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ОглавлениеKindheitserinnerungen
Zur Weihnachtszeit putzte sich die Innenstadt festlich heraus mit goldenen Schleifen und riesigen roten Schmuckkugeln. Überall roch es nach Zuckerwatte, Gewürz und Glühwein. Menschenmassen trafen auf dem Markt zusammen, während auf der Schaubühne ein Kinderchor Lieder vom Heiligen Christ sang und ein verkleideter Mann den Nikolaus mimte.
Die siebenjährige Dani verfolgte mit offenem Mund die wackelnden Holzspielzeuge in einer Bude, derweil ihre Eltern Grog tranken. Ihre Mutter hatte Kerzen zum Verschenken gekauft. Sie war eine schöne, schlanke Frau mit langen blonden Haaren, die ihre Tochter geerbt hatte.
Auch wenn kein Schnee lag, ließ ein kalter Luftzug das Mädchen frösteln. Allmählich wurde es spät. Die Ziegen bei der aufgestellten Krippe hatte man bereits in den provisorischen Stall gesperrt und die hiesige Großstadtjugend begann laut auf ihre Art die Festtage zu genießen.
„Lass uns heimgehen, Daniela“, sagte ihr Vater. Wenn sie ihn so in seiner dicken Winterjacke betrachtete, erinnerte er sie an einen großen Teddybären mit dunklem Fell. Mit Leichtigkeit hob er sie in die Höhe und nahm sie auf die breiten Schultern, um sie unbeschadet durch das Gedränge führen zu können.
Die Straßenbahnen waren auch voll. Ihr Vater beschützte sie und ihre Mutter vor betrunkenen Fahrgästen und überließ ihnen den sicheren Sitzplatz. Zu diesem Zeitpunkt glaubte Dani, dass ihr Vater der stärkste Mann der Welt war. Er schien nichts und niemanden zu fürchten.
Auf dem Heimweg gähnte das Mädchen und ihre Mutter flüsterte beruhigend: „Wir sind gleich zu Hause.“
Die Nacht war still. Alle Menschen waren wohl in der Stadt auf dem Weihnachtsmarkt. Schwibbögen und Abendsterne leuchteten in den schwarzen Fenstern.
Aus heiterem Himmel hörte sie plötzlich ihren Vater fluchen: „Was zum Teufel …“ Erstarrt blieb er auf dem Weg stehen. Auch ihre Mutter rührte sich nicht mehr. Dani sah müde in ihre Blickrichtung.
Ein Stromkasten stand seitlich des Pfades. Das Plastikgehäuse war aufgebrochen und etwas riss mit kräftigen Zähnen an den elektrischen Kabeln, dass gelb-blaue Funken sprühten. Ein Mensch hätte sich einen Schlag geholt, doch dieses Wesen schien die austretende Energie wie einen Saft zu trinken. Hätte es das nicht getan, würde Dani denken, dort stände bloß ein riesiger, pechschwarzer Hund vor ihnen.
Kaum dass dieser seine Beobachter bemerkte, ließ er von seiner Strommahlzeit ab. Mit hochgezogenen Lefzen zeigte er ihnen seinen mächtigen Kiefer und knurrte aus tiefer Kehle. Die gewaltigen Tatzen traten näher an die Menschen heran.
Vater stellte sich vor Mutter und Tochter und sprach: „Lauft! Ich werde das Biest aufhalten!“
Danis Mutter wollte protestieren, doch das Monster griff an. Es sprang mit ungeheurer Schnelligkeit vorwärts und verbiss sich im Hals des Mannes, dass er nur noch gurgelnd schreien konnte von all dem Blut in seinem Rachen. Es drückte ihn zu Boden und schlug erneut zu, bis der Körper aufhörte zu zucken.
Mit triefendem Maul hob der Dämon den Schädel und lachte heiser. Ja, er lachte so schadenfroh und furchtbar, dass die Mutter Dani von sich stieß und brüllte: „Lauf weg!“, bevor er auch sie anfiel. Aber er tötete sein unterlegenes Opfer nicht sofort wie ihren Mann. Das Kind wankte zitternd einige Schritte zurück und sah mit tränenden Augen, wie der Wolf die Frau gierig betrachtete. Sein widerliches Grinsen wurde breiter, als sie von Angst zerfressen um Worte rang.
