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ОглавлениеIn der Nacht
Die Südvorstadt galt seit jeher als Kneipenmeile.
Es machte keinen Unterschied, ob es Samstag oder unterhalb der Woche war – auf den holprigen Pflastern, die noch aus grauer Vorzeit stammten, und in den Altbauten, welche nur noch durch groben Putz und Schichten aus Werbeplakaten zusammengehalten wurden, tobte das Leben. Hier jubelten Menschen der verschiedensten Klassen, denn für jeden Charakter von ihnen gab es den passenden Tresen. Restaurants lockten mit Burgern und dem American Way of Life, subkulturelle Punks tanzten wild zu einem Stubenkonzert, Biker parkten blinkende Kerosinkarossen vor ihrem Stammklub und in dunklen Kaschemmen versumpften die Niedergeschlagenen zu einem letzten Bier.
Wer an den offenen Eingangspforten vorbeimarschierte, stolperte von einer Geräuschkulisse in die nächste. Bald vermischten sich die Töne mit dem eigenwilligen Musikgeschmack der Passanten, die auf der Straße liefen und ihre Lieblingslieder von Rave bis Hip Hop lauthals über ihre Handys der Welt unaufgefordert präsentieren.
Als ob der Lärm von Straßenbahnen und Autos nicht genügen würde, dachte Issy genervt.
Mit kaltem Wind und einem neuen Besucher kam der ganze Krach zu ihr herein.
Schallend fiel die schwere Holztür kurz darauf wieder ins Schloss und die junge Bardame polierte weiter still konzentriert die Biergläser am Spülbecken hinter der Theke. Sie selber spielte lieber handfesten Rock in ihrer kleinen Schenke, um die lästigen Außengeräusche zu übertönen. Sacht nickte sie mit dem Kopf zu einem Song von Nirvana.
Einige Gäste grölten schon schief mit.
Ja, die Jungs dort drüben beim Darts waren gut unterwegs. Dass die überhaupt noch die Scheibe trafen, grenzte ihres Erachtens nach an ein Wunder. Die Happy Hour hatten die Burschen gut genutzt, um sich mit Bier einzudecken, und Issy hatte nichts dagegen – solange es nicht zum Streit kam.
Erst letzte Woche gab es einen Vorfall, drei Ecken weiter die Straße hinunter. Eine Messerstecherei zwischen verfeindeten Gruppen, ein Toter, drei Schwerverletzte. Auch wenn das Viertel allgemein Amüsement anbot, sollte doch niemand die Gefahr unterschätzen, die unter den Menschen brodelte. Wer bei einem solchen Konflikt in die Schussbahn geriet, hatte oft schlechte Karten. Die Bewohner dieser Stadt sind nichts für schwache oder sanfte Nerven, wusste sie nur zu gut.
Als Issy den Burschen eine Runde Korn vorbeibrachte, meinte einer glatt, mit ihr tanzen zu wollen. Sie wand sich freundlich aus der unangenehmen Situation, machte einen Scherz, der Anklang fand und begab sich zurück auf die sichere Seite der Bar.
Mit dem Sound der Foofighters ließ die überhitzte Studentenverbindung komplett ihr Spiel sein und genoss bloß noch das reiche Angebot an Getränken.
Die Wirtin mit dem braunen Lockenkopf schmunzelte und schaute auf ihrer Playlist nach, ob sie nicht noch etwas Siebzigerjahre-Rock in die ohnehin gelöste Stimmung der Gäste mischen konnte.
Gegen vier Uhr in der Frühe, da Iron Butterflys Groove entspannt die letzten Nachtgestalten nach Hause trieb, wischte Issy noch die Flecken vom schwarzen Holz der Anrichte, leerte die benutzten Aschenbecher und wollte durchfegen, um schlussendlich ihre eigene Wohnung über der Kneipe auszusuchen, damit sie im Bett verschwinden konnte – jedoch lag dort unter dem Tisch ein junger Mann, schon im delirierten Halbschlaf.
Schnaufend brachte sie dem Betrunkenen auf die schlaffen Beine und schüttelte ihn so weit wach, dass der Bursche wieder zur Besinnung kam, um peinlich berührt seine eigene Hilflosigkeit mitzubekommen. Mit roten Ohren und unsicherem Gang schwankte er zur Kommode und griff mehrmals ins Leere, statt nach seinem gefütterten Anorak.
Höflich, wie Issy nun mal erzogen worden war, half sie ihm in die Klamotte.
„Isch danke dir, mei’ Herzbladd“, nuschelte der grüne Student mit schwerer Zunge und zog sie überschwänglich in eine Umarmung. Bevor er ihr noch auf den Schultern im Stehen einschlief, löste sich die Wirtin von ihm, zog die Tür auf und die frostige Luft eines Januarmorgens blies dem Mann Schneeflocken ins milchbärtige Gesicht.
„Kann ich nich’ bei dir bleiben, Süße?“, liebäugelte er trunken mit ihr, aber Issy war keine, die sich von einem niedlichen Dackelblick um den Finger wickeln ließ.
„Komm doch einfach morgen wieder!“, grinste sie lässig und schob ihn etwas zur Tür hinaus.
„Okay“, feixte er schief (das stand ihm nicht mal schlecht, musste sie zugeben), „das is ’n Versprechen, Knuddelmaus …“, und stolperte die zwei Stufen hinunter auf den Bürgersteig. Seine Turnschuhe traten in eine nasskalte Schneewehe. Torkelnd, als bewegte er sich auf Wackelpudding, drehte der Junge eine Achse um sich selbst, um Issy nochmals laut zu grüßen: „Dann bis morgen! Ich heiß Mark! Wie heißt’n du eigentlich?“
„Isabel“, antwortete sie und zog mit einem Winken die Tür zu. „Bye, Mark!“
Das Schloss rastete ein.
Allein mit sich und der Musik, lächelte Issy vor sich hin, während sie Klarschiff machte.
Wäre der Typ nicht so sturzbesoffen gewesen, hätte sie vielleicht länger überlegt. Attraktiv ist er ja, dachte sie, die paar Jahre jünger stören mich wenig. Zumindest ist er über achtzehn … Und wenn er studiert, hat er ja vielleicht doch mehr als Saufen und Darts im Kopf. Was wohl sein Fach ist?
Interesse flammte in ihr auf. Sollte sie ihn morgen danach fragen, solange er nüchtern war?
Ein wenig tat es ihr leid, Mark in seinem bleiernen Zustand vor die Tür gejagt zu haben.
Hätte sie ein Taxi rufen sollen?
Na ja, zuckte sie die schlanken Schultern, geht schon alles gut. Um die Uhrzeit wird ihm sicher kein Mensch mehr auflauern.
Und ist ja nicht so, dass ein großer Junge wie Mark nicht auf sich aufpassen könnte …
Gerade als Issy so an ihn dachte, wurde Mark bewusst, dass alles vorbei war.
Die Vorlesung über plastische Chirurgie würde er verpassen.
Und auch das Examen würde er nicht schaffen.
Er würde niemals Arzt werden.
Oder gar Issy morgen Abend wiedersehen, um ihr zu sagen, dass er sie wunderschön fand.
Dies war das Ende.
Sein Ende.
Der Tod kreuzte ihm den Heimweg.
Mit Reißzähnen und Krallen.