Читать книгу Alles anders, aber viel besser - Dagmar Glüxam - Страница 15
Musikforschung brutal
ОглавлениеAuch ich spürte irgendwann, dass ich mein Leben nicht mehr allein bewältigen konnte. Meine Seele schrie nach Hilfe. Ich fühlte, dass mir mein Kummer längst über den Kopf hinausgewachsen war. Zu den gesundheitlichen und familiären Problemen – vor allem mit meinen Eltern, deren Ansichten bezüglich der zwei Waisenkinder meines Bruders sich komplett von meinen unterschieden – kamen auch berufliche Schwierigkeiten dazu. Ich interessierte mich sehr für die Geschichte der Musik, insbesondere für die Musik der Barockzeit, war aber gleichzeitig sehr verunsichert in Hinsicht darauf, ob ich mir mein Interesse überhaupt gestatten durfte. »Mach doch was Gescheites!«, war der Tenor in meinem Hinterkopf, der mich in regelmäßigen Abständen mahnte.
Ich träumte von einer sicheren Stelle in der Forschung oder besser gesagt von einer konkreten Stelle in einer bestimmten Institution, die noch dazu noch gar nicht ausgeschrieben, also noch nicht vakant war. Also entschied ich mich zu warten, arbeitete wie eine Besessene und ruinierte sukzessive meine Gesundheit mit unzähligen, in Summe betrachtet und auf die tatsächlichen Arbeitsstunden umgerechnet aber miserabel bezahlten Aufträgen. Nach mehrjähriger Wartezeit kam endlich der lang ersehnte Moment: Die Forschungsstelle in der auserwählten Institution wurde ausgeschrieben und ich bewarb mich dafür. Mittlerweile war ich für diese Stelle zwar eindeutig überqualifiziert, entschied mich aber in einem Anflug von Großzügigkeit, diese Tatsache zu ignorieren. Nicht aber so meine »Kollegen«, die in mir offenbar eine ernsthafte Bedrohung witterten. Da sollte jetzt jemand Neuer kommen, noch dazu eine Frau, die über eine höhere Qualifikation verfügt?
Da ich dort seit Jahren verlässlich auf freiberuflicher Basis ausgezeichnete Arbeit leistete – so zumindest das Feedback, das ich regelmäßig bekam –, erwartete ich, wie ich meine nicht ganz ohne Grund, dass die Belegschaft sich bei der Abstimmung für mich einsetzen würde. Meine damalige Naivität war grenzenlos. Die beiden Vorgesetzten hatten ihre viel jüngeren, dafür aber nicht überqualifizierten, Wunschkandidaten und ich war nicht darunter. Über das Ergebnis sollten jedoch nicht sie, sondern die Mitarbeiter entscheiden. Im Nachhinein erfuhr ich, dass die Kollegen 10:0 für einen anderen Kandidaten gestimmt hatten. Erst da wurde mir bewusst, dass dieses »Wahlergebnis« nur das Tüpfelchen auf dem »i« war, denn schon im Vorfeld gab es genug Aktionen und Anzeichen, die dieses Fiasko ahnen ließen, die ich aber standhaft ignorierte.
Meine Welt brach wieder einmal zusammen. Wie ein Puzzle fügten sich einzelne Erlebnisse vor meinem geistigen Auge zusammen. Ich begriff, dass all jene Menschen, die ich als meine Kollegen betrachtete und mit denen ich zusammenarbeiten wollte, bereits im Vorfeld sukzessive daran arbeiteten, mich offenbar ein für alle Mal loszuwerden. Auch das Vorstellungsgespräch verlief seltsam. Alle kannten mich, eine Vorstellung meiner Person und die Hervorhebung meiner Qualitäten und Qualifikationen schien also überflüssig zu sein – so dachte ich zumindest. Stattdessen wurde mir die Frage gestellt, ob ich die Frage der Kinderbetreuung verlässlich gelöst hätte. Heute könnte ich brüllen vor Lachen. Man fragte mich, eine habilitierte(!) Musikhistorikerin mit zwei Kindern (10 und 20 Jahre alt!), ob ich meine Kinderbetreuung organisieren konnte(!). Wie sonst hätte ich es geschafft, eine fünfhundert Seiten umfassende Dissertation, eine mehr als achthundert Seiten lange und von allen Begutachtern als ausgezeichnet bewertete Habilitationsschrift, fast einhundert – zum Teil sehr umfangreiche und anspruchsvolle – Lexikonartikel, zahlreiche weitere Aufsätze, mehrere Noteneditionen und Kinderbücher – das alles ohne Großeltern in der Nähe – zu produzieren?