„Lauf weg!“, hörte Dani sie schluchzen, ehe das Ungeheuer seine Krallen an ihr schärfte.
Und sie rannte. Blind rannte das kleine Mädchen die Straße zurück, vorbei an der Haltestelle, immer weiter. Sie rannte, bis ihr alles schmerzte, und hörte nicht auf, denn sie wusste, er war direkt hinter ihr. Seine Pfoten hörte sie wie Hufschläge auf dem Asphalt trommeln.
Ihre Kräfte ließen nach. Ein schwarzer Schatten zog an ihr vorbei und riss ihr den Arm zu einer klaffenden Wunde auf. Dani taumelte, stürzte, blieb keuchend am Boden liegen. Es war aus mit ihr. Jetzt würde sie sterben. Das Letzte, was sie auf Erden sehen würde, waren die Zähne dieser grausamen Kreatur, die um sie her ihre Kreise enger zog.
Furchtsam blickte sie den Wolf in die eisengrauen Augen, die sie hungrig besahen. Er trat ihr auf den verletzten Arm, um sie unten zu halten. Etwas an dieser Pelzpranke war merkwürdig. Unvollständig …
Dani wimmerte.
Ihr war ganz schlecht vor nackter Angst.
Sie wusste, sie würde sterben.
Aufgefressen.
Gerade wollte ihr Bezwinger seinen dunklen Rachen öffnen, da stoppte er abrupt. Den Kopf gen Himmel erhoben, erschnüffelte das Wesen etwas in der kalten Abendluft. Ein Heulen kam mit dem Wind.
„Kaarn … Du hast diese Nacht noch Glück“, raunte er ihr Menschenlaute kalt ins Ohr und seine kratzige Stimme sollte sie noch Nächte lang verfolgen. „Pass gut auf dich auf. Ich werde in der Dunkelheit auf dich warten, um dich zu verschlingen.“ Dann ließ er von ihr ab. Als sich das Mädchen aufrichtete, war der Wolfsdämon in der Finsternis verschwunden. Und Dani konnte die Scherben ihres zerstörten Lebens einsammeln.
Der Sandsack musste so einiges einstecken. Die erwachsene Dani schlug und trat in ihrer Wut gegen das gefüllte Leder, dass die haltende Gliederkette schwer ächzte. Beinahe wollte man befürchten, die Halterung könnte brechen.
„Und was jetzt?“, wollte Jules von ihr wissen, während sie weiterdrosch. „Willst du raus in die Nacht und den Einen finden? Du weißt doch nicht mal, ob es dasselbe Rudel ist. Es ist eine lange Zeit vergangen, vielleicht ist der Kerl schon gar nicht mehr mit dabei …
Abgesehen davon ist es gefährlich. Wenn sie nur halbwegs wie Wölfe handeln, jagen sie sicher auch in der Gemeinschaft. Das heißt, du hättest nicht bloß diesen einen Gegner. Die zerfetzen dich, Dani, und du bist tot. Du kannst noch so trainiert sein, du bist nicht Buffy!“
Bei dem Vergleich stoppte die junge Frau für einen Moment und lachte leicht außer Atem. „Buffy? Mich kümmern doch keine Vampire! Außerdem wäre die Vorstellung, dass du die Rolle von Giles innehättest, absurd!“
Ihm fröstelte es bei dem Gedanken. Er war Mitte dreißig, keine fünfzig … Okay, im Gegensatz zu ihr, war er vielleicht so was wie alt, aber nicht so alt!
„Wenn es Vampire wären, wäre ich nur halb so besorgt!“, gab er schließlich zu. „Ich mach hier keine Scherze. Wenn du derart unvernünftig bist und dem Tod ins Maul rennst, bereue ich es zutiefst, die Lichtfänger überhaupt erwähnt zu haben!“
„Du kennst sie doch!“, argumentierte sie und trat kräftig gegen den Sack. „Du kennst ihre Schwachpunkte!“
„Einen Schwachpunkt: Sonnenlