Читать книгу Robin und die Farben der Bordsteine - Dagmar Petrick - Страница 10

6
„Falls du einen Helden suchst: Hier hast du ihn“ – Ein Heiliger mit vielen Pfeilen

Оглавление

Der Regen hatte die kleine Stadt abgewaschen, als wäre ein Straßenreinigungsfahrzeug durchgefegt. Die Bürgersteige blitzten unter dem fahlen Licht der Straßenlampen. Und dann, als sie auf den Platz einbogen, in dessen Mitte sich die Kirche Sankt Patrick’s mit ihrem schlanken Turm in den Himmel streckte, entdeckte es auch Robin. Unverkennbar und klar sah er: Die Bordsteine ringsum trugen ebenfalls Orange! Grün und Weiß und Orange – die Farben der irischen Trikolore.

Warum hatte er das bislang nicht bemerkt? Und wieso hatte Vater Duncan ihnen nichts davon erzählt?

„Daddy, schau!“

Doch Big Chief hatte schon das Portal aufgestoßen und war ins Innere der Kirche verschwunden. Und wenn er auch ein wenig schwankte, gelang ihm doch, all das zu tun, was zu tun war, wenn man Sankt Patrick’s betrat: Big Chief zog die Mütze vom Kopf, tauchte eine Hand in das kleine Steinbecken mit Weihwasser und schlug, während er kurz niederkniete und taumelnd wieder hochkam, das Kreuz über sich, von der Stirn über die Brust bis zum Herzen: „Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, amen.“

Robin machte es Big Chief nach, hinter seinem Rücken und viel langsamer, weil er immer durcheinanderkam, wenn er das Kreuz schlagen sollte, als würde sich etwas in seinem Kopf verknoten dabei.

„Setz dich in eine Bank und warte auf mich, Robin“, brummte Big Chief. „Ich suche Vater Faughan.“

Während Big Chief zwischen den Stuhlreihen in Richtung Beichtstuhl wankte, blieb Robin unschlüssig im Mittelgang stehen und blickte sich um. Zwischen den Bänken knieten vereinzelt ein paar Frauen und murmelten leise ihre Gebete. Die meisten von ihnen kannte Robin, weil sie auch sonntags in die Kirche kamen. Sie beteten, dass Gott Nordirland Frieden schenken möge und ihren Söhnen Arbeit, wenn die Söhne ohne Arbeit zu Hause in den Wohnzimmern hockten – was meistens der Fall war. Wenn die Söhne nicht zu Hause in den Wohnzimmern hockten, sondern fort waren, beteten sie, dass sie bald wieder heimkehrten und Gott sie aus dem Gefängnis befreite. Denn nicht immer war es das Ausland, in das die jungen Männer auf der Suche nach Arbeit verschwunden waren.

„Kommt deine Mama am Sonntag zur Messe, Robin?“, flüsterte es plötzlich neben Robin. Mrs Duffy schob ihr Kopftuch zurück und blinzelte Robin aus trüben Augen müde an. Seit ihr Mann beide Beine bei einem Bombenanschlag verloren hatte und im Rollstuhl saß, kniete sie nahezu täglich in Sankt Patrick’s. „Ich habe deine Mutter lange nicht gesehen. Bring sie doch mal wieder mit, hörst du? Und sag ihr, dass ich für sie bete. Vergiss es nicht.“

Robin schüttelte den Kopf. Nein, er werde es nicht vergessen, und, ja, danke, es gehe ihnen gut. „Geht es Ihnen denn auch gut, Mrs Duffy?“ Mrs Duffy wiegte den Kopf hin und her. Nein, ihren Mann plagten die Schmerzen in den Beinen, dabei könne er sie nicht einmal bewegen. Aber Gott, der Allmächtige, werde helfen, er mache alles gut.

Robin atmete erleichtert auf, als Mrs Duffy das Kopftuch über die Stirn zog und sich wieder in ihr Gebet vertiefte.

Wo blieb nur Big Chief? Seit er in Richtung der Beichtstühle geschwankt war, hatte Robin nichts mehr von ihm gesehen.

