Читать книгу Die Stunden der Nacht - Daimon Legion - Страница 12

9

Оглавление

Der dämonische Patient

Zu der Wand unter der Gitteretage, wo die Küchenzeile stand, gehörten auch zwei Türen, welche in die ehemaligen Personalbereiche der Fabrik führten. Die hinterste brachte den Besucher in die Mitarbeiterkantine. Neben verbeulten, aufgebrochenen und verstaubten Spinden, waren hier auch Duschen und Toiletten zu finden, die ein Freund von Dani glücklicherweise wieder an das Netzwerk der Stadt anschließen konnte, sodass Kalt- und Warmwasser flossen und die Heizung funktionierte.

Sollte der Winter einmal kälter ausfallen als gewöhnlich, konnte das Paar in die Kantine umziehen, ohne Sorge zu haben, erfrieren zu müssen. Da die Räume aber noch baufälliger waren als der Arbeitsbereich, blieb es bisher nur bei einer Notlösung, statt gänzlich darin zu hausen. Es würde nach wie vor viel Arbeit und Geld nötig sein, wenn das Gebäude den Bewohnern ein gemütliches Heim werden sollte.

Die vorderste Tür war ein außer Betrieb genommener Kühlraum für die hier einmal fabrizierten Lebensmittel. Heute diente er größtenteils als Lager für Kartoffeln, Zwiebeln und Ähnliches, was sich halten ließ. Auch Konserven in Regalen, schwere Farbeimer, Tapeten, ein metallischer Tapeziertisch, verschiedene Werkzeuge wie Pinsel und Zangen, allerlei gefundener Krimskrams, der sich noch irgendwie verwerten ließ, und Holzplatten zum Verbauen standen herum.

Jules wählte diesen Raum als provisorisches Krankenzimmer aus zwei Gründen.

Erstens war die Außentür sehr massiv und ließ sich nicht von drinnen öffnen.

Und zweitens gab es im kargen Inneren keine Fenster, durch die eventuell Sonnenlicht einfallen und dem Verletzten Verbrennungen zufügen konnte. Die einzigen Lichtquellen waren demnach die Neonröhren an der grob verputzten Zimmerdecke.

Eine solch beachtliche Fürsorge um das kümmerliche Leben des Mörders ihrer Eltern, bereitete Dani Bauchschmerzen. Die Rache in ihr nagte am schlechten Gewissen. Beide Emotionen lieferten sich einen heftigen Schlagabtausch. Einerseits wollte sie den Wolf leiden und sterben sehen – andererseits fühlte sie sich nicht gut dabei, einen ohnehin geschwächten Teufel noch leiden und sterben zu lassen.

Ihren Freund hatte sie schließlich weitestgehend von den Ereignissen der Nacht unterrichtet, während sie eine Nachricht an Robert schickte, dass sie sich nicht wohlfühle und heute im Bett bleiben würde. Was nicht ganz gelogen war, dennoch störte es sie persönlich, wegen diesem zerlumpten Flohteppich einen guten Freund und Chef zu belügen.

„Ganz schön clever von dir“, lobte Jules, der inzwischen die Isolierplane auf dem Kachelboden neben dem Niedergestreckten auslegte, „in einer solchen Situation dermaßen die Nerven zu behalten, dass sogar noch ein Vorteil für dich bei rausspringt.“

„Na ja“, teilte sie nicht ganz seine Meinung und packte den Lichtfänger unter den Armen, um ihn auf die Plane zu ziehen. Zusammen zerrten sie den Körper auf dem improvisierten Schlitten an den Lichteinfällen vorbei in die alte Kühlkammer. Die Anstrengung ließ Dani schwitzen, da sie schnaufend gestand: „Ich hatte schon Angst! Dieser Alphawolf war echt nicht ohne! Hätte er nicht selbst den Vorschlag gemacht, mich laufen zu lassen, wäre ich jetzt sicher ähnlich zugerichtet wie der hier!“

„Tja“, ächzte der schmächtige Jules, „und du wärst tot! So hat der allein seinen Kopf für dich hinhalten müssen. Macht euch das nicht irgendwie quitt?“

„Träum mal weiter!“, grimmte sie und ließ die Plane los, kaum dass sie die Raumgrenze überschritten hatten.

