Читать книгу Robin und die Farben der Bordsteine - Dagmar Petrick - Страница 8
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„Trink deinen Tee“ – Assam ohne Milch
ОглавлениеStill ging es daheim allerdings nicht zu. Schon als Robin vor der Haustür stand, prasselten ihm die erregten Stimmen seiner Eltern entgegen wie Hagelkörner im Sommer.
„Und es bleibt dabei“, sagte Robins Mutter gerade sehr entschieden, „ich male unsere Bordsteine NICHT an!“
Sonst tönte Mums Stimme hell und glockenklar, aber jetzt schrillte sie wie eine Sirene. „So weit kommt es noch, dass ich mich zu so einem Irrsinn hinreißen lasse.“ Und sie sagte „Irrsinn“ sehr, sehr laut und sehr betont. „Und du solltest endlich aufhören, es von mir zu verlangen!“
Leise schloss Robin die Tür auf; seine Eltern bemerkten ihn nicht.
„Nimm doch Vernunft an, Alison!“ Das war Big Chiefs Stimme, dunkel wie ein Güterzug, der in der Ferne dahinrollte. Meistens sprach Big Chief langsam, als müsste er über jedes seiner Worte einzeln nachdenken. Aber jetzt überschlug sich seine Stimme fast, so hastig sprach er. „Jeder hier malt seine Bordsteine an, Alison. Und wir sollten es auch tun. Damit alle sehen, dass wir dazugehören. Verstehst du? Das macht man nun mal so, wenn man in einer Gemeinschaft lebt. Man verständigt sich.“
„Gar nichts mache ich!“, rief Mum. „Und auf so eine Gemeinschaft pfeife ich sowieso!“
Robin linste um die Ecke. Seine Eltern standen in der Küche. Sein Vater krallte die Hände um den kleinen wackeligen Esstisch, seine Mutter lehnte an der Spüle. Ihre roten Haare, die sie obendrein rot färbte – weil das so schön irisch aussehe, wie sie beteuerte –, flatterten wirr um ihren Kopf. Ihre Wangen glühten, wie sie immer glühten, wenn sie sich aufregte.
„Siehst du nicht, wohin das alles führt, Angus?“, fragte sie jetzt etwas leiser. „Niemand verständigt sich hier. Das ist Krieg.“
„Aber alle machen es“, jammerte Big Chief. „Deshalb müssen auch wir die Bordsteine anmalen!“
„Gar nichts müssen wir“, schimpfte Mum und jetzt schrie sie wieder. „Und erst recht nicht, wenn es alle machen!“
„Du bist und bleibst ein alter Sturkopf!“, brüllte nun auch Big Chief. „Eines Tages werfen sie uns noch eine Bombe ins Haus und alles nur, weil du so unverständig bist!“
„Pah“, schnaubte Alison, „sollen sie doch.“
„Nie kann man mit dir reden. Es ist völlig aussichtlos. Ich gehe!“ Und Big Chief stürmte an Robin vorbei zur Haustür hinaus.
Mit einem lauten Rums knallte sie hinter ihm zu.
„Oh, ha“, stöhnte Mum. Sie hielt den Kopf leicht schräg, als lauschte sie dem Klang der zugeschlagenen Tür nach.
Im Haus war es wieder still.
Bestimmt stiefelte Big Chief jetzt wutschnaubend ins Ochsenauge. Das Ochsenauge war Big Chiefs Lieblingskneipe und der einzige Ort in der gesamten Stadt, an dem er sich verstanden fühlte, was nicht schwer war, weil die Männer, die dort saßen, ohnehin kaum miteinander sprachen.
Plötzlich entdeckte Mum Robin und strahlte ihn an. „Hallo, Darling, da bist du ja. Willst du einen Tee?“
Ohne eine Antwort abzuwarten, hangelte Mum die Teekanne vom Küchenbord, stopfte zwei Teebeutel hinein – guten Assam – und kippte aus dem Kessel, der schon auf dem Herd dampfte, kochendes Wasser darüber. „Bitte schön, fertig!“ Mum stellte zwei Becher auf den Tisch und füllte sie rasch. Der Tee war heiß und braun. Haselnussbraun. Ohne Milch und ohne Zucker. Ohne Milch war wichtig, weil Milch im Tee nicht schmeckte, wie Mum stets behauptete, und weil sie an der Milch, die sie nicht in den Tee schütteten, das Geld sparten, das Big Chief soeben im Ochsenauge vertrank. Auch das sagte Mum. Aber sooft sie das sagte, zuckte sie mit den Schultern, als bezweifelte sie selbst, dass sie auf diese Weise wirklich Geld sparten.
