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„Darum mögen wir kein Orange“ – Eine verhängnisvolle Schlacht und eine ebenso verhängnisvolle Farbe

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Vater Duncan war ein großer Mann. Wobei groß ein zu kleines Wort war für seinen gewaltigen Körperumfang. Wuchtig und schwer wogte sein Bauch vor ihm her, wenn er durch die Stuhlreihen im Klassenzimmer wandelte. Wuchtig und schwer ruhte auch das Brevier der goldenen Gebete in Vater Duncans Hand. Und mit einer Stimme, die wie ein Bierfass schepperte, wenn man es durch eine Gasse mit Pflastersteinen rollte, begann er das Morgenzeremoniell, das sich jeden Tag aufs Neue wiederholte.

Wie auch die Sonne jeden Tag aufs Neue aufging. So würde es Vater Duncan erklären, würde ihn jemand danach fragen. Aber es fragte ihn niemand danach.

Unhinterfragt begann der Tag wie eh und je mit einem Gebet: „Gesegnet seist du, Jungfrau Maria, und gebenedeit sei die Frucht deines Leibes Jesus. AMEN!“

Vater Duncans Amen dröhnte, als wäre es ein Donnerschlag, und die sechsundzwanzig Jungen, die allesamt in den gleichen braunen Hosen mit den gleichen weißen Hemden mit den gleichen grünen Pullovern im gleichen V-Ausschnitt darüber und den gleichen grün-schwarz gestreiften Krawatten darunter steckten, antworteten schlagartig und wie aus einer Kehle: „Amen!“

„Wo waren wir stehen geblieben?“ Vater Duncan hob beide Arme in die Luft, als erflehte er Hilfe von oben und gab sich die Antwort gleich selbst: „Natürlich bei Geschichte. Bei unserer Geschichte. 1690. Die Schlacht am Fluss Boyne.“

Und er erinnerte die Jungen noch einmal daran. In jener Schlacht hatte Wilhelm von Oranien, der miese Verräter, den einzig wahren, katholischen König Jakob den Zweiten besiegt, ja, ihn vernichtend geschlagen, was überaus bedauerlich, aber leider, leider nun mal eine geschichtliche Tatsache war.

„Und seitdem steht es schlecht um uns“, sagte Vater Duncan und er wiegte den Kopf bedächtig hin und her, als müsste er über seine eigenen Worte und das damit verbundene schwere Schicksal nachdenken.

Die Buben nickten und lauschten betrübt, wie Vater Duncan weiter von jenem folgenschweren Tag erzählte, an dem der protestantische König Wilhelm der Dritte, auch König Wilhelm von Oranien oder König Billy genannt, auf einem weißen Pferd gegen Jakob, den einzig wahren, da katholischen König, angestürmt war und ganz Nordirland ins Verderben gestürzt hatte, mit einem einzigen vernichtenden Schlag – ach, gütiger Gott, erbarme dich unser!

„Schreibt es auf!“, befahl Vater Duncan. „Die Schlacht am Fluss Boyne. Nordirland im Jahr 1690.“

Die Jungen beugten sich über ihre Hefte und schrieben es auf. Vater Duncan schlenderte durch die Stuhlreihen und warf hie und da einen prüfenden Blick über die Jungenschultern. Bis er zu Cathal kam.

„Aber nicht doch, Cathal“, rief Vater Duncan empört, „du hast Nordirland mit zwei R nach dem I geschrieben! Als wäre es ein Irrtum. Aber das ist es doch nicht, ganz sicher nicht. Wie kommst du nur darauf?“

Und während Cathal eines der beiden R nach dem I aus seinem Nordirrland tilgte, setzte Vater Duncan seinen Vortrag fort über ein Land, das wunderbar und einstmals fast nur katholisch gewesen war, bis zu jener verhängnisvollen Schlacht, die schon so viele Jahre zurücklag, dass Robin sich nicht vorstellen konnte, wie viele Jahre das waren. Niemand, den er kannte, war jemals derart alt geworden. Bäume wurden vielleicht so alt, aber Menschen sicher nicht.

Und trotzdem vergessen die Menschen nichts, auch wenn es dreihundert Jahre zurückliegt.

Vater Duncan schritt durch die Stuhlreihen, und das handgroße Kreuz, das an einer goldenen Kette um seinen Hals baumelte, schaukelte bei jedem seiner Schritte hin und her, und der Herr Jesus, der nur mit einem schmalen Lendenschurz bekleidet an dem Kreuz festhing, schaukelte mit. Hin und her, und her und hin.

