir haben gezockt und gechilled und dann noch Pizza gegessen! Morgen wollen wir in die City. Kannst du uns fahren?“

Meine Mutter nickt und lächelt.

„Das ist ja schön. Natürlich fahre ich euch.“

„Cool, du bist so mega, Oma!“ Raphael springt von der Arbeitsplatte, verpasst seiner Oma noch einen Schmatz auf die Backe, macht beim Hinausgehen irgendeine coole Handbewegung, deren Aussage sich mir nicht erschließt, und zieht von dannen.

„So ein netter Junge!“, sagt meine Mama.

Ich lächle verlegen. In den letzten Wochen habe ich kaum mehr als fünf Worte pro Gespräch mit ihm gewechselt. Aber ich bin froh, zu sehen, dass mein Sohn ein solch löbliches Verhalten an den Tag legen kann und bin beruhigt. Den Kindern wird es in den kommenden Tagen an nichts fehlen, meiner Mutter auch nicht, und ich muss kein schlechtes Gewissen haben.

Phil kommt früher als sonst nach Hause. Nach seiner gewohnten Flurroutine steckt er den Kopf in die Küche. „Ah, meine große Unterstützung für die nächsten Tage ist schon da! Schön, dass du kommen konntest, Sophie. Du tust Astrid einen großen Gefallen! Oder nicht, Astrid?“ Während er spricht, schaut er mich an und drückt dabei meine Mutter herzlich. Die beiden kommen zum Glück gut miteinander aus. Aber meine Mutter kommt eigentlich mit jedem gut klar. Ihr Motto ist „Leben und leben lassen“, daher ist sie unglaublich tolerant, vor allem auch hilfsbereit. Ob Gemeinde, Chor, Caritas oder Schulweghelfer - meine Mama ist für andere da. Sie hätte gern mehr Kinder als nur mich gehabt, aber ein Gebärmutterkrebs hat diese Pläne zunichte gemacht. Anstatt diesen verpassten Lebensereignissen nachzutrauern, sagt sie lapidar: „Der Herrgott wollte es so. Ich habe eine gesunde Tochter. Ich lebe. Dafür bin ich dankbar.“

Meine Mutter kann sich auch an den kleinen Dingen erfreuen, die anderen selbstverständlich erscheinen oder die sie gar nicht wahrnehmen. Sie ärgert nichts. Kein Stau, keine schlecht gelaunten Menschen, kein Warten - einfach nichts. Sie schöpft Kraft aus den kleinen Alltagsdingen um sie herum. Sie ist ungeheuer beliebt. Interessant finde ich, dass sie, im Gegensatz zu mir, niemals ausgenutzt wird. Als würde sich das niemand trauen. Ich dagegen schreie immer „hier“, wenn es ums Ausgenutztwerden geht.

Phil hat sich mittlerweile mit seinem Feierabendbier in das Arbeitszimmer zurückgezogen. Eigentlich habe ich ihn fragen wollen, wieso er so früh nach Hause ge-kommen ist. Aber die Aussicht auf endlose, unverständliche Ausführungen seines Arbeitsalltags von ihm oder der Tadel meiner Mutter, dass ich mich gefälligst freuen solle, wenn der Mann schon mal früher nach Hause käme, lassen die Frage in meinem Hals vertrocknen. Stattdessen erläutere ich meiner Mama die Termine der Kinder für die nächsten sieben Tage, welche ich fein säuberlich aufgelistet und, durch Notfall-Telefonnummern und Krankenkassenkarten ergänzt, in eine Klarsichtfolie gepackt und an den Kühlschrank gehängt habe.

Meine Mama legt den Arm um mich: „Astrid, ich mach’ das schon. Und deine Familie ist so hilfsbereit, das klappt ohne Probleme!“

Ein weiterer Pluspunkt meiner Mutter: Ohne Diskussion oder gar Betteln bringt sie jeden dazu, ihr Hilfe anzubieten. Meist reicht dafür ein ernster Blick und die entsprechende Person weiß Bescheid. Wenn ich etwas von jemanden will, braucht es tausend Worte und unzählige Diskussionen. Ich bin wirklich froh, solch eine tolle Mutter zu haben. Was höre ich ständig für Geschichten von anderen Müttern. Alleine schon meine Schwiegermutter im Vergleich dazu! Gemein finde ich nur, dass ich von den Fähigkeiten meiner Mama nichts geerbt habe …

„Wann wollt ihr denn morgen los?“, möchte meine Mutter wissen.

„Wir werden gegen neun Uhr fahren und dann noch Annes Tante in Straubing besuchen.“

Meine Mutter nickt. „Gut, dann packst du jetzt deine Sachen und ich koche Abendessen. Morgen früh mache ich dir noch Frühstück“, sagt sie und schiebt mich aus der Küche - Widerspruch zwecklos.

Ich marschiere weisungsgemäß in unser Schlafzimmer und setze mich auf das Bett. Leila leistet meiner Mutter in der Küche Gesellschaft. Komisch, sonst folgt sie mir auf Schritt und Tritt. Aber sie weiß sicher auch, was für eine Gute meine Mutter ist.

Ich lasse mich rückwärts in die Kissen sinken und schließe die Augen. Das wird ein toller Urlaub werden!

Welten - das Erwachen

Подняться наверх