„Nicht?“

„Als wenn ich einem Killer je verzeihen könnte!“ Wütend stapfte sie in die Küche, um einen Plastikeimer mit warmem Wasser zu füllen, den sie neben den Wolfsdämon abstellte. Dani half ihm nicht seinetwegen, sondern weil Jules sie darum gebeten hatte. Der suchte währenddessen unter dem gemeinsamen Bett seine etwas in Vergessenheit geratene Arzttasche aus Zeiten des Studiums und kam mit dieser zurück.

Er lächelte scheu und begann vorsichtig damit, diesem Amon das dreckige Fell komplett wie einen Overall abzuziehen. Derweil holte Dani die gewünschte Autobatterie. Ihr Kumpel Luke hatte ihnen diese überlassen, nachdem er seinen alten Seat zum Schrotthändler gebracht hatte. Er selber konnte wenig mit dem Ding anfangen und hätte sicher nicht gedacht, dass sie mal nützlich wäre, um einem Dämon zu retten.

Mit dem Wasser wischte Jules das Blut und den übel riechenden Schleimfilm vom grauen Leib seines Patienten und desinfizierte die klaffenden Wunden mit einem brennenden Spray, was aber der Ohnmächtige nicht spürte. Mit Skalpell und Zange wurden die geborstenen Knochen gerichtet und die zerrissene Haut mit Nadel und Faden wieder zusammengezogen, ehe Mull Rolle um Rolle alles sauber verband.

In der Zwischenzeit wühlte Dani das klappbare Gästebett hervor und stellte es auf.

Ab und an sah sie zu dem Professor hinüber, der äußerst rücksichtsvoll für das furchtbare Monster sorgte. Gerade wickelte er den verarzteten Oberschenkelknochen und eine grob stabilisierende Stange mit mehreren Schichten Gaze-Bandagen ein. Seine ganze Faszination widmete sich danach (aus rein wissenschaftlicher Neugier, wie er ihr versicherte) den Pfoten des Wolfsmannes und er untersuchte die Schärfe sowie den Funktionsmechanismus der Krallen. Wie ein kleiner Junge kam er ihr vor, der ein lang ersehntes Spielzeug endlich erhalten hatte.

„Acht Zehen“, hörte sie Jules murmeln, „zehn Finger. Gut, er hat neun …“, bedachte er den Stumpf.

„Hatte er schon damals“, seufzte sie verstimmt und ließ sich aufs Bett fallen, dessen Federn hell quietschten, „deswegen war eine Verwechslung auch ausgeschlossen. Früher konnte ich halt nur nicht sagen, was mir an dieser Pfote so seltsam auffiel.“

„Vielleicht ist er mal in eine Falle getreten“, stellte er eine Vermutung auf.

„Dann hätte der Jäger ihn besser aufs Korn nehmen und abknallen sollen …“

Als er daraufhin vielsagend durchatmete, platzte ihr der Kragen.

„Jules, das Ding dort ist nicht unser neues Haustier! Bestenfalls ist er unser Gefangener! Dieser Wolf hat meine Eltern grausam getötet und es hat ihm auch noch Spaß gemacht! Wer weiß, wie viele Menschen er schon gerissen hat – Männer, Frauen und Kinder! Er ist eine brutale, gewissenlose Tötungsmaschine, ebenso wie der Rest seiner verdammten Art! Die haben heute Nacht ein Baby getötet, einfach so! Für einen Dämon ist ein Menschenleben nichts von Wert, vergiss das mal nicht!“

„Tu ich doch gar nicht!“, gab er sich entrüstet. „Ich habe es nicht vergessen! Aber vielleicht hat er ja auch seine Gründe, warum -“