„Was macht man in einem Land wie diesem, wenn man nicht mehr weiterweiß?“, fragte Mum. „Man trinkt Tee.“ Sie lachte und setzte sich an den kleinen Küchentisch, der immerzu wackelte, wenn jemand mit dem Knie daranstieß, was oft geschah, weil es eine ziemlich enge Küche war. „Komm, Robin, setz dich zu mir.“
Robin rührte sich nicht. Er lehnte in der Tür und fragte sich, ob seine Eltern einander soeben die Scheidung eingereicht hatten.
„Du siehst aus wie ein Päckchen, das niemand abgeholt hat.“ Mum grinste, aber dann wurde sie ernst. „Hör mal, Robin. Dass erwachsene Menschen laut werden, wenn sie miteinander reden, ist völlig normal. Das kommt vor. Das ist auch kein Streit, sondern eine Auseinandersetzung. Auseinandersetzungen gehören dazu, wenn man sich verständigen will. Und genau das tun Ehepaare: Sie verständigen sich. Das sagt auch dein Vater. Also sei friedlich und trink deinen Tee mit mir.“
Robin setzte sich Mum gegenüber. Vorsichtig nippte er an seinem Tee.
Der Tee brannte an den Lippen und schmeckte ohne Milch und Zucker kräftig zud stark. Wie es sich für einen guten Assam gehörte, versicherte Mum. Am Tee sparte sie nämlich nicht.
„Und jetzt erzähl, was sie dir heute in der Schule beigebracht haben! Ich hoffe, es war etwas Anständiges.“
Robin stellte seinen Becher ab. Er dachte nach.
War es anständig, dass sie im Geschichtsunterricht über die Schlacht am Fluss Boyne geredet hatten? Und über Wilhelm von Oranien, der den katholischen König vernichtend geschlagen und damit ganz Nordirland ins Unglück gestürzt hatte? Und wie war das mit den Farben? War Orange eine schlechte Farbe, bloß weil Wilhelm von Oranien sie getragen hatte, damals vor dreihundert Jahren?
„Gibt es Farben, die falsch sind?“, fragte Robin.
Mum sah Robin verdutzt an, dann lachte sie schallend, als hätte Robin etwas äußerst Lustiges gesagt.
Als sie sich wieder beruhigt hatte, schüttelte sie den Kopf. „Nein, Robin“, sagte sie entschieden, „es gibt keine falschen Farben! Und ich bemale die Bordsteine NICHT. Nein, niemals!“
Ihr Blick rutschte weg. Sie sah Robin nicht mehr an, sondern stierte in ihren Tee, als stünde dort die Antwort auf eine schwere Frage geschrieben, ein Rätsel, das sie nicht zu lösen vermochte. „Wo kämen wir denn hin, wenn alle die Welt bepinseln würden, als wäre sie ein Bastelbogen?“, brummte sie. Aber es war keine Frage, die sie Robin stellte; sie sagte es mehr zu sich selbst.
Robin kannte das. Er wusste, dass seine Mutter jetzt in ihren Gedanken versank und es eine Weile brauchen würde, ehe sie wieder daraus auftauchte.
„Mum“, flüsterte Robin, „ich hab noch Hausaufgaben. Entschuldige bitte.“
Aber Mum merkte nicht einmal, wie Robin aufstand und die Treppe in sein Zimmer hinaufschlich.
In seinem Zimmer setzte sich Robin aufs Bett. Er hatte das dringende Gefühl, dass er einmal tiefgründig über alles nachdenken sollte und dass es dabei vielleicht ratsam war, von vorne anzufangen. Aber wie das ging, wusste er nicht und auch nicht, was vorne war.
In seinem Zimmer sah alles aus wie immer. Auch draußen stand wie eh und je der kleine Baum, von dem niemand wusste, wie er hieß, und klopfte mit seinen dünnen Zweigen gegen das Fenster. All das machte die Sache nicht leichter, weil sich etwas in Robins Kopf soeben ändern wollte.
