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„Das geschieht alles bloß aus Liebe“ – Grüne Bordsteine

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Als Robin am nächsten Tag von der Schule nach Hause kam, sah er seine Mutter schon von weitem. Sie stand mitten auf der Straße in einem grashüpfergrünen T-Shirt, das sie bestimmt Big Chief aus dem Schrank gemopst hatte, weil es ihr ein paar Nummern zu groß war. In der einen Hand hielt sie einen Pinsel, in der anderen schwenkte sie einen Eimer mit Farbe. Mit grüner Farbe.

Als Mum Robin sah, richtete sie sich auf und strich sich eine Locke aus dem Gesicht, das merklich rot geworden war, als hätte Robin sie soeben erwischt bei etwas, für das sie sich schämte. In ihren roten Haaren funkelten kleine grüne Farbtupfer.

„Frag nicht, warum ich das hier mache!“, zischte sie und hob mahnend den Pinsel in die Luft, als wollte sie Robin zum Schweigen bringen. Dann seufzte sie, und sie ließ den Pinsel wieder sinken. „Ich schätze mal, es geschieht alles bloß aus lauter Liebe. Also verlieb dich nie in einen Mann wie deinen Vater!“

Das war freilich ganz unmöglich.

Robin betrachtete Mums Werk: Grüne Streifen auf grauen Bordsteinen. Allerdings hatte Mum ziemlich unregelmäßig gestrichen, als hätte sie fast rauschhaft gepinselt, nicht eben sorgfältig, aber das war nun mal nicht ihre Art. Und weil sie so beschwingt gemalt hatte, als wollte sie die Arbeit schnellstmöglich hinter sich bringen und nicht weiter darüber nachdenken, tropfte die Farbe über die Bordsteinkanten auf die Straße.

Mum lachte, als sie Robins verwunderten Blick bemerkte.

„Schick, findest du nicht auch? Die Farbe nimmt Reißaus. Weil sie es nicht zulässt, dass man sie vereinnahmt. Warte, ich mache ein paar Grashalme daraus!“ Und sie pinselte die grünen Spritzer in lange Streifen, die auf die Straße wanderten. „Damit hier wenigstens was wächst, auch wenn es nur aus Farbe ist.“

Robin sah zu, wie sich die Straße in eine Wiese verwandelte, auch wenn es eine äußerst kümmerliche war. Er wusste nicht, was er sagen sollte. „Wo steckt Daddy?“, fragte er stattdessen. Aber Mum zuckte nur mit den Schultern und malte noch einen Busch zwischen die Grashalme.

Robin stellte fest, dass seine Mutter plötzlich sehr zufrieden aussah, und dann betrachtete er noch einmal die frisch gepinselten Bordsteine. Mum hatte die grünen Streifen mal enger, mal weiter über die Kanten verteilt, dazwischen zeigte sich nach wie vor das verwaschene Grau des Betons. Etwas daran kam Robin sehr merkwürdig vor, aber er wusste nicht, was.

„Ich geh rein, Mum“, murmelte Robin, „ich hab noch Schulaufgaben.“ Hausaufgaben waren immer eine gute Ausrede; es war ja auch fast wahr.

„Geh du nur, geh!“, rief Mum und wedelte mit dem Pinsel, dass die Farbe durch die Luft kleckste – wie fallende Blätter, als wäre es Herbst und dabei wurde es doch gerade Winter. „Aber trink deinen Tee! Und iss ein paar Kekse. Käse habe ich dir auch hingestellt. Du bist so dünn, dass dich eines Tages noch der Nordwestwind in den Atlantik pustet.“

Auf dem wackeligen Esstisch in der Küche stand in der Tat ein Teller mit Keksen. Ein paar Käsewürfel lagen auch daneben. Und auf dem Herd dampfte, wie eh und je, der Teekessel.

Robin schenkte sich ein. Heißer Tee, haselnussbrauner Tee. Assam ohne Milch und ohne Zucker.

Manche Dinge änderten sich eben nicht, und sie würden sich auch niemals ändern, so wie sich auch der Tee nicht änderte, den Robin ohne Milch und ohne Zucker trank. Auch wenn sich, zugegeben, die Farbe ihres Bürgersteigs soeben merklich verändert hatte. Aber wahrscheinlich war das nichts als Zufall oder eine mütterliche Laune und deshalb brauchte Robin es nicht ernst zu nehmen.