„Warum er kleine Kinder tötet, ja? Vielleicht ist er ein Gourmet und steht mehr auf zartes Fleisch!“, war sie zornig, sprang auf und trat mit ihrem Stiefel gegen das Bettgestell, um es gegen die Wand scheppern zu lassen. Dann stampfte sie mit energischen Schritten aus dem Raum und schimpfte: „Pflege mal schön dein mörderisches Hündchen weiter! Ich geh duschen! Ich will diese stinkende Brennpaste loswerden, die der verdammte Mistsack mit sich rumschleppt!“

„Dani, ich hab es doch nicht böse gemein-, na, jetzt warte mal kurz!“, hielt er sie auf und traute sich wiederum kaum, seine nachkommenden Worte vorzubringen, so aufgebracht, wie sie ihn anblickte. Zögerlich hob er den schwarzen Fellmantel vom Boden auf und reichte ihn ihr zu.

„Könntest du das Teil bitte auswaschen? Ich denke nicht, dass es ein Fall für die Waschmaschine ist und wenn es weiter hier rumliegt, stinkt es auch nur …“

Die Punkerin brüllte laut auf, um ihrer Frustration Luft zu machen. Trotzdem entriss sie ihm den Mantel mit einer rabiaten Bewegung und fluchte: „Fein! Ich hoffe, der Kaftan geht ein!“

Der Flokati stank wahrlich wie nasser Hund, als sie ihn unter einen Duschstrahl legte. Mit nackten Füßen trat sie darauf herum, um das Fell zu walken und schwarzes Wasser verschwand im Abfluss. Es fühlte sich widerlich unter ihren Sohlen an. Genervt hockte sie sich nieder und benutzte doch die Hände.

Die Innenseite des schwarzen Fells war von einer dünnen Membran bezogen, die sich glatt, elastisch und weich anfühlte, als darüber das Wasser lief. Die Haare selber stachen darin wie in einer zweiten Haut. Kein Reißverschluss, keine Knöpfe. Schon vorhin hatte sie sich gewundert, wie Jules den Mantel hatte öffnen können. Zog er sich einfach auf?

Ach, wen juckt’s?, schimpfte sie stumm, rang das Bündel aus und schleuderte es fort. Es rutschte über die olivgrünen Fliesen, in den hinteren Teil des Duschraums. Dort wollte sie es auf einer Leine aufhängen, die für diesen Zweck zwischen den ungenutzten Armaturen gespannt war. Zu mehr waren die hiesigen Sanitäranlagen nicht zu gebrauchen. Verkalkt, verrostet und/oder undicht. Sollte sie irgendwann im Lotto gewinnen, fiel der Startschuss zum Ausbau der Fabrik.

Seifenschaum und Wasser spülten den Schmutz der Nacht von ihrem Körper fort.

Immer wieder fuhren ihre Finger über die raue Narbe.

Jules wünschte sich Vergebung …

Sie wusste keinen Weg dahin.

Gekleidet in ihren eigenen roten Bademantel und ein Handtuch um die nassen Haare gewickelt, ging Dani zurück zum Kühlraum. Ihr Freund war gerade mit der Arbeit fertig geworden. Sein teuflischer Patient glich inzwischen einer Mumie mit all den Bandagen und Pflastern. Eine fast zwei Meter große, drahtig gebaute, muskelbepackte, bald wieder zum Leben erwachende Mumie mit gefährlichen Reißzähnen und Klauen.

Hallo, Doktor Frankenstein, Igor ist zur Stelle, scherzte sie für sich ironisch.

„Kannst du mir bitte helfen, ihn aufs Bett zu legen? Mir allein ist er zu schwer …“, sprach Jules betroffen. Seiner eigenen Schwäche war er sich schmerzhaft bewusst, wie sie an seiner Stimme hörte.

Weil sie keinen neuen Streit heraufbeschwören wollte, tat Dani ihm den Gefallen, fasste die breiten Schultern Amons, während der Professor die leichteren Füße nahm. Im Gegensatz zu ihm ließ sie den Wolfsdämon unsanft auf das gespannte Laken fallen. Die Federn ächzten weit mehr unter seinem Gewicht als dem ihren.

