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„Orange kann auch schön sein“ – Gestohlene Farbe

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Im Ochsenauge stand die Luft wie eine Wand, aber eine Wand aus Zigarettenqualm. Der Qualm stach Robin in die Augen. Er zwinkerte und brauchte eine Weile, bis er sich in dem schummrigen Raum mit der niedrigen Decke zurechtfand, obwohl es gewiss nicht das erste Mal war, dass Robin seinen Vater in der kleinen Kneipe suchte.

Aus der Ecke drang Musik. Jemand zupfte an einer Geige, eine Trommel gesellte sich leise dazu, und über alles legte sich – zart wie die Stimme eines kleinen Vogels – der helle Gesang einer zierlichen Flöte.

Die Männer hockten einer neben dem anderen am Tresen. Ihre Beine umschlangen die Barhocker, und mit den Händen umklammerte ein jeder von ihnen ein Glas Bier. Dunkles Bier. Guinness aus dem Süden. Robin wusste das, weil er einmal mit seinen Eltern einen Ausflug nach Dublin, der Hauptstadt der Republik Irland, gemacht hatte. Dort waren ihm die riesigen Plakate aufgefallen: „Guinness is good for you“ – „Guinness tut dir gut“ – stand darauf. Auch das war lange her; freilich nicht so lange wie die Schlacht am Boyne. Und nun trank jeder der Männer ein Guinness. Und Robins Vater saß mitten unter ihnen.

„Schau mal, wer da kommt!“ Ein schnauzbärtiger Mann namens Donnelly hatte Robin in der Tür erspäht. Donnellys Sohn Mickey ging in Robins Klasse. „Angus, dein Junge ist da.“

Robin drängte sich zu Big Chief und sah ihn fragend an. Big Chief sagte nichts, aber immerhin schickte er Robin nicht weg.

Vor den Männern reihten sich die Bierkrüge wie Hühner, die gemütlich auf der Stange hockten, und weil Seamus, der Wirt, die leeren Gläser einfach stehen ließ, konnte Robin an ihnen ablesen, wie viel jeder schon getrunken haben musste. Zwei, drei Bier pro Mann? Und wie viele davon Big Chief?

„Früh übt sich, wer ein Meister werden will. Seamus, stell dem Jungen auch ein Guinness hin!“, grölte Mickeys Vater.

„Ganz recht“, stimmte ihm der Mann daneben zu. Er hieß Teekanne, weil er mal eine Kugel abbekommen hatte. Die Kugel war ihm knapp über den Augen durch den Schädel gezischt. Seitdem trug er ein Loch auf der Stirn wie eine Teekanne und auch den Spitznamen, den jeder verstand, sobald er Teekanne ins Gesicht sah. „Guinness macht stark!“

Aber Robin wollte nicht. Und Big Chief, wenn er auch ein wenig wackelig wirkte, ließ es ebenfalls nicht zu. „Nein, der Junge trinkt nichts!“

„Aber Erdnüsse darf er doch?“, brüllte Teekanne. Und er pfiff durch seine Zahnlücke nach Erdnüssen. Denn eine Zahnlücke hatte er auch. Ein ausgeschlagener Schneidezahn, vermutlich von einer Prügelei. „Erdnüsse für die Jugend, damit sie groß und stark und kräftig wird!“

„Wo du recht hast, Teekanne, hast du recht“, stimmten die anderen zu. „Erdnüsse für die Jugend! Erdnüsse für Robin!“ Augenblicklich wanderte eine Schüssel mit gerösteten Erdnüssen über den Tresen, bis sie vor Robin zu stehen kam. Wieder blickte Robin seinen Vater fragend an, aber Big Chief zuckte nur mit den Schultern.

„Hau rein, Junge!“, rief Teekanne. „Wer weiß, ob du zu Hause noch etwas zu essen bekommst, weil dein Vater das ganze Haushaltsgeld schon hier vertrunken hat.“

Die Männer lachten laut. Big Chief lachte nicht. Die Musik aus der Ecke spielte lauter, als wollte sie das Gelächter der Männer übertönen. Aber die Trommel schlug ein wenig merkwürdig, als wäre sie aus der Puste geraten. Wie ein Herz, das stolperte.

„Nun, Robin“, sagte jetzt ein Mann im blauen Overall und knallte eine flache Hand auf Robins Rücken, als wollte er einen Teppich ausklopfen. Mister Corridan gehörte die Autowerkstatt im Ort, die zuvor schon seinem Vater und davor dessen Vater gehört hatte. Seine Hände waren immer ölverschmiert und nie trug er etwas anderes als einen blauen Overall, als wäre er darin geboren worden. „Erzähl doch mal, was sie euch in der Schule beigebracht haben.“

Das war schon das zweite Mal an diesem Tag, dass Robin diese Frage hörte. Erst war es Mum gewesen. Nun Mister Corridan. Immerhin hatte Mister Corridan nicht gefragt, ob etwas Anständiges darunter gewesen war. Robin überlegte. Bestimmt wäre es klüger, nichts von den Farben zu erzählen.

„Nun sag schon“, drängelte Teekanne, „sonst befürchten wir noch, dass ihr Kinder eure Zeit vergeudet, wenn ihr in die Schule geht.“

„Richtig, dass ihr eure Zeit vergeudet“, wiederholte Mister Corridan.

Robin räusperte sich. „Wilhelm von Oranien ist ein Verräter“, sagte er. „Er hat Nordirland ins Verderben gestürzt.“

Der Lärm in der Kneipe verstummte, sogar die Musik machte eine Pause. Doch dann grölten die Männer nur umso lauter.

