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Verluste

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Bald nach der Scheidung, offenbar als Belohnung dafür, dass ich – auch hier, aber diesmal Gott sei Dank, mit verbissener Konsequenz – jeglichen Rosenkrieg vermied und mich ausschließlich um mein Kind und »meine Geschäfte« kümmerte, gelang es mir, neben diesen beruflichen Erfolgen auch mein seelisches Gleichgewicht wiederzugewinnen.

Mit fünfunddreißig Jahren bekam ich ein Buch in die Hände, das mein Leben für immer verändern sollte, »Wenn Frauen zu sehr lieben. Die heimliche Sucht, gebraucht zu werden« von Robin Norwood. Ich würde dieses Buch als Pflichtfach in den Schulen einführen, denn Frauen, die zu viel lieben und ihr Leben für egoistische, unreife Männer opfern, gibt es beängstigend viele. Kurz nach dieser Lektüre, die ich buchstäblich mit Haut und Haaren verinnerlichte, lernte ich meinen jetzigen Mann kennen. Besser gesagt, ich registrierte ihn endlich, denn ich kannte ihn schon von früher. Er war allerdings zu »normal«, um mir überhaupt aufzufallen. Nett, verlässlich, verantwortungsvoll, treu – alles Eigenschaften, die ich früher als fad und uninteressant empfand. Eine Partnerschaft in Vertrauen und Entspannung? Eine völlig neue Erfahrung für mich, die ich heute bereits fünfzehn Jahre lang genießen darf.

Nicht einmal ein Jahr nach der Scheidung war ich wieder verheiratet und mit einem Wunschkind schwanger.

Mit der neuen Ehe sah ich allerdings einer neuen Herausforderung in die Augen. Mein Mann führte mich in seinen Bekannten- und Freundeskreis ein, wo ich zwar herzlich aufgenommen, stets aber als die »Frau von …« gesehen wurde. Das widersprach mächtig meiner Überzeugung von meiner Eigenständigkeit, denn ich wollte auf keinen Fall auf eine Ehefrau und Mutter reduziert werden. Man sprach mir schon wieder meine Existenzberechtigung ab, dachte ich, und überlegte radikale Gegenmaßnahmen.

Mit meiner kleinen Tochter unter dem Schreibtisch (verzeihe mir bitte, Florentina, aber du hast die Zeit ohnehin verschlafen!) beendete ich schwungvoll meine österreichische Dissertation. Als meine Tochter drei Jahre alt war, bewarb ich mich für ein renommiertes, hoch dotiertes österreichisches Habilitationsstipendium, das ich auch bekam. Ich war überglücklich und hatte alles, was ich mir immer gewünscht hatte: Eine tolle Familie mit zwei Kindern, einen netten und verständnisvollen (wenn auch überbeschäftigten) Ehemann, der mich in allen meinen Tätigkeiten unterstützte, und plötzlich auch beachtliche Perspektiven in meinem normalerweise zugegebenermaßen nicht gerade lukrativen Beruf.

Es wäre alles wunderbar gewesen, trotz Arbeit und Stress, und es hätte ruhig so bleiben können. Es blieb aber nicht. Am 22. November 2000 erhielt ich einen Anruf von meiner Mutter, die mir weinend mitteilte, dass mein 43-jähriger Bruder völlig unerwartet einen Herzstillstand erlitten hatte und nach einer Wiederbelebung im Koma lag.

Mein Bruder war ein sehr intelligenter, technisch hochbegabter Mann mit einem ausgeprägten Unternehmergeist. Deshalb versuchte er sofort nach der Wende in der Tschechoslowakei ein Immobilienimperium aufzubauen. Er kaufte zahlreiche desolate Häuser, die er mit Hilfe von Bankkrediten renovieren und anschließend veräußern wollte. In den ersten Jahren nach der Revolution befand sich das tschechische Bankwesen aber noch im totalen gesetzlichen Chaos, wobei insbesondere die Zinssetzung bei den Krediten durch Willkürlichkeit gekennzeichnet war. So konnten die Kreditzinsen innerhalb von wenigen Jahren auf fast 30 % steigen – für einen Unternehmer und seine vorherige Kalkulation eine Katastrophe. Mein Bruder, ähnlich verbissen wie ich, reagierte nicht darauf, in dem er etwa rechtzeitig ausgestiegen wäre. Im Gegenteil, er versuchte mit weiteren, immer waghalsigeren Geschäftsideen seine Haut und seine Häuser zu retten. Er trank literweise starken Espresso und arbeitete immer mehr und mehr, bis er nicht mehr konnte.

