Читать книгу Die Stunden der Nacht - Daimon Legion - Страница 10
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ОглавлениеVom Boden aufgelesen
Nachdem sie sich etwas gesammelt hatte, fand sie doch noch in der Hosentasche einen zerknüllten Fünfer-Schein. Von diesem kaufte Dani beim Bäcker Brötchen und einen heißen Kaffee. Zu heiß, als dass sie ihn tragen konnte, nahm sie Unmengen Zuckertütchen zur Hand und setzte sich in den beheizten Vorraum, um dort darüber nachzudenken, wie sie es nur fertiggebracht hatte, dem Tod von der Schippe zu springen.
Unter welchem Stern war sie geboren worden, dass die Lichtfänger sie abermals verschonten?
Kaum einer konnte das von sich sagen.
Ja, eigentlich gar keiner.
In dieser Nacht war ein Kind gestorben. Ein so kleines, junges Leben, das noch alles vor sich hatte. Es starb schwach, unbedeutend und sinnlos; wie eine Fliege, die von einer höheren Macht zerquetscht wurde. Einfach, weil diese Macht über Leben und Tod entscheiden konnte. Das Kind starb, während Dani überlebte.
Seufzend dachte sie daran, wie die Eltern sich fühlen mochten. Zerrissen zwischen Wut und Trauer, wie sie vor vielen Jahren. Es war niemals schön, einen geliebten Menschen zu verlieren. Waren Vater und Mutter bereits wach? Hatten sie bemerkt, dass jemand bei ihnen eingebrochen war, um ihr Baby zu stehlen? Nicht mal, um es zu fressen, nein. Es lag verrottend im Hof und würde von Ratten angenagt werden, ehe es jemand finden konnte.
Würde es heißen, es sei ein bedauerlicher Unfall? Würde man es so auslegen, dass das Kind nachts aus dem Bett – gar aus dem Fenster gefallen wäre? Würden die Eltern das glauben?
Wahrscheinlich wäre der Gedanke noch immer vernünftiger als die Existenz der Lichtfänger.
Warum haben sie es nicht gefressen?, dachte sie ernsthaft nach. Der Welpe hätte es sicher getan. Der Blaue auch. Was hatte der Alpha daran auszusetzen?
Wenn sie nur wüsste, worum es bei ihren Gesprächen gegangen war …
Gedankenverloren rieb Dani ihre kalten Oberschenkel. Zu Hause wartete ein warmes Bett auf sie. Und sie musste noch Robert anrufen, um … Moment.
Sie tastete sich ab. Noch mal zur Sicherheit. Tastete an ihren Gürtel.
Ups.
Augenblicklich verfiel sie in Panik.
Hastig stopfte sie sich die Brötchen in die Jackentaschen und trank den heißen Kaffee, auch wenn sie sich die Zunge verbrühte. Dann stürmte sie aus dem Geschäft, dass die Verkäuferin ihr nur verwirrt nachschauen konnte.
Ich bin so ein Idiot!, schimpfte Dani mit sich und rannte zurück zum Torbogen.
Die Taschenlampe! Die hab ich voll vergessen!
In einem Hof, der mit einer Leiche aussieht wie ein Schlachtfeld! Kann man so dumm sein?
Na ja, gab sie sich besser keine Antwort.
Zumindest um die Lichtfänger musste sie sich nicht mehr sorgen.
In der knappen halben Stunde, die sie beim Bäcker verbracht, ihre Wiedergeburt gefeiert und die Toten betrauert hatte, war die eintretende Dämmerung vorangerückt zu einem weißen Streifen am Horizont über der Stadt, der sicher alle Kreaturen der Nacht vor der brennenden Morgensonne warnte. Demnach war der Hinterhof wie leer gefegt, da Dani ihn beinahe stürzend erreichte. Sie war auf irgendetwas am Boden ausgeglitten und verzerrte sich das Bein.
Egal, ignorierte sie den dumpfen Schmerz und sah sich händeringend um.
Ihre Taschenlampe lag nicht dort, wo sie sie hatte fallen lassen. Das, was sie von ihr noch fand, waren kleine Plastikteile, zertreten, zerquetscht und verteilt über das dunkle Pflaster, welches im Schatten der Häuser lag.
Irgendwie erleichtert beruhigte sich Dani wieder. Unter den Umständen wären Fingerabdrücke und Ähnliches schwer zu gebrauchen. Die losen Splitter fänden nicht mal als Beweismaterial Beachtung … Bedauerlich war es dennoch. Das bedeutete nämlich, sie musste Geld für eine neue Leuchte zurücklegen. Die Garantie griff sicher nicht bei Dämonenschaden.
Sie hockte sich nieder und hob die Fassung der winzigen Glühbirne auf. An ihren Fingern klebte dabei noch etwas anderes.
„Was zum Geier …“, murmelte sie für sich und fühlte. Es war eine Flüssigkeit, schwarz und zähflüssig wie Öl oder Zuckerrübensirup. Vorsichtig roch sie daran. Es stank nicht nach Treibstoff oder sonst wie chemisch. Es erinnerte sie an einen Geruch wie … Erde. Nein, Moos. Das Zeug roch nach feuchtem Moos.
Jetzt schaute Dani genauer hin. Das war das Geschmiere, auf dem sie vorhin ausgerutscht war. Die Pflastersteine waren nicht nur wegen des Nachtschattens so schwarz. Sie waren beschmutzt, bekleckst mit diesem … Noch einmal strich die junge Frau mit dem Finger über den nassen Boden.
Ist das vielleicht …
Voller Abscheu schüttete sie es von sich ab.
Der Hof war getränkt mit Dämonenblut!