Es war die bitterste Enttäuschung meines Lebens, ausgehend von Menschen, die ich mochte und beruflich schätzte. Man hätte mich zwar gebraucht, mein Wissen und durch jahrelange intensive Forschungsarbeit gewonnenen Kenntnisse wären für jene Institution von Bedeutung gewesen; die Zusammenarbeit sollte sich aber nach wie vor nur auf zeitlich aufwendige und unterbezahlte Werkverträge beschränken. Nach der elektronischen Absage auf meine Bewerbung (ich habe diese E-Mail gar nicht gelesen, schon während des Vorstellungsgesprächs fühlte ich, dass das Ganze eine Farce war) und einem weiteren, zu nichts führenden Gespräch mit einem meiner Fast-Vorgesetzten entschied ich mich endlich zum ersten notwendigen Schritt: Auf weitere Bewerbungen und Hoffnungen hinsichtlich jener Institution für immer zu verzichten. Meine Toleranzfähigkeit bezüglich einer weiteren Absage war unwiderruflich auf null gesunken.
Heute frage ich mich, warum ich mich damals überhaupt derartigen Situationen ausgesetzt habe. Finanziell wäre es nicht notwendig gewesen. Mein Mann war in der Lage, die Familie allein zu versorgen. Ich wollte aber unbedingt meinen Beitrag leisten und merkte dabei nicht, dass ich alles, was ich sonst noch neben meiner beruflichen Arbeit erledigte, komplett unterbewertet hatte. In meinen Augen zählte nur der berufliche Erfolg. Die Tatsache, dass ich für meine Familie mit ungeheurem Einsatz ein schönes Zuhause mit einem gut organisierten Haushalt und zwei bis drei warmen, frisch zubereiteten Mahlzeiten am Tag geschaffen hatte, zählte für mich gar nicht. Das war doch eine Selbstverständlichkeit, über die man nicht sprach. Hier erkenne ich deutlich die Einstellung meiner Mutter wieder. Diese Haltung spiegelt aber auch die Meinung der Gesellschaft wider, nach der Hausarbeit und Kindererziehung auf der Werteskala der Tätigkeiten ganz unten stehen. Mittlerweile habe ich begriffen, dass ich diesen meinen Beitrag vor allem selbst anerkennen muss. Das, was ich für meine Familie mein Leben lang getan habe und noch immer tue, ist viel wert. Als ich krank wurde, mussten wir uns für einige Arbeiten in Haus und Garten Hilfe von außen holen. Bei dieser Gelegenheit konnte ich erfahren, wie teuer diese Arbeit eigentlich ist. Da wurde mir bewusst, dass es zwei Zugänge zur Geldbeschaffung beziehungsweise Gelderhaltung gibt: Entweder Geld zu verdienen oder aber mit dem eigenen Einsatz dafür zu sorgen, dass weniger Geld ausgegeben wird. Heute sehe ich beide Tätigkeiten als völlig gleichwertig an.
Damals war es für mich jedoch nur »selbstverständlich«, dass ich neben meiner kräfteraubenden »Schreiberei« den gesamten Haushalt und Garten versorgte und meiner Familie noch dazu frisches, selbst gezogenes Gemüse lieferte. Mein Mann hatte doch seine anstrengenden Nachtdienste und die emotional aufwühlenden Quartett- und Orchesterproben, in denen er sich mit all seinen Kollegen, einer wahren Ansammlung von »Alpha-Tieren«, auseinandersetzten musste. Wenn er zu Hause war, brauchte er meiner Meinung nach selbstverständlich Ruhe. Fairerweise muss ich an dieser Stelle sagen, dass er mir – wenn er zu Hause war – nie seine Hilfe verweigerte. Er korrigierte meine sämtlichen Aufsätze und Bücher; ohne ihn wäre ich nie dort, wo ich jetzt bin. Das einzige Problem lag lediglich darin, dass er so selten zu Hause war. Angesichts seines äußerst respektablen Berufes getraute ich mich nie, meine Ansprüche durchzusetzen. Ich dachte, ich hätte kein Recht darauf, gegen sein musikalisches (wenn auch zeitlich höchst aufwendiges) Hobby anzutreten. Er brauchte doch einen Ausgleich nach den vielen anstrengenden und/oder schwer kranken Patienten. Ich schilderte meine durch und durch unbefriedigende Situation zwar meiner damaligen Psychotherapeutin, als sie mich aber aufforderte, nicht andauernd über die Bedürfnisse meines Mannes, sondern über MEINE Bedürfnisse zu sprechen, verstand ich wieder einmal überhaupt nicht, was sie meinte. Statt resolut auf den Tisch zu hauen und mit entschlossenem Blick eine Änderung seines Tagesablaufes zu verlangen, knirschte ich jedes Mal mit den Zähnen und warf zornig die Wäsche in die Waschmaschine, wenn er sich nach einem dreißigminütigen Aufenthalt zu Hause mit einem liebevollen Blick und Kuss auf die Wange von mir verabschiedete und zur Musikprobe eilte.
Selbstkritisch und mit einer gehörigen Portion Scham muss ich heute zugeben: Auch hier verließ ich mich feige auf meine Tochter. Als sie größer wurde, verlangte sie mehr und mehr nach ihrem geliebten Papa und schrie jedes Mal lautstark, als er zu einer Probe oder einem Konzert ging. Solange er noch zu Hause war, ließ ich sie brüllen, das war mein einziger »aktiver« Beitrag. Irgendwann wurde es ihm zu viel und er verließ zumindest das Streichquartett, meiner Tochter sei Dank.