Ihrer Grobheit nahm Jules nichtssagend hin. Zum Abschluss seiner medizinischen Leistung klemmte er die Anschlüsse der Autobatterie gleich einer Infusionskanüle an den freiliegenden Handrücken fest und schaltete den Strom ein. Nachdem sich keine negativen Anzeichen bemerkbar machten, ging er davon aus, dass alles seine Richtigkeit hatte. Er zog die raue, braune Zudecke über den Körper und atmete aus.

„Zufrieden?“, wollte Dani pikiert von ihm wissen.

„Ich hoffe, er schafft es“, meinte er ehrlich. „Wie gesagt, es kann ja sein, dass ich einen anatomischen Fehler gemacht habe. Allerdings muss ich auch sagen, dass das, was ich von seiner Struktur erfahren habe, einem Menschen in vielerlei Hinsicht ähnelt. Ein paar kleine Unterschiede in Farbe und Form, ja, aber so …“

„Der ist kein Mensch.“

„Weiß ich doch“, schmollte er halblaut.

Kurz standen sie schweigend nebeneinander und sahen auf ihren unwillkommenen Gast herab. Dessen Atmung wirkte jetzt etwas gleichmäßiger. Die geschlossenen Augenlider waren dunkel unterlaufen, weswegen der Kopf mehr an einen bleichen Schädelknochen erinnerte. Das wahre Gesicht des Todes.

Gähnend streckte Dani sich aus.

„Ich bin müde. Ich werde mich jetzt hinlegen.“

Jules nickte und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

„Und du passt solange auf ihn auf?“, fragte sie unsicher.

„Das krieg ich schon hin. Er rührt sich ja nicht. Ich werde später noch die Verbände wechseln, das schaffe ich aber allein.“

Von seiner ungewohnten Selbstständigkeit überrascht, hob Dani zwar die Brauen, dachte sich jedoch nichts dabei. Zu erschöpft von der Nacht, wankte sie Richtung Bett.

Jules wartete, bis sie eingeschlafen war. Dann zog er sich rasch Straßenkleidung an, griff nach seiner Börse und verließ schnellen Fußes die Fabrik.

Kalt und sonnig begrüßte ihn der Januarmorgen und eilig rannte er über drei Straßen, um eine Kaufhalle zu betreten. Schnurstracks suchte er die sonst so verschmähten Fleischwaren auf. Nicht für sich, sondern für den Dämon.

Ihm war klar, dass Amon einige Zeit bei ihnen verbringen würde. Und ein so großer Wolf gäbe sich bestimmt nicht mit Tofu oder Spiegelei zufrieden. Hungern lassen wollte er ihn auch nicht, weswegen er versorgt werden müsste. Dem Haushund servierte man ja auch keinen Brokkoli …

Sein schweifender Blick fiel auf Schnitzel, Rouladen und Rollbraten mit Zwiebel. In seinem jetzigen Zustand wäre Amon das Reißen und Beißen zu anstrengend. Jules entschied sich für Schweinehack, auch weil Schwein dem Geschmack eines Menschen vielleicht recht nahe kommen sollte. Als er mit dreimal Ein-Kilo-Paketen auf dem Arm zur Kasse ging, fühlte er sich wie ein Betrüger Dani gegenüber.

Wenn sie das Fleisch sah, würde sie kotzen. Wenn sie erfuhr, dass er den verhassten Mörder ihrer Familie fütterte, würde sie ausrasten!

Seufzend legte er die Ware auf das Band und sagte sich immer wieder im Kopf: Was sein muss, muss sein. Doch plötzlich spielten ihm die Augen einen Streich; dass er gerade im Begriff stand, ein totes Kleinkind – fein säuberlich abgepackt in Plastik – mit nach Hause zu nehmen. Morgen würde es in der Zeitung stehen. Viele Menschen hatten in diesem kalten Winter Angehörige verloren …

Und er beherbergte den Täter.

„Alles in Ordnung?“, fragte ihn die Verkäuferin und er schreckte aus seiner Gedankenwelt auf. Jules hatte gar nicht bemerkt, dass er an die Reihe gekommen war. Hinter ihm tuschelten die Rentner, die ebenfalls ihre Einkäufe früh erledigten, was er für ein seltsamer Vogel sei, weil er stocksteif mit offenen Augen träumte.