Robin ließ seinen Blick durch die Kirche wandern, die prachtvollen Säulen hinauf und hinunter und nach rechts und links in die Seitengänge.

Obwohl Robin schon oft hier gewesen war, zumindest sonntags zur Messe, in die Mum ihn regelmäßig schickte, damit wenigstens einer der O’Kanes zum Gottesdienst ging, kannte Robin die stattliche Kirche kaum. Das verwunderte wenig, weil Robin während der Messe fest zwischen den Bänken klemmte und nur aufstand, um ab und an niederzuknien oder nach vorne zum Altar zu eilen, wenn Vater Faughan das Abendmahl austeilte. „Christi Leib für dich gebrochen“, sagte der Priester dabei jedes Mal feierlich und legte den Gläubigen die Hostie auf die Zunge. Die Hostie schmeckte ledern, als wollte sie nicht gegessen werden, was durchaus passte. Schließlich erinnerte sie daran, dass Jesus einmal für alle am Kreuz gestorben war.

Ansonsten kam Robin selten nach Sankt Patrick’s – und wenn, dann nicht, um darin herumzuwandern. Und doch gab es hier offenbar Winkel und Nischen, die ihm bislang verborgen geblieben waren.

Und die er jetzt erkunden konnte.

Langsam schlenderte Robin fort von den Reihen betender Frauen hin zu den Seitengängen, und da, in einer Nische in der Wand hinter einem mit Gold überkleideten Gitter, entdeckte er ihn.

Er stand an einen Baum gefesselt, die Arme waren ihm auf den Rücken gebogen. Er trug nur einen dünnen Lendenschurz, und sein schutzloser Körper war von Pfeilen übersät. Sie steckten in seinen Armen, in den Beinen, im Bauch, und doch sah der junge Mann mit dem lockigen braunen Haar nicht sonderlich unglücklich aus. Im Gegenteil. In seinen Augen schimmerte ein beinahe zufriedener Glanz, als würde es ihn nicht stören, dort am Baum zu hängen, so durchlöchert und durchbohrt.

„Robin.“ Eine vertraute, schwere Hand legte sich auf Robins Schulter. Big Chief war wieder aufgetaucht. „Da bist du ja, mein Junge. Ich habe dich gesucht. Hast du dir etwa den Heiligen angesehen?“

„Den Heiligen?“, fragte Robin.

„Na, den heiligen Sebastian“, sagte Big Chief und nickte zu dem durchbohrten Mann hinüber. „Kennst du denn die Geschichte vom heiligen Sebastian nicht?“

Robin schüttelte den Kopf. Vom heiligen Sebastian hatte er nie zuvor etwas gehört.

„Falls du einen Helden suchst: Hier hast du ihn!“, erklärte Big Chief fachmännisch. „Stell dir bloß mal vor: Er hat all die vielen Pfeile überlebt. Und dann ist er wieder hingegangen. Das muss ihm erst mal einer nachmachen!“

„Was muss ihm erst mal einer nachmachen?“, fragte Robin. „Und wohin ist er gegangen?“

„Na, zum Kaiser Diokletian“, sagte Big Chief, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. Robin sah seinen Vater groß an. Big Chief seufzte. „Also gut“, sagte er. „Ich will versuchen, ob ich es noch zusammenkriege.“

Big Chief kratzte sich am Kinn. Das Kinn war stoppelig und rau, weil er in der Frühe vergessen hatte, sich zu rasieren. „Wenn ich mich recht erinnere“, begann Big Chief, „diente Sebastian als Soldat im Heer des Kaisers Diokletian. Sebastian war Christ, das heißt, er hatte sich zum Glauben an Jesus, den Christus bekannt. Das wollte der Kaiser nicht. Deshalb ließ er Sebastian von seinen Bogenschützen erschießen. Mit Pfeilen. Danach dachte Diokletian, der heilige Sebastian sei tot.“

„Das wundert mich nicht“, sagte Robin. Im heiligen Sebastian steckten wirklich viele Pfeile.