In Robins Zimmer hatte sich ebenfalls nichts verändert. Die Bücher reihten sich auf der Kommode. Die Weltkarte hing an der Wand. Alaska saß nach wie vor im Norden und der Golfstrom umspülte Nordirland. Der Plastikjesus steckte in der Glaskugel. Er breitete die Arme aus und sehnte sich nach Schnee. „Schüttel mich, damit es schneit!“ Oder war es etwas anderes, das er Robin sagen wollte? Etwas, das Robin selbst betraf? Aber das war ja ganz unmöglich. Dann klopfte der Baum, von dem keiner den Namen kannte, ans Fenster und Robin achtete nicht weiter auf den Herrn Jesus in der Glaskugel.

Das mit den Hausaufgaben hatte nicht gestimmt. Sie hatten nichts auf, mal abgesehen davon, dass man wahrscheinlich immer irgendetwas für die Schule tun konnte – Lateinvokabeln lernen zum Beispiel.

Immerhin regnete es nicht; da konnte wenigstens die grüne Farbe trocknen, wenn sie über die Bordsteinkanten lief.

Robin nahm Das Buch der hundert Möglichkeiten von der Kommode. Er schlug es irgendwo auf, dort, wo die Seiten von alleine aufklappten. Seite vierundsechzig: „Bei Shrimps sitzt das Herz im Kopf.“ Aha, dachte Robin. Robin schlug das Buch wieder zu. So ging das nicht. Es brachte ihn nicht weiter und nicht voran.

Robin spürte, dass er einmal gründlicher über alles nachdenken musste, wenn er die Dinge verstehen wollte. Denn nur wer die Dinge verstand, konnte sie ändern.

Doch zum Nachdenken brauchte Robin eine tiefe Ruhe, die es in seinem Zimmer nicht gab. Auch wenn es in seinem Zimmer durchaus still war, erzählte die Stille darin doch überlaut davon, dass Big Chief gerade mit einer an hundert Prozent grenzenden Wahrscheinlichkeit im Ochsenauge saß und ein Guinness nach dem anderen in sich hineinkippte, als wäre es Kakao.

Darum glich die Stille in Robins Zimmer eher einer beredten Stille: Sie dröhnte viel zu laut, als dass Robin dabei hätte nachdenken können.

Andererseits brauchte Robin auch nicht den Lärm, der jedes Mal aufbrodelte, wenn Big Chief vom Ochsenauge nach Hause zurückgetorkelt kam. Dann schrie Mum, Big Chief vertrinke das ganze Geld, das sie sauer verdiente, und dass sie sich opfere, damit alles weiterging, und er brüllte zurück, das gehe sie ÜBERHAUPT NICHTS an, nicht das kleinste bisschen, wie er sich im Übrigen auch nichts von ihr sagen lasse, nein, wirklich nicht.

So schwappte es hin und her und wurde immer lauter, wenn Robins Eltern miteinander stritten. Obwohl sie heute vielleicht nicht miteinander stritten, weil es Big Chief bestimmt freute, dass die Bordsteine vor ihrer Haustür endlich aussahen wie all die anderen Bordsteine auch. Wie fast alle anderen Bordsteine, um genau und ehrlich zu sein, denn die Bordsteine der Anderen blieben leider nach wie vor unveränderlich blau oder rot oder orange gepinselt. Weil die Anderen doch Protestanten waren und deshalb immer alles anders machen mussten. Aber immerhin strahlten die Bordsteine vor ihrer Haustür ab sofort genauso grün wie die aus der unmittelbaren Nachbarschaft. Wenn es auch ein ziemlich unregelmäßig gestreiftes Grün war und Robin das Gefühl hatte, dass etwas daran fehlte. Aber er wusste immer noch nicht, was.

Und um genau dies herauszufinden, brauchte Robin dringend einen Ort, der ruhig und laut war, beides zur gleichen Zeit. Aber laut von einer Sorte Lärm, die Robin nichts anging, und still mit einer Stille, die nicht sprach. Und der einzige Ort, der dafür infrage kam, war Robins geheimer Ort unter der Brücke am Fluss.

Der Fluss strudelte breit und unbeschwert durch die Stadt, als kümmerte ihn das ganze Durcheinander da oben nicht im Geringsten. Dementsprechend streifte er die Häuser nur, weil auf einer seiner Seiten eine stark befahrene Straße entlangführte, während auf der anderen ein schmaler Rasenstreifen mit einer Uferpromenade lag mit hier und da einer Bank, auf der sich die Alten aus dem nahegelegenen Altenheim ausruhten, wenn sie auf ihren Nachmittagsspaziergängen gelegentlich ein Päuschen machten.