So zappelig, dass er die Hälfte seines Geldes verlor, bezahlte Jules das Fleisch und machte sich hastig davon. Kopfschütteln und verwirrte Blicke folgten ihm. Die hielten ihn jetzt bestimmt für den größten aller Freaks.

Mit zitternden Fingern vor Aufregung stopfte er das Hackfleisch in den Kühlschrank. Dani schlief weiter seelenruhig und auch Amon hatte sich keinen Zentimeter auf seiner Liege bewegt.

So weit alles gut.

Jules steckte sich endlich eine erste Zigarette an und sog den Rauch tief in die Lunge ein. Seine flatternden Nerven kamen langsam zum Stillstand. Er war die Außenwelt einfach nicht mehr gewohnt. Nichtsdestotrotz rannte er wie der geölte Blitz nach oben zu seinen Schreibtafeln, drehte die Notizen zur Gnostik um hundertachtzig Grad, wischte ein altes Thema fort (Drachen in Europa und Asien im Vergleich) und setzte die urbanen Wolfsdämonen mit Kreide darauf fest.

Fiebrig beschrieb er die zwei Formen, die ein Lichtfänger annehmen konnte, den riesigen Wolf und den nicht weniger riesigen Menschen mit schwarzem Blut. Größe, Geruch, Gewicht – er dokumentierte, was seine Freundin versucht hatte, ihm zu erzählen. Was war mit der Sprache der Wolfsdämonen? Dazu wusste Dani leider nicht viel zu sagen und Jules wünschte sich so sehr, dabei gewesen zu sein. „Wie ein Knurren“, wurden ihm die Worte beschrieben, mit vielen Vokalen. Die Menschensprache beherrschten sie auch bestens, selbst wenn sie irgendwie gebrochen klang. Was ihn ebenso interessierte, waren die anderen Rudelmitglieder. Der gebieterische Alpha, der grinsende Irre, der halbwüchsige Welpe. Was bedeutete das Kind? War er ein Schüler? Dani hatte diesen stimmlich auf circa zwölf Jahre geschätzt. Wer waren seine Eltern – seine Mutter, wenn das Rudel nur aus Rüden bestand? Wie bekamen Lichtfänger Kinder, im Wurf oder einzeln wie Menschen? Hatte der Welpe Geschwister? In welcher Beziehung stand Amon zu ihm, wenn er sich um ihn zu kümmern schien? War er der Vater oder der Bruder des Jungen? Außerdem fragte sich Jules, wie diese Dämonen alterten. Wenn Amon es war, der vor siebzehn Jahren Dani angegriffen hatte, hätte er nach menschlichen Maßstäben das Alter und die Größe des Welpen besessen. Gut, sie war ein Kind gewesen und ihre Erinnerungen vage hinsichtlich einer Größe, da Kinder diese anders wahrnahmen als Erwachsene. Trotzdem hatte er laut Dani damals nicht wie ein Welpe geklungen und gehandelt. Also war er älter, ausgewachsen. Alterten Lichtfänger in umgekehrten Hundejahren? Dann wäre er fast … zweihundert Jahre alt!

Neben den theoretischen Überlegungen versuchte sich der Professor an kleineren Experimenten. Er stoppte die Zeit, weil er wissen wollte, wie lang ein Tropfen Blut brauchte, um Asche zu werden, und inwieweit sich dieser brennbare Umstand auf andere Stoffe auswirkte. Dass Danis Jacke Feuer gefangen hatte, war ein erster Schock gewesen, doch bei näherer Betrachtung sah er, dass wirklich nur das Blut verbrannt war und der Stoff bis auf kleine Brandspuren unangetastet blieb. Natürlich, wenn das Feuer länger gebrannt hätte, wäre auch von der Jacke bald nichts mehr übrig geblieben.