Für mich brach die Welt zusammen. Ich hatte zu meinem um fünf Jahre älteren Bruder, der ein Technikstudium hinter sich hatte und deshalb schon von seinem Wesen her komplett anders war als ich, zwar nie ein besonders inniges Verhältnis. Trotzdem war er mein GROSSER, GESCHEITER Bruder und allein der Gedanke, dass es ihn gibt – auch wenn sich unsere Familien aufgrund der großen Distanz vielleicht nur ein- oder zweimal im Jahr trafen – vermittelte mir ein Gefühl der Sicherheit. In diesem Punkt war ich noch immer ein Kind geblieben. Ich glaubte, sollte jemand böse zu mir sein, würde mein großer Bruder kommen und mich verteidigen.

Nun lag mein großer Bruder im Koma und die Chancen auf eine Genesung waren gleich Null. Mein Mann unternahm, was er konnte; als zusätzliche Maßnahmen versuchte er auch Akupunktur und Homöopathie. Ich zerbrach mir sechs Wochen lang meinen Kopf darüber, was ihm sonst noch helfen könnte, inklusive von stundenlangem Senden positiver Energie. Es half alles nichts. Während seines bewusstlosen Zustandes, von dem niemand wusste, wie lange er dauern würde, besprach ich mit meiner Schwägerin die Möglichkeit, zumindest einige seiner Häuser, die gerade renoviert wurden, zu verkaufen, um die prekäre finanzielle Lage seiner Familie zu entlasten. »Nein, das geht nicht. Er würde lieber sterben, als sich von seinen Häusern zu trennen«, meinte sie.

Das hat er auch getan. Am 4. Januar 2001 starb mein Bruder mit nicht einmal 44 Jahren. Er musste sich auf diese Weise doch von seinem Imperium verabschieden, das ihm vor allem vor meinem Vater das Gefühl eines tüchtigen Geschäftsmannes verlieh. Er war lieber tot, als vor meinen Eltern als erfolgloser Unternehmer mit einer konkursreifen Firma dazustehen. Mein Bruder hinterließ eine Frau, zwei minderjährige Kinder, riesige Firmenschulden sowie gigantischen Schmerz und ein emotionelles Chaos ohne Ende.

Meine Eltern, seine Frau und seine Kinder waren wie gelähmt. Der Tod meines Bruders verursachte in meiner Familie einen riesigen Krater, wie nach einem heftigen Bombenanschlag. Die Landschaft meiner Familie wurde bis zur Unkenntlichkeit und für immer verändert. Die Familie zerfiel, denn mein Bruder hatte immer als Vermittler zwischen meinen Eltern, seiner Frau und seinen Kindern fungiert. Nach seinem Tod gab es kein Band mehr, das die Familie zusammengehalten hätte. Ich versuchte, meinen Schock durch überhöhte Geschäftigkeit zu überwinden, die allerdings schnell zu einem großen Produktivitätsverlust führte. Also musste ich meinen Einsatz vervielfachen. Gleichzeitig versuchte ich, auf beiden Seiten zu vermitteln – ein durch und durch aussichtsloses Unternehmen. Meine Eltern suchten einen Schuldigen und fanden auch bald einen. Meine anspruchsvolle Schwägerin, die meinen Bruder angeblich zu Höchstleistungen antrieb, sollte allein die Verantwortung für dieses Desaster tragen. Die Selbstverantwortung meines Bruders für sein Leben und ihren eigenen Anteil am Größenwahn meines Bruders wollten und konnten meine Eltern nicht sehen.

Ich saß in der Falle. Einerseits überfielen mich tiefe Trauer und Depression, andererseits war ich gezwungen, aufgrund meines Stipendiums täglich stundenlang Archivmaterial zu sichten, Tonnen Fachliteratur zu lesen und mich um Wohnung, Haus und Garten sowie meine zwei Kinder zu kümmern. Meine Tochter war drei und im Trotzalter, mein Sohn dreizehn und in der Pubertät. Dazu kam, dass die zwei sich damals absolut nichts zu sagen hatten und sich gegenseitig permanent sabotierten.

Heute verstehe ich, was mir meine Psychotherapeutin damals auf der Kur riet: »Bürden Sie sich immer nur so viel Arbeit auf, wie sie auch unter geänderten, erschwerten Umständen noch bewältigen können.« Wenn ich genau überlege, war bereits die Kombination von einem kleinen und einem pubertierenden Kind plus Dissertation und danach Habilitation eigentlich um zwei Nummern zu groß. Insbesondere dann, wenn keine funktionierende Oma in der Nähe war. Der Tod meines Bruders und mein daraus resultierender Schock sowie die Unfähigkeit, bei so viel Arbeit die Situation und die Trauer zu bewältigen, machten aus meiner damaligen Aufgabe eine Rakete, mit der ich mich ins Weltall weiterer Katastrophen katapultierte.