Weder die stark befahrene Straße noch der Rasenstreifen eigneten sich sonderlich gut zum Nachdenken. Und die Bänke erst recht nicht, weil die alten Leute, die darauf saßen, Robin einschüchterten mit ihren Geschichten von den schlimmen Dingen, die schon so lange zurücklagen, dass keiner sich daran erinnerte, außer sie selbst.

Aber der Ort unter der Brücke, auf der die Autos unablässig vom einen Teil der Stadt hinüber in den anderen sausten, taugte zum Nachdenken dafür umso mehr. Robin hatte den Platz zufällig entdeckt. Aber vielleicht war es auch kein Zufall gewesen, weil Robin nachmittags oft alleine loszog, und wer alleine loszog, fand mitunter eine ganze Menge. Selbst wenn Cathal deswegen mit Robin schimpfte, weil er mit ihm Brennball spielen oder Steine gegen Hauswände schleudern wollte. Briten verjagen, nannte Cathal das. Oder Sich-in-Selbstverteidigung-üben. Als könnten sie sich auf diese Weise ernsthaft auf den Ernstfall vorbereiten! Und Ernstfall meinte: dass es sie einmal selbst betraf, was sie meist nur aus den Nachrichten im Fernsehen oder im Radio oder in den Zeitungen oder von den Eltern hörten – all die Berichte von Bombenanschlägen, Schießereien und Überfällen.

Immer wollte Cathal etwas mit Robin unternehmen. Zu Hause herrsche ihm zu viel Trubel mit seinen vielen Geschwistern, sagte er, und dennoch wollte Cathal nie alleine sein. Manchmal verstand Robin seinen Freund nicht, wie auch Cathal ihn wohl häufig nicht verstand. Im Grunde war es ein Wunder, dass sie einander mochten.

Den Ort unter der Brücke erreichte allerdings nur, wer sich wagemutig übers Brückengeländer schwang und den kleinen Hang hinunterkullerte, wobei es durchaus vorkommen konnte, dass man von der ein oder anderen Brennnessel gebrannt wurde. Unten angelangt, galt es auch sogleich scharf abzubremsen, sonst ging es ab in den Fluss, der hier ohne jede Vorwarnung begann. Denn das Flussufer war kurz und schmal und steil. Aber dort, zwischen ein paar Grasflecken und vielen Kieseln, gab es einen Stein, der groß und breit war wie ein Thron. Wenn sich Robin daraufsetzte und die Beine zum Schneidersitz zusammenfaltete, wurde der Stein zu einer Art Ruhekissen und der Ort unter der Brücke wölbte sich wie eine Halle, in der Robin nach Herzenslust träumen und denken konnte. Und das Beste daran war: Niemand sah ihm dabei zu.

Denn während über Robins Kopf der Lärm brauste, der wunderbare Lärm, der ihn nichts anging, sammelte Robin seine verknoteten Gedanken ein wie andere Leute Blumen in eine Vase sammelten oder Briefmarken in Alben. Oder eben Fahnen und Farben, wenn sie in einem Land wie diesem lebten. Sie sammeln die Farben und kleben sie auf ihre Bordsteine, dachte Robin, als würden sie die Farben besitzen. Das Grün, das Blau, das Weiß, das Orange.

Und nun hatte Mum also beschlossen, dass es auch auf ihren Bordsteinen fortan grün leuchten sollte. Grün und nicht etwa orange. Und genau da, mit einem Schlag gewissermaßen, begriff Robin, warum ihm Mums Bürgersteig so merkwürdig vorgekommen war.

Robin kletterte hastig vom großen Stein und durchwühlte seine Hosentaschen. Und tatsächlich steckte dort noch der Geldschein, den Mum ihm neulich zugeschoben hatte, damit er sich mal was zu essen kaufen sollte. Weil Mum so ungern und so selten kochte und Robin so dünn war, dass der Nordwestwind ihn eines Tages noch in den Atlantik blasen würde. Eine knisternde, strahlende Zehnpfundnote, die sicher ausreichte, um damit in Murphys Laden, in dem es alles gab, was das Herz begehrte, einen Topf mit Farbe zu kaufen. Mit orangener Farbe, um genau zu sein. Denn plötzlich wusste Robin, was Mums Bordsteinen fehlte, damit es Bordsteine wurden wie all die anderen Bordsteine in der Nachbarschaft auch: Mum hatte das Orange vergessen!

Robin und die Farben der Bordsteine

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