Читать книгу Alles anders, aber viel besser - Dagmar Glüxam - Страница 14

Mein Körper ruft nach Hilfe

Оглавление

Heute, nach sechs Jahren, weiß ich eigentlich gar nicht mehr, wie es mir gelang, meine Habilitationsschrift mehr oder minder termingerecht zu beenden und danach noch bravourös das ganze Habilitationsverfahren zu meistern, das zu meiner Qualifikation als Universitätsdozentin führte. Neben meiner Lehrtätigkeit an der Universität schrieb ich unter nie enden wollendem entsetzlichem Termindruck unzählige wissenschaftliche Arbeiten, gab Noteneditionen heraus, verfasste und illustrierte Kinderbücher, kümmerte mich um meine Familie, drei Katzen und einen Hund, stritt regelmäßig und heftig mit meinem widerborstigen und jeden schulischen Ehrgeiz verweigernden Sohn, pflegte Wohnung, Haus und Garten in F. und entwickelte auch beim Tomaten- und Karottenanbau ungeheuren Ehrgeiz.

Die Tomaten gediehen prächtig, ich dagegen verlor die letzten Reste meines Glanzes. Auch hörte ich auf, Geige zu spielen, so wie mir Musik überhaupt prinzipiell auf die Nerven ging. Im Gegensatz zu meinem Mann, der sozusagen nicht einmal das Zähneputzen ohne eine Bruckner-Symphonie absolvierte, schaltete ich sofort jedes Radio aus; das Anhören von CDs wurde bei uns zu Hause beinahe ein Tabu. Heute deute ich diesen völligen Verzicht auf meine einstige Leidenschaft als Alarmstufe Rot. Alles, was ich früher leidenschaftlich gern gemacht hatte, freute mich nicht mehr. Die Fotos aus der Zeit zeigen eine Frau, die erschöpft und ohne jeden Funken Freude in den Augen wirkt. Heute spiele ich wieder meine heiß geliebte Violine in diversen Konzerten und freue mich über jede gute Musik.

Weitere »Zwischenfälle« kamen dazu. Zum Beispiel wurde meine rechte Gesichtshälfte plötzlich völlig gefühllos. Ich wollte gerade aus F. nach Wien fahren, da bemerkte ich, dass es mich große Mühe kostete, den Wagen richtig zu steuern, als ob mich eine unsichtbare Kraft stets nach rechts ziehen würde. Mein Sohn hatte damals noch keinen Führerschein, so blieb mir also nichts anderes übrig, als es unter größter Anstrengung irgendwie nach Wien zu schaffen. Heute weiß ich, dass ich damals äußerst fahrlässig gehandelt habe, und danke Gott, dass uns nichts passiert ist. Zu Hause angekommen besprach ich die Lage mit meinem Mann, der mich sofort ins Wiener AKH schickte. Nach dreistündigem Warten und einer zehnminütigen Untersuchung kam heraus, dass ich nur leichtes Fieber und möglicherweise eine Entzündung des Hirnstammes hatte. Da ich mir – bis zum Hals in meinem Arbeitswahn versunken – nicht vorstellen konnte, ein paar Verpflichtungen abzusagen und mich gründlich untersuchen zu lassen, schob ich lediglich drei Tage Erholung ein. Die Lähmung verschwand, sie blieb ungeklärt und ich begann nach diesem Zwischenfall ziemlich schnell wieder dort, wo ich aufgehört hatte – mit ein paar zusätzlichen Aufträgen dazu.

