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„Siehst du Engel tanzen, Mann?“ – Ritterburg im Nieselregen
ОглавлениеAlles war wie immer in Nordirland im Jahr 1990. Der Wind wehte sacht aus Nordwest wie sonst auch im November morgens um acht. Nieselregen verhüllte die Bürgersteige, die Dächer und Straßen. Und doch ragten jetzt die Wehrgänge einer mittelalterlichen Ritterburg vor Robins erstaunten Augen auf. Sogar ein Bergfried reckte sich, gleich einer geballten Faust, in den dämmerungsgrauen Himmel.
Robin O’Kane, elf Jahre alt und auf dem Weg zur Schule, blieb ruckartig und wie angenagelt stehen.
Cathal1, schlaftrunken noch, rumste gegen Robins Rücken. „Autsch, pass doch auf, Mann!“ Cathal rieb sich die Nase.
Was dort auf der anderen Straßenseite zwischen dunstigen Regenschleiern auftauchte, war keine mittelalterliche Ritterburg, sondern die Königliche Polizeiwache von Portamena. Stacheldraht umwickelte die Mauerspitzen wie Schlingpflanzen. Puffer riegelten den Gehweg ab. Dieser Anblick war kein Grund stehen zu bleiben. Im Gegenteil.
„Hey, Mann, siehst du Engel tanzen?“ Cathal zurrte an Robins Dufflecoat. „Lass uns weitergehen!“
Aus dem Dunkel der Mauer drüben löste sich die kantige Gestalt eines Mannes. Robin erkannte die kugelsichere Weste über der Uniform. Eine Walther PP2 und Hiatt-Handschellen3 baumelten am Ledergürtel. Klock-klack-klock schlug ein Schlagstock gegen die grüne Hose des Polizisten. Dunkelgrün. Heckenschützengrün.
Die mittelalterliche Ritterburg zerplatzte wie Seifenblasen im Wind. Robin rannte los.
„Hey, Mann!“, schrie Cathal. „Warte auf mich!”
Aus den Augenwinkeln erkannte Robin, wie der Polizist in den Schatten der Mauer zurückglitt und seinen Wachgang fortsetzte: fünfzig Schritte in die eine Richtung, fünfzig zurück.
Trottel, beschimpfte sich Robin selbst. Aus dem Schlitz im Turm schossen keine Pfeile. Dort kauerte allenfalls ein Polizist und folgte ihnen mit dem Lauf seines Gewehrs. Und selbst wenn er nur Plastikkugeln geladen hatte, konnte ein Treffer durchaus lästig sein.
Zwar behaupteten die Soldaten, die mit ihren gepanzerten Wagen durch die Stadt rollten, während sie ihre Maschinengewehre auf die Leute richteten, dass ein Treffer nicht wehtue. Aber das stimmte nicht. Nicht immer jedenfalls.
Erst gestern hatten Mum und Big Chief von Klein-Stevie erzählt, dem ein Plastikgeschoss das Gehirn weggepustet hatte.
„Hey, Mann!“ Cathal schloss keuchend neben Robin auf. „Was war denn los?“
Einen Augenblick lang überlegte Robin, ob er Cathal von seiner Erscheinung erzählen sollte. Dann entschied er sich dagegen. Denn wie hätte er es ihm erklären sollen? In seinem Kopf wuselten die Gedanken durcheinander wie ein Hamster im Laufrad. Immer im Kreis. Immer rundherum. Außerdem betraten sie jetzt das Viertel der Anderen – und das zerknäulte Robins Hirn nur noch mehr.
Wo der Regen über Nacht die Bordsteine abgewaschen hatte, glitzerten sie unter den letzten Tropfen in Rot und Weiß und Blau. Klackernd flatterte die Flagge des Union Jack4 in eben diesen Farben über den Schieferdächern, die hier wie dort gleich grau glänzten. Mit ungelenken Buchstaben hatte jemand „No surrender“ – „Wir ergeben uns nicht“ – auf eine Backsteinwand gesprüht.5
Es ist nicht zu übersehen, dass hier Protestanten wohnen, dachte Robin, und sofort dachte er auch an die Messe vom vergangenen Sonntag. Vater Faughan hatte aus der Bergpredigt vorgelesen: Gott, der allmächtige Herr, lässt die Sonne scheinen über Gut und Böse. Und auch der Regen fällt – hier wie dort – auf dasselbe Land.
Gott, der Herr, macht jedenfalls keine Unterschiede.
Aber die Menschen machen sehr wohl Unterschiede, dachte Robin. Sie pinseln ihre Bordsteine rot und weiß und blau und manchmal auch orange. Sie pinseln sie grün. Sie schwenken die Fahne des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland. Sie schwenken die Fahne der Republik Irland.
Robin fand, dass es ziemlich schwer war, Protestanten und Katholiken nicht voneinander zu unterscheiden, wenn man in einem Land wie dem seinen lebte.
Eigentlich sind wir selbst schuld an dem ganzen Durcheinander. Wir könnten das Fahnenschwenken doch bleiben lassen. Und das Bordsteinanpinseln obendrein.
Es war eine Erkenntnis, die Robin durchzuckte, wie wenn jemand in einem dunklen Raum das Licht anknipste. Niemals zuvor hatte er je solch einen Gedanken gedacht, und doch kam er derart leichtfüßig angesprungen, als hätte er immer schon darauf gewartet, dass Robin ihn in seinen Kopf einließe.
Robin hatte Cathal völlig vergessen.
Das war nicht weiter schlimm. Sie standen ohnehin längst unter dem schmiedeeisernen Tor, das zum Hof ihrer Schule Zu Unserer Lieben Frau führte, und Cathal sprang, ohne sich noch einmal umzudrehen, voraus, wo er sogleich von einer Schar sommersprossiger Jungen verschluckt wurde.
Robin sah zum Tor hinauf. Er legte den Kopf in den Nacken, die Arme baumelten lang an den braunen Hosenbeinen. Langsam, Wort für Wort, las er, was über ihm auf einer blanken Messingtafel geschrieben stand in Buchstaben, die strammstanden, als wären sie Zinnsoldaten: „Ad maiorem dei gloria“.
Dei war lateinisch. So viel wusste Robin, schließlich lernte er seit diesem Schuljahr Latein. Dei bedeutete Gott.
Gott war also ein Major, eine Art Oberbefehlshaber. Man musste ihm gehorchen und zu Diensten stehen. Allezeit. Am besten ohne nachzufragen.
Aber völlig sicher, ob seine Übersetzung stimmte, war sich Robin nicht.
1 Robin und sein Freund Cathal leben in Nordirland. Deshalb tragen manche Kinder, die in diesem Buch vorkommen, irische Namen, die oft völlig anders klingen, als du es womöglich vermutest. Wie ihre Namen ausgesprochen werden, erfährst du hinten im Buch im Glossar: eine Liste mit Wörtern, bei denen dir eine Erklärung vielleicht weiterhilft.
2 Eine Walther PP ist eine Selbstladepistole deutscher Herstellung. PP steht für Polizeipistole.
3 Die Firma Hiatt aus Birmingham in England fertigte bis ins Jahr 2008 für fast alle Polizeistationen im Vereinigten Königreich Handschellen an.
4 Der Union Jack ist die Nationalflagge des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland.
5 Solche Graffitis gibt es viele in Nordirland, besonders in den Vierteln, in denen überwiegend Protestanten oder Katholiken wohnen.