Mein Körper begann, sich erneut zu melden. Zu den regelmäßigen Kollapsen diverser Art – einer davon führte mich vom Skiurlaub mit Blaulicht direkt ins Krankenhaus – kam eine harmlose Schulterverletzung, die sich aufgrund eines Behandlungsfehlers zu einer äußerst schmerzhaften und langwierigen Erkrankung entwickelte. Ich kann mich noch erinnern, wie ich in der Bibliothek saß und wegen starker Schmerzen kaum mehr die Tastatur meines Computers bedienen konnte. Die Tränen liefen mir herunter, ich wusste aber, dass ich, sollte ich alle Vorgaben erfüllen, sitzen bleiben und arbeiten musste.

So vegetierte ich irgendwie dahin, war auf einer Rehabilitationskur, wo man mich gewissermaßen »wiederherstellen« konnte, bis mich ein weiterer Schlag erwischte. An einem Oktobersonntag 2004 rief mich zu Mittag wiederum meine Mutter an. Diesmal teilte sie mir mit, dass auch meine Schwägerin, die Frau meines Bruders, plötzlich verstorben war. Ich konnte meinen Ohren nicht trauen; ich dachte, ich halluzinierte bereits. Was niemand ahnte, weil meine Schwägerin es sehr gut zu kaschieren wusste: Nach dem Tod meines Bruders begann sie aus purer Verzweiflung über ihre hoffnungslose Situation zu trinken. Sie war nicht in der Lage, die hohen Firmenschulden, die nicht ausreichend vom Privatvermögen getrennt waren, zu bewältigen. An jenem Sonntagmorgen platzte eine Ader in ihrer Speiseröhre und sie verblutete innerhalb von wenigen Minuten.

Meine Familie löste sich auf. Ich konnte nicht begreifen, dass die Menschen, die mir so nahe standen, so einfach und viel zu früh starben. Zugleich fühlte ich mich für die Kinder verantwortlich, insbesondere für meine damals 18-jährige Nichte. Dieser Verantwortung zusammen mit meinen eigenen Verpflichtungen und auf die Distanz von fast über 400 Kilometern nachzukommen, war jedoch beinahe unmöglich. Auch zog sich das Mädchen, das aufgrund der Ereignisse schwer traumatisiert war, zunehmend zurück. Da meine bereits älteren und kranken Eltern mit der gesamten Situation überfordert und noch immer ausschließlich mit dem Verlust ihres Sohnes beschäftigt waren, konnten sie meiner Nichte nicht das geben, was ich mir vorgestellte. Ich sah das Mädchen vor mir, das mit fünfzehn Jahren ihren Vater und mit achtzehn ihre Mutter verloren hatte, und redete meinen Eltern zu. Ohne Erfolg. SIE wollten getröstet werden, sie waren einfach nicht in der Lage, jemand anderen zu trösten. Und so begann in jener Zeit eine schwere familiäre Krise, die noch Jahre andauern sollte.

Die familiären Katastrophen, der Dauerstress in meinem Job sowie die berufliche Hyperaktivität meines Mannes führten langsam, aber sicher dazu, dass auch meine Ehe sich im berüchtigten siebenten Jahr in einer Krise befand. Mein Mann verbrachte damals die Tage in der Ordination und in der Berufsschule, wo er als Schularzt arbeitete, die Abende als ausgezeichneter und leidenschaftlicher Geiger als Konzertmeister in einem Hobbyorchester und in zahllosen Proben für sein damaliges Streichquartett, die Nächte oft in den Nachtdiensten. Vor einiger Zeit bekam ich zufällig unseren Terminkalender aus der damaligen Zeit in die Hände. Noch nach Jahren ließ bereits der bloße Blick auf die vollgefüllten Zeilen mein Adrenalin heftig ansteigen. Damals fühlte ich mich allein gelassen und nur die starke gegenseitige Zuneigung, also die gute Basis unserer Beziehung, konnte den Zerfall unserer Ehe verhindern.

Auf dem Höhepunkt der Schwierigkeiten erreichte mich die dritte Hiobsbotschaft. Einer meiner engsten Freunde und Kollegen, der Cellist Christoph, war nach fünfzehnjährigem Kampf gegen Hodenkrebs mit 40 Jahren gestorben. Christoph war ein ungemein talentierter Mensch, ein toller Musiker, mit dem ich mein Ensemble auf historischen Instrumenten aufgebaut hatte, ein witziger, intelligenter und lebensfroher Mann. Als ich von seinem Tod erfuhr, weinte ich hemmungslos. Ich konnte es einfach nicht mehr ertragen, fühlte mich von allen verlassen und allein gelassen. Freilich war der Verlust meines Bruders ein enormer Verlust für mich; mit Christoph konnte ich mich aber über alles unterhalten und Ideen entwickeln wie kaum mit jemand anderem. Christoph war homosexuell – vielleicht deshalb konnte sich unsere Freundschaft so prächtig und ungestört entwickeln. Er lebte mit seinem Freund in der Bretagne, wo ich ihn mit meiner Familie öfters besuchte. Durch seinen Tod verlor ich einen der wichtigsten Menschen in meinem Leben.

Alles anders, aber viel besser

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