Ein paar Wochen später entschied ich mich – ebenso mit leichtem Fieber – unseren 1.000 m2 großen Garten mit der Sense zu mähen. Aus Liebe zu Wiesenblumen, Schmetterlingen und Käfern ließen wir das Gras hoch wachsen und hatten zwar eine herrliche Blumenwiese, dafür aber viel Arbeit, als es irgendwann doch notwendig wurde, das hohe Gras zu mähen. Das war sehr anstrengend, vor allem für jemanden, der den ganzen Tag in der Bibliothek saß, körperliche Arbeit nicht gewohnt war und darüber hinaus gerade einen Infekt ausbrütete. Am nächsten Tag verspürte ich Schmerzen hinter dem Brustbein, die ich noch beharrlich ignorierte. Meine damals zehnjährige Tochter kam von der Schule nach Hause; ich bereitete ihr ihre Lieblingsspeise zu, einen Grießkoch mit Zimt und Honig, und wir begannen zu essen. Plötzlich wurde mir schwarz vor den Augen, ich spürte erneut den Schmerz hinter dem Brustbein und klappte buchstäblich zusammen. Im letzten Moment klaren Denkens fiel mir ein, dass wir uns in F. befanden, wo zwar viel wunderschöne Natur, dafür aber weit und breit keine medizinische Notstelle war und hauchte deshalb meiner Tochter zu, sie solle die Rettung rufen. »Bitte kommen Sie, meiner Mama geht es schlecht«, höre ich sie noch sagen. Die Rettung landete in F. in Form eines Hubschraubers, am frühen Freitagnachmittag, und zwar gleich neben dem Gemeindeamt. Die Inszenierung konnte nicht besser, die Aufregung nicht größer sein. Der ganze Ort wusste sofort, was los war, eine professionelle Nachrichtenagentur hätte nicht besser funktionieren können. In Windeseile verbreitete sich im Dorf die Nachricht, dass ich wahrscheinlich schon tot sei. Mitten drin meine Tochter, die seitdem nie wieder Grießkoch essen wollte.

Nach einer Infusion vor Ort ging es mir etwas besser, so gelang es mir, mich sozusagen vor der Rettung zu retten. Die anwesende Ärztin wollte mich nämlich in eine aufblasbare Trage stecken und ins Krankenhaus nach Wiener Neustadt mit dem Hubschrauber transportieren, für mich der blanke Horror. Als ich spürte, wie das aufblasbare Bett vor allem meinen Hals einschnürte, überfiel mich ein – seit Jahren immer wieder präsenter – Anfall von Klaustrophobie, und ich sah in Panik das Ende nahen. Gott sei Dank erschien gerade noch rechtzeitig mein Mann, der, von unserer Tochter alarmiert, aus Wien angerast war und dabei in sämtliche Radarfallen gefahren war. Ich kratzte die letzten Reste meiner Kraft zusammen und erklärte, auf keinen Fall irgendwohin mit dem Hubschrauber geflogen werden zu wollen. Wir machten aus, dass mich die Sanitäter im Auto ins Krankenhaus nach Baden bringen sollten, das näher lag und zu dem mein Mann bessere Kontakte hatte.

Und wieder dasselbe: Untersuchungen, aber weder greifbare Ergebnisse noch eine Erklärung für meine Zustände. Einen Herzinfarkt konnten die Ärzte definitiv ausschließen, deshalb unterschrieb ich schnell einen Revers und fand mich nach einer fünfstündigen Odyssee in meinem Bett in F. wieder, wo ich die nächsten vier Tage beinahe unbeweglich liegen blieb. Ich war zu müde zu sprechen, zu lesen oder mich auch nur umzudrehen.

Aber auch Unfälle blieben mir nicht erspart. Abgesehen davon, dass mir vor lauter Hektik dauernd Dinge aus den Händen fielen und ich mich ständig irgendwo verletzte, kam es in F. auf eisglatter Straße zum Zusammenstoß meines Autos mit dem Auto einer Dorfbewohnerin. Gott sei Dank auf beiden Seiten nur ein Blechschaden, die Beule an meinem Kopf rechne ich nicht mit. Eine kleine Mahnung sozusagen. Ich verstand sie aber nicht, ebenso wenig wie ich in einem Seminar über Selbstfindung (ich besuchte diese Veranstaltung, weil ich doch irgendwie geahnt habe, dass mein Leben nicht so verlief, wie ich es gern hätte) es verstand, als mir die Seminarleiterin direkt in die Augen schaute und sagte: »Dagmar, bitte, bevor Du mit neuen Ideen und Projekten anfängst, musst du dich zuerst sammeln!« Was meinte sie denn damit? Es war mir damals zu dumm, zu fragen: Ich wollte nicht zeigen, dass es irgendetwas auf der Welt gab, das ich nicht verstehen konnte. Stattdessen nickte ich nur bedeutungsvoll und startete am darauf folgenden Montag eine neue berufliche Offensive.