„Das Verrückte daran ist“, sagte Big Chief, „dass er all die vielen Pfeile überlebt hat. Eine Frau namens Irene pflegte ihn gesund. Danach ist er wieder zum Kaiser Diokletian gegangen und hat ihm gesagt: Hier bin ich und ich glaube immer noch an Jesus. Da hat ihn Diokletian mit Keulen erschlagen lassen. Und das war’s dann wohl.“

Robin erschauderte. Mit Keulen erschlagen werden klang schmerzhaft. „War das denn nicht ziemlich dumm von ihm?“, fragte er.

„Aber nein, wo denkst du hin?“, rief Big Chief empört. „Der heilige Sebastian hat doch ein Opfer gebracht. Für den Glauben. Und für uns. Er hat sogar zwei Opfer gebracht. Deshalb verehren wir ihn auch. Der heilige Sebastian ist ein großer Mann. Ein sehr großer sogar. Ein Heiliger und ein Held. Alle Last der Welt wird nur durch Opfer abgetragen, wie auch alle großen Dinge nur durch Opfer gelingen. Aber lass uns heimgehen, Robin. Deine Mutter wartet sicher schon auf uns.“

Der Mann, der aus dem Beichtstuhl gekommen war, erschien Robin jedes Mal ein wenig verändert. Weicher. Sanfter. Gesprächiger. Als hätte Vater Faughan Big Chief tatsächlich den Kopf gewaschen, wie es Big Chief nach einer Beichte stets behauptete. Ihm die Verfehlungen von den Schultern gespült. Damit Big Chief wieder von vorne anfangen konnte.

So ähnlich erklärte es Vater Faughan auch in der Messe, wenn er die Kommunion austeilte. Er reckte die Hostie in die Luft, damit jeder sie sehen konnte und rief: „Qui tollis peccata mundi!“ Das war auch Latein wie der Satz, der über dem Schultor stand, und er bedeutete so viel wie: Jesus ist das Lamm Gottes. Er hat die Schuld der Menschen ans Kreuz getragen, weil er für sie durchbohrt worden ist.

Wie der junge Mann dort in der Nische, in dem so viele Pfeile steckten, dass Robin sie kaum zählen konnte.

Big Chiefs große Hand schob Robin sanft, aber entschieden aus der Kirche auf die Straße. Und noch immer glänzten die Bordsteine ringsum in Grün und Weiß und Orange, als sie ins Freie traten.

„Wir sollten uns beeilen!“

Aber in Murphys Laden an der Ecke, in dem es alles gab, was das Herz begehrte, wie es die leuchtenden Buchstaben über der Tür versprachen, brannte noch Licht. Hier hinein huschten die Kinder, die von ihren Müttern noch einmal losgeschickt worden waren, das Toastbrot zu kaufen, weil es ihnen sonst zum Abendessen fehlte. Oder die Müslipackungen, ohne die es am anderen Morgen kein Frühstück geben würde. Oder Vaters Zigaretten für den langen Abend vor dem Fernseher.

„Halt“, rief Robins Vater, „das dürfen wir nicht vergessen!“

Aus einer Plastikvase am Eingang fischte Big Chief einen Strauß mit Nelken. Lila Nelken. Nicht grün. Nicht weiß. Nicht orange.

„Danke, Angus“, brummte Murphy, als Big Chief die Münzen auf die Ladentheke zählte, „grüß deine Frau von mir!“

Jetzt rannten sie fast, und, siehe da, es war genauso, wie es Big Chief vorher zu Mum gesagt hatte: In ihrem Viertel waren alle Bordsteine angemalt. Grün. Weiß. Orange.

Nur bei dem Haus, vor dem sie jetzt anhielten, schimmerten die Bordsteine unverkennbar unangemalt im trübsten Betongrau.

Big Chief holte tief Luft, ehe er die Tür aufschloss.

Im dunklen Flur stand Mum, und ihr rotes Haar flammte um ihren Kopf wie ein Heiligenschein.

„Für dich“, sagte Big Chief und streckte ihr rasch die Nelken entgegen, dass die Plastikfolie knisterte. „Verzeih mir. Bitte!“

Robin und die Farben der Bordsteine

Подняться наверх