Robin vergaß, auf Vater Duncans Worte zu achten und sah dem Herrn Jesus beim Schaukeln zu. Bis plötzlich jemand hinter ihm zischte: „Hey, Mann, wach auf! Wo steckst du heute bloß mit deinen Gedanken?“

Cathals Warnung kam gerade rechtzeitig. Vater Duncan war vor Robins Pult stehen geblieben und hatte eine schwere Hand, die eher einer Pranke glich, daraufgelegt. Nun beugte er sich vor, sodass der Herr Jesus genau an Robins Nase vorbeischwang.

Wieder dachte Robin an die Predigt vom vergangenen Sonntag. Gott lasse die Sonne scheinen über Gut und Böse, hatte Vater Faughan behauptet, wie er es auch regnen lasse über Gut und Böse. Deshalb regnete es gewiss auch über Protestanten und Katholiken. Und bestimmt hatte es auch über Wilhelm von Oranien und Jakob den Zweiten geregnet. Das erschien Robin sogar höchst wahrscheinlich, weil es ziemlich oft regnete in Nordirland. Eigentlich regnete es fast die ganze Zeit. Der Himmel scherte sich offenbar wenig um Grenzen und Mauern.

Nur haben sie das wohl nicht begriffen damals, als die feindlichen Heere aufeinander zustürmten vor dreihundert Jahren am Fluss Boyne, lange ist es her.

Lieber Herr Jesus, dachte Robin, als der Herr Jesus erneut an seiner Nase vorbeischwang. Leider verstehe ich das ganze Durcheinander nicht. Ob du es mir wohl bitte einmal erklären könntest? Oder du fragst deinen Vater, falls du es auch nicht weißt, ob er es mir erklärt?

„Deshalb mögen wir kein Orange, denn es ist die Farbe von Wilhelm von Oranien, diesem Schuft“, sagte Vater Duncan und er richtete sich wieder auf. „Und wir mögen es auch deshalb nicht, weil bis heute manche Protestanten am Jahrestag der Schlacht orange gekleidet durch unsere katholischen Straßen laufen, während sie auf ihre Trommeln hauen – bumm, bumm, bumm –, als wären sie kleine Jungs. Kleiner noch als ihr, ha! Und dabei schwenken sie die Fahne, die der Königin von England gehört. Als besäßen wir keine eigenen und besseren Fahnen, tzzz!“

Vater Duncan nahm die Hand von Robins Pult. Die Hand hinterließ einen feuchten Abdruck, der sich langsam auflöste, bis nur noch die Tischplatte übrig blieb.

Es ist wie heute Morgen, dachte Robin erstaunt, während er gebannt zusah. Eine Erscheinung wie bei der Ritterburg, die keine Ritterburg, sondern eine Polizeiwache war. Eine stark bewachte Polizeiwache, um genau zu sein, weil die Polizeiwachen, die in Nordirland die Menschen beschützen sollten, in Nordirland selbst beschützt werden mussten.

„Nun, Robin“, fragte Vater Duncan, „warum mögen wir kein Orange?“

„Weil Wilhelm von Oranien ein Schuft ist, Vater Duncan“, sagte Robin schlagartig, als hätte er Vater Duncans Worte mit einem Aufnahmegerät aufgenommen und würde jetzt den Text abspulen, „deshalb mögen wir kein Orange!“

Aber insgeheim dachte er, dass er bislang noch nicht viel über Farben nachgedacht hatte und dass es vielleicht Zeit war, genau dies einmal zu tun. Wenn er jedoch ein bisschen mutiger gewesen wäre, hätte er eigentlich jetzt schon sagen können, dass er Orange gar nicht mal so grässlich fand, er fand es nämlich durchaus schön. Gab es nicht auch Blumen, die orange blühten, und Tiere, die orange gefärbt waren?

„Nein, wir mögen Orange nicht!“, rief Cathal quer durchs Klassenzimmer.

Quer-durchs-Klassenzimmer-Rufen war nicht erwünscht in der Schule Zu Unserer Lieben Frau, im Gegenteil, es war sogar aufs Strengste untersagt. Denn wenn jeder einfach jederzeit rufen würde, was ihm gerade durch den Kopf trudelte, was gäbe das erst für ein Durcheinander? Vater Duncan aber sagte nichts, er lächelte nur.

Auch Robin sagte nichts, jedenfalls verriet er nicht, dass ihm Orange ausgesprochen gut gefiel. Man musste nicht immer alles sagen, was man dachte. Vielleicht war es mitunter klüger, man blieb still.

Robin und die Farben der Bordsteine

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