„Hört, hört! Was du nicht sagst!“, rief Mister Corridan und wieder sauste seine ölige Hand auf Robins Rücken. „Der Junge nennt die Dinge beim Namen.“

Teekanne kratzte sich das Loch auf der Stirn. „Wahrhaftig“, brummte er, „auf deinen Jungen kannst du stolz sein, Angus.“

Robins Vater antwortete nicht. Obwohl es doch bestimmt ein Lob gewesen war. Stattdessen winkte er Seamus heran und gab ihm mit einer knappen Handbewegung zu verstehen, dass er ihm das Bierglas auffüllen sollte. Randvoll, mindestens.

Während Robin zusah, wie das Guinness im Glas hochkroch, bis es am Rand eine hübsche Schaumkrone bildete, der Seamus’ ganzer Stolz galt, spürte Robin, wie auch in ihm etwas anstieg. Wie etwas hinaus und gesagt sein wollte.

„Und trotzdem kann doch auch Orange eine schöne Farbe sein“, sagte er. Robin sagte es lauter, als er es beabsichtigt hatte, so laut, dass es die Musik übertönte, die Geige, die Flöte und die Trommel, die inzwischen gänzlich aus dem Takt geraten war und immerzu danebenschlug.

Vielleicht hatte Robin erwartet, dass ihn jetzt der Blitz treffen würde. Oder zumindest ein Gewitter auf ihn einprasselte, Donner, Hagelschlag und Regen in einem, weil man so etwas nicht sagen durfte.

Stattdessen klopfte wieder eine ölige Hand auf Robins Rücken. „Aber natürlich kann Orange eine schöne Farbe sein, mein Junge. Was denkst denn du? Hat jemand je etwas anderes behauptet?“

„Ganz recht!“, rief Teekanne. „Orange steckt schließlich auch in unserer Fahne.“ Und mit unserer Fahne meinte er die irische Trikolore. Und er sagte die Farben der irischen Trikolore auf, als würde Vater Duncan ihn im Unterricht befragen: „Grün. Weiß. Orange. Hast du das denn deinem Jungen nicht beigebracht, Angus?“

„Genau“, sagte Mister Corridan. „Wer behauptet hier, dass Orange nicht auch uns gehört?“

Sie empörten sich ehrlich. „Jetzt stehlen sie uns schon die Farben!“

„Allerhand!“

„Blöde Tommys8!“

„Da machen wir nicht mit!“, brüllte Teekanne.

„Nein, machen wir nicht“, stimmten die anderen zu.

„Natürlich nicht!“

„Nicht mit uns!“

„Niemals. Nie!“

Sie lachten.

„Darauf stoßen wir an. Seamus, schenk noch einmal ein.“

Und sie ließen sich die Gläser auffüllen und schlugen sie aneinander, dass es klirrte und das Bier auf den Tresen schwappte, wo es schimmernd feuchte Pfützen bildete.

Sláinte!9“

„Auf die Trikolore!“

„Mit ALL ihren Farben. Auf Grün. Und Weiß. Und auf Orange!“

Plötzlich sprang Big Chief auf, so hastig, dass der Hocker nach hinten kippte.

„He, sachte, Mann, sachte!“, rief Mister Corridan und hob eine ölige Hand. Aber ehe er sie auf Big Chiefs Rücken ausklopfen konnte, stand der schon an der Tür.

„Ich hab noch was zu erledigen“, sagte Big Chief. „Robin, komm, wir gehen.“

Als die Tür hinter ihnen zuschlug, verstummte das Gegröle. Nur die Musik drang noch gedämpft nach draußen. Die Trommel hatte die anderen Spieler eingeholt. Nun schlug sie wieder im Takt.

„Endlich Ruhe“, sagte Big Chief, und er wankte ein bisschen.

Es hatte zu regnen aufgehört. Robin sog die frische Luft ein und blickte hinauf zum Himmel, der längst ein dunkler Nachthimmel geworden war. Über ihnen funkelten die Sterne. Viele Sterne. Eine ganze Wiese aus Sternen.

Big Chief sah ebenfalls hinauf. „Ah, die Sterne“, sagte er. „Glaub es mir oder glaub es mir nicht, manche von ihnen haben sogar Namen. Stell dir das mal vor: Namen für Sterne! Mein Vater, dein Opa, kannte ein paar von denen. Ständig hat er sie mir erklären wollen, aber ich hab’s mir nie gemerkt. Nur an die Plejaden erinnere ich mich.“

„Die Plejaden?“, fragte Robin.

„Na, das Siebengestirn“, brummte Big Chief. „Auch die Sieben Schwestern genannt. Ein Sammelsurium aus Abertausend Sternen. Oder so ähnlich. Das weiß keiner ganz genau. Du findest sie nur, wenn du sie suchst, aber du darfst nicht drängeln.“

„Wie das?“, fragte Robin.

Doch Big Chief war längst weitergegangen, allerdings nicht in die Richtung, die nach Hause führte.

Robin rannte ihm nach.

„Daddy, wohin gehen wir?“

„Wohin sollen wir schon gehen?“, sagte Big Chief. „Die Last der Welt abtragen. Für unsere Schuld bezahlen. Wir gehen zur Beichte.“

8 Schimpfwort; abschätzige Bezeichnung für einen Briten.

9 Sláinte ist irisch. Es bedeutet so viel wie: „Ich trinke auf deine Gesundheit!“ Sprich das Wort wie Slorntsche aus.

Robin und die Farben der Bordsteine

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