Auf dem Bett lag die Tagesdecke aus bunten Flecken. An der Wand hing die Weltkarte. Auf der Kommode standen Robins Bücher. Das Lexikon der Weltgeschichte. Das ABC der Tiere. Das Buch der hundert Merkwürdigkeiten, in dem so merkwürdige Dinge standen wie: „Es dauert vierzig Minuten, um ein Straußenei hart zu kochen.“ Daneben steckte der Plastikjesus in seiner Glaskugel. Wenn Robin die Kugel schüttelte, schneite es in der Kugel. Dann schneite es auch über den Herrn Jesus, der die Arme ausgebreitet hielt, als wollte er den Schnee einfangen. Bestimmt freute sich Jesus über den Schnee, weil es weder in Nordirland, wo Robin lebte, noch in Palästina, wo Jesus gelebt hatte, viel schneite, selbst im Winter nicht. Es wäre wirklich sinnvoller gewesen, Regen in die Glaskugel zu stopfen, dachte Robin. Regen hätte es jedenfalls weitaus besser getroffen.
Prompt fing es draußen an zu schütten und der Regen klatschte ans Fenster, als wollte er die Welt ersaufen.
Jetzt wird Big Chief bestimmt nass, dachte Robin. Aber vielleicht saß er längst in der Kneipe und genoss sein Bier? Schließlich machte Big Chief ziemlich große Schritte, er war ja auch ein großer Mann. Deshalb nannte Robin ihn auch so: Big Chief, großer Häuptling. Ein großer Mann war eben ein großer Anführer, auch wenn die Familie, die er anführte, recht klein war. Kleiner jedenfalls als die von Cathal, der vier Brüder und zwei Schwestern hatte.
Aber selbst große Männer konnten einmal nass werden. Manchmal wurden sie auch laut. Und manchmal liefen sie sogar davon.
„Große Männer suchen Halt an kleinen Flaschen, während Mütter sich aufopfern. So ist das!“ Das war Mums Sicht der Dinge, wie sie es nannte. Dann seufzte sie und schimpfte: „Glaub mir, wenn ich nicht so viel bei anderen Leuten putzen würde, ginge alles hier den Bach runter.“ Und dabei sagte sie „alles“ besonders laut, als wollte sie sichergehen, dass Robin auch wirklich alles verstanden hatte. „Denn stell dir nur mal vor: Ohne meine Arbeit gäbe es in diesem Haus keinen einzigen Cent für Toast oder Porridge6 oder Tee und auch nicht für die Milch, an der wir ohnehin schon sparen, weil wir sie uns nicht in unseren Assam, sondern nur ins Müsli kippen. Ist das gelogen, oder ist es wahr?“ Danach lachte sie und Robin wusste nie, ob sie sich freute oder traurig war. Und was er ihr antworten sollte, wusste er auch nicht, weil er noch überlegte, ob es stimmte, dass Mütter sich aufopferten und große Männer Halt an kleinen Flaschen suchten. Obwohl es durchaus zutraf, dass er Big Chief, wann immer Robin ihn im Ochsenauge suchte, meistens hinter einem Bierglas fand.
Robin sah hinaus in den Regen, der auf die Schieferdächer prasselte und alle Bürgersteige ins gleiche Grau versenkte, einerlei, ob ihre Bordsteine nun grün oder orange gepinselt waren.
Ich sollte besser aufpassen, dachte Robin. Denn wenn ein Junge, der mit elf Jahren längst zu alt für Träumereien war, plötzlich eine Polizeiwache für eine mittelalterliche Ritterburg hielt, begann die Sache brenzlig zu werden. Dann nämlich konnte es geschehen, dass besagter Junge die graue Wirklichkeit vergaß.
Die graue Wirklichkeit aber durfte unter keinen Umständen vergessen werden, zumindest nicht in einem Land wie diesem, auch wenn Nordirland kein Irrtum war, weil es sich nicht mit zwei R nach dem I schrieb. Aber vielleicht war es eben doch ein Irrtum – und es hatte sich bislang nur niemand getraut, das zuzugeben?