Die letzte Mahnung dieser Art bekam ich durch einen Unfall mit meinem Hund Arthur, einem überaus dynamischen Labrador in der Hundepubertät, mit dem ich am späteren Abend »noch ein bisschen« joggen wollte. Meine Tochter war dabei. Wie gesagt, ich war überzeugt, dass meine entsetzliche Dauermüdigkeit auf meiner angeborenen Faulheit basierte, die ich nur mit Aktivitäten aller Art bekämpfen könnte. Arthur freute sich über den unerwarteten Lauf so sehr, dass er mit seinen vierzig Kilogramm und einer Extraportion jugendlichen Übermuts einen riesigen Satz nach vorne machte. Leider hielt ich seine Leine fest in der Hand, so musste ich, ob ich wollte oder nicht, völlig unvorbereitet den Sprung nach vorn zusammen mit ihm durchführen. Der Flug ins Unbekannte endete für mich äußerst unsanft. Ich landete mit meinem Gesicht auf der harten Asphaltstraße; bremsen konnte ich nur mit meinem Kinn.

Von heftigen Schmerzen übermannt, blieb ich regungslos liegen. Nach einigen Schrecksekunden fing meine arme Tochter an, in Panik nach mir zu rufen. Auch diesmal war sie es, die alles ausbaden durfte. Ich weiß nicht mehr, wie ich die hundert Meter nach Hause schaffte. Der Weg fühlte sich an wie eine Überquerung des Himalaya. Ich zitterte am ganzen Körper, das Blut floss von meinem Kinn, der Kopf fühlte sich an, als ob ich mit einem Mähdrescher traktiert worden wäre. Mein Kreislauf drohte definitiv zu versagen. Endlich im Bett, verbat ich meiner Tochter ausdrücklich, den Papa anzurufen, der in Wien gerade einen Nachtdienst absolvierte. (Es gehört zu den ungeschriebenen Gesetzen, dass der Arzt in der Familie nie anwesend ist, wenn man ihn braucht.) Ich wollte meinen Mann nicht unnötig beunruhigen und dachte, auch ohne ihn zurechtzukommen. Meine Tochter achtete jedoch nicht darauf und tat, was notwendig war. Als mein Mann – wieder einmal – mitten in der Nacht von Wien nach F. eilte, war ich ihr unendlich dankbar dafür, dass sie so klug und selbstständig das einzig Richtige getan hatte.

Am nächsten Tag also wieder einmal das Badener Krankenhaus, Röntgen, schmerzhafte Reinigung und Zusammenkleben der Wunde (fürs Nähen war es bereits zu spät) und eine Halskrause. Summa summarum brachte mir der Unfall zwei Wochen Krankenstand, in denen ich aufgrund der Kieferverletzung kaum feste Nahrung zu mir nehmen konnte, außerdem eine tiefe Schnittwunde am Kinn, eine leichte Gehirnerschütterung und heftiges Kopfschütteln über die Ursachen von so vielen Missgeschicken. Heute verstehe ich es. Heute lebe ich unfallfrei.

Sie werden sich jetzt wahrscheinlich denken, dass ich nicht ganz bei Sinnen war und Sie haben recht. Das wahre Problem ist nur, dass die meisten Menschen in vergleichbarer Situation längst jedes Gefühl für sich selbst und ihren Körper verloren haben. Wenn ich noch Gespür für mich gehabt hätte, wäre ich niemals in eine solche Lebenslage gekommen. Sprechen Sie mit einem Workaholic nach einem gerade überstandenen Zusammenbruch. Er wird mit allen Mitteln versuchen, Sie zu überzeugen, dass es ihm bestens gehe und alle anderen maßlos übertreiben – obwohl genau hier die Chance zur Genesung liegt: gegen ALLE UMSTÄNDE Stopp zu sagen und sich am besten sofort in eine Therapie zu begeben. Leider schaffen es nur die wenigsten, ins Rad des Schicksals rechtzeitig einzugreifen. Meist muss es erst zu einer lebensbedrohlichen Krankheit oder einem schweren Unfall kommen, die entweder das Leben des Betroffenen auf eine mehr oder minder gewaltsame Weise beenden oder – wenn man Glück hat und überlebt – eine radikale Lebensveränderung erzwingen.

Alles anders, aber viel besser

Подняться наверх