Seine Forschungen und Spekulationen, Vergleiche zu artverwandten Dämonen und die Verstrickung von Wahrheit und Legende, führten ihn durch zig Bücher der Mythologie und Monsterkunde bis die Uhr zwölf zum Mittagessen schlug und ihn daran erinnerte, nach seinem Patienten zu sehen.

Aus dem Kühlschrank nahm er eine Packung Hackfleisch, ging damit zur Lagertür und schaltete das Neonlicht ein. Durch das kleine Schaufenster bemerkte Jules keine Reaktion des Insassen darauf. Amon war noch immer nicht zu sich gekommen. Zumindest schlief der Wolfsmann ruhig.

Als der Professor eintrat, roch er einen derben, hundeartigen Geruch, der ihm unangenehm war. Dennoch hockte er sich zu dem Dämon nieder, entfernte die Stromkabel und nahm die Verbände in Augenschein.

Die kleinen Kratzer und Schwellungen schienen bereits verheilt zu sein. Mehrere der Pflaster konnte er guten Gewissens entfernen. Was die offenen Brüche an Bein, Arm und Brustkorb anbelangte, so war die Blutung gestillt und stellenweise wuchs das Fleisch schon zusammen. Am Hals trat noch Wundflüssigkeit aus, aber an der Kehle bildete sich neue Haut. In den wenigen Stunden Bettruhe hatte sich der Zustand des Lichtfängers gebessert wie bei einem Menschen nach zwei oder gar vier Tagen.

Er besitzt starke Selbstheilungskräfte, dachte Jules und fühlte den Puls, der gleichmäßig schlug. Kein Wunder. Er ist ein übermenschliches Wesen. Gesteigerte Körperkraft, gesteigerter Wille, gesteigerte Energie. Er ist ein Kämpfer. Ein unbeugsamer wilder Wolf.

Wie beneidenswert.

Ja, er war neidisch auf diese Kreatur. Gerade in ihrer menschlichen Form.

Amon war als Mann das blanke Gegenteil von ihm. Ein Hüne, ein gefährlicher, todbringender Feind der Menschheit. Ein furchteinflößender Charakter, den man besser respektieren sollte, als sich gegen ihn zu stellen. Über ihn würde niemand spotten oder den Kopf schütteln. Eine Frau wäre von seinem maskulinen Äußeren mehr als angetan. Mit dem breiten Kreuz, den durchtrainierten Muskeln und seinem Hauch der Andersartigkeit würde er die Schönheiten magisch anziehen …

Im Vergleich zu ihm war Jules eine halbe Portion. Er könnte ihn durchbrechen wie einen Strohhalm. In einem dieser amerikanischen Teenager-Filme wäre Amon einer der coolen Typen vom College, denen alles gelang und jedes Mädchen nachsah. Und Jules mimte den unscheinbaren Bücherwurm in der Ecke, der von Frauen nicht einmal realisiert wurde.

„Fast schon ironisch, dass der starke Krieger jetzt auf die Hilfe des schwachen Intellektuellen angewiesen ist,“ schmunzelte er mehr für sich selbst, „die Hausaufgaben mach ich aber nicht für dich.“

Er riss die Fleischpackung auf und nahm etwas von der kalten, wurmartigen Glibbermasse auf die Finger, rollte diese zu einer kleinen Kugel und versuchte, sie dem Lichtfänger in den schlaffen Mund zu stopfen. Der Schluckreflex setzte mit etwas Überredung ein.

„Na, bitte“, grinste Jules, „wir kriegen dich doch hin“, und nahm das nächste Klümpchen Schweinehack aus der Plastikschale.

„… farmi …“

Vor Schreck ließ er fast alles fallen.

Sein Patient träumte. Unter den Lidern rollten Amons Augen schwach hin und her. Von den leicht geöffneten dunklen Lippen schlichen sich gemurmelte Worte.

„… farmisaiǩo …“

Der Traum fiel von ihm ab und der Wolf sank zurück in die Bewusstlosigkeit. Schweiß glänzte auf der fahlen Stirn und ein Tropfen lief über die Schläfe.

Schweigend wartete Jules ab.

Er hätte zu gern alles gewusst.

Die Stunden der Nacht

Подняться наверх