Die graue Wirklichkeit lautete: Wir sind alle Menschen. Trotzdem sind wir alle anders. Es gibt uns. Es gibt die anderen. Man musste das unterschieden und durfte es nie, niemals, nicht vergessen.
Ganz so einfach war es freilich nicht. Weil Robins Mama Protestantin war. Und Robins Vater Katholik.
Und ich bin eine Mischung aus beiden, dachte Robin. Ich gehe in die Messe und meine Schule ist katholisch. Aber Mum malt unsere Bordsteine nicht grün, wie es die Katholiken tun, und sie schwenkt auch keine Trikolore7. Deshalb bin auch ich anders. Irgendwie hälftig und gespalten. Protestolisch, katholtantisch. Am allermeisten aber bin ich verwirrt.
Am besten suche ich Big Chief, beschloss Robin. Man konnte schließlich schlecht eine Familie sein, selbst eine gemischte Familie nicht, wenn man nicht wenigstens zusammen abend aß. Und Robins Bauch verkündigte gerade unmissverständlich mit lautem, fast schon ärgerlichem Knurren, dass es bald Zeit dafür wurde, vorausgesetzt, Big Chief hatte nicht tatsächlich alles Geld weggetrunken und es blieb ihnen noch etwas übrig für Kartoffeln und Assam und ein paar Erbsen vielleicht.
Suchen musste Robin Big Chief allerdings nicht wirklich. Das war nur so eine Redewendung, wie es in Nordirland viele Redewendungen gab. „Wie geht es dir, Love?“, zum Beispiel, und die Antwort darauf lautete stets: „Danke, mir geht es gut! Und Ihnen, liebe, hochverehrte Mrs Flanagan (oder wie sie alle hießen), geht es Ihnen auch gut?“ Und so weiter und so fort.
Nur die Straße runter, fünfmal um die Ecke und nahe am Fluss, lag das Ochsenauge, Big Chiefs Stamm- und Lieblingskneipe, die so hieß, weil der Wirt Seamus O’Faolain in einer rauschhaften Nacht, in der viel Bier geflossen war, zwei schwarze Kreise um die beiden runden Fenster seiner Kneipe gemalt hatte und Wimpern obendrein, sodass die Fenster seitdem von Weitem ausschauten, als wären sie die Augen eines Ochsen, eines etwas zu groß geratenen und leicht schielenden Ochsen freilich.
Robin brauchte sich nur aufmachen, den Regenmantel überziehen und die Gummistiefel. Dann würde er Big Chief schon finden, wo alle Männer um diese Zeit zu finden waren. Jene, die von der Arbeit kamen und jene, die nicht von der Arbeit kamen, weil sie keine Arbeit hatten – so wie Robins Vater, obwohl er einmal eine Arbeit gehabt hatte, aber das war lange her. Und auch vorausgesetzt, dass diese Männer katholische Männer waren. Zumindest im Ochsenauge waren die Männer katholisch, und vielleicht waren sie das auch in den anderen Kneipen, von denen es einige in Portamena gab, aber das wusste Robin nicht genau.
Big Chief hatte es Robin einmal erklärt: Protestanten gehen nicht in Kneipen, weil sie sich und aller Welt beweisen müssen, dass sie fromme, rechtschaffene Leute sind. „Sie wissen sonst nicht, wer sie sind, wenn sie nicht protestieren“, hatte Big Chief gesagt und laut und lange gelacht, als wäre ihm ein wunderbarer Scherz geglückt. „Gott mag kein Bier, sagen die Protestanten. Deshalb protestieren sie dagegen. Hahaha.“
„Warum?“, hatte Robin gefragt. War das Bier, das Dad trank, denn böse?
Aber Big Chief hatte unwirsch abgewinkt und mit einem Mal sehr müde ausgeschaut. „Das machen sie bloß, weil sie besser sein wollen als wir. Besser und anders. Protestantisch eben. Ha!“
6 Porridge ist ein Mus aus aufgekochten Haferflocken. Es schmeckt sehr lecker, besonders wenn du noch ein wenig Milch aufgießt und etwas Zucker oder Obst darüberstreust.
7 Das ist die Fahne der Republik Irland. Sie ist in den Farben Grün, Weiß und Orange gestreift. Deshalb heißt sie auch manchmal Trikolore von tri = drei und colore = Farbe.