„Scheiße!“, fluchte Dani deftig und blicke sich suchend um. Liegt jetzt mehr als eine Leiche hier herum? Noch besser, eine Dämonenleiche! Wenn die Polizei die findet, sind die Nachrichten heute klar!
Nervös und mit bebendem Herzen versuchte sie, den Verlauf des Kampfes zurückzuverfolgen, der hier eindeutig vor wenigen Minuten stattgefunden hatte. Wie auch immer die Wölfe untereinander gewütet haben mussten, das Opfer ihrer Wut schien regelrecht zerfetzt worden zu sein. Große Blutlachen sammelten sich überall in der nahen Umgebung an. Ein Fleck an der Wand könnte bedeuten, dass der Graue mit aller Macht dagegen geschleudert wurde. Schleifspuren zogen sich über Mauern und Grund. Sie glaubte sogar, Fell- oder gar Fleischfetzen im Halbdunkel zu erkennen. Die frischeste Fährte aus schwarzen Blutstropfen führte ihre Aufmerksamkeit zu den Schatten unter dem linken Balkon vom Erdgeschoss. Mit letzter Kraft musste sich der Verwundete in den schmalen Spalt zurückgezogen haben. Anscheinend war er noch klar genug bei Verstand, um zu wissen, dass er dort sicher war vor dem schnell heraneilenden Morgenlicht.
Oder er suchte bloß einen ruhigen, unbehelligten Ort zum Sterben.
Geistesgegenwärtig nahm Dani den alten Kehrbesen zur Hand, der quer beim Schuppen lag und schlich sich an den mit Holz verkleideten Korb heran. Sie musste auf dem besudelten Boden in die Knie gehen und sich bückten, um unter das Balkongestell zu sehen. Erschrocken wich sie für einen Moment zurück. Der Anblick, der sich ihr bot, verstörte die junge Frau ungeahnt heftig.
Tatsächlich lag dort die schwarze Kreatur, zu einer riesigen Pelzkugel zusammengekrümmt im schützenden Dunkel. Unmengen von Spinnweben, Rattendreck, welkes Laub und Abfall verklebte das zottige, stinkende Fell, das die Gestalt umwickelte wie ein altmodischer Flokatimantel.
Nachdem sie sich beruhigt hatte, musste Dani auch stutzen. Das, was sie von dem Monster erkannte, sah irgendwie verändert aus. Noch konnte sie nicht mal sagen, woran sie das festmachte, doch der Lichtfänger wirkte auf sie … dünner als vorher. Groß war er geblieben, natürlich, jedoch auch … anders. Schmaler. Tapfer atmete sie durch, packte den Besenstiel fester und stieß den Körper mit dem Borstenkopf an.
Eine Reaktion blieb aus.
Von dem Berg aus Fell ging offenbar keine Bedrohung mehr aus.
Lebt er noch?, schätzte sie die Situation ab. Der Alpha sagte ja, sie hätten etwas unter sich zu klären. Die Strafe des Verräters? Hat er mit seinem Leben bezahlt, weil er mich damals nicht getötet hat?
Noch einmal stieß sie zu, doch der Dämon rührte sich wieder nicht. Unter dem gerollten Leib hatte sich eine Pfütze aus schwarzem Blut gebildet.
Wie viel muss er davon verlieren, um zu sterben?, stellte sie sich die Frage und sah diesen Giganten aus Knochen, Fleisch und Haaren mit gemischten Gefühlen an. Sie konnte hören, wie die Wunden tropften.
Er ist tot. Der grauäugige Teufel, der meine Familie zerstört hat, ist tot. Elendig verreckt am Blutverlust.
Wieso stimmte sie das nicht fröhlich? Müsste sie sich nicht freuen? Ihr Plan hatte doch wie erhofft funktioniert und der Lichtfänger wurde von seinem eigenen Rudel zerfleischt. Er hatte gebüßt. Die gerechte Strafe erhalten.
Aber Dani war damit nicht glücklich.
Ein drittes Mal stach sie das Fellbündel an und rief: „Hey!“
Als keine noch so geringe Antwort kam, kroch sie ebenfalls unter den Balkon. Das zähflüssige Blut weichte ihre Kleider durch, ließ den Stoff an der Haut kleben. Auf den Unterarmen robbte sie sich näher an den Körper heran und streckte die Hand nach dem Monster aus. Ihre Finger fassten in die dichten, glitschig-nassen Haare hinein. Sie unterdrückte ihren aufsteigenden Ekel, bis sie etwas Greifbares fand und kraftvoll daran zog. Das Geschöpf geriet unweigerlich in Bewegung, willenlos gleich einer kaputten Puppe.
Mit einmal hielt Dani ein nacktes Handgelenk fest. Irritiert musterten ihre Augen die erstaunlich menschlich wirkende Gliedmaße.
Eine blasse, grauhäutige, blutverschmierte Hand. Mit scharfen Krallen statt Nägel an den schlaffen, einstmals starken Fingern. Der Ringfinger fehlte. Wo er mal war, gab es nur einen vernarbten Stumpf.
Angewidert ließ sie die Hand auf den dreckigen Boden fallen.
Ein leises Röcheln kroch aus dem Fell. Der Wolf atmete flach und ein plötzlicher Hustenanfall schüttelte den ganzen Leib. Die Geräusche aus seinem Brustkorb klangen, als würden Samen in einer Kapsel rasseln.
Er lebt also.
Noch.
Einen Moment lang dachte Dani daran, dem ein Ende zu setzen. Diese verfluchte Bestie hätte bei der Entscheidung sicher nicht gezögert. Monster töteten schließlich ohne Gnade oder Moral. Sie würden nicht mal denjenigen schonen, dem sie etwas schuldig wären.
Leben und Leben lassen kennen die Typen nicht.
Sie jedoch war ein Mensch.
Und ein Mensch handelte nicht wie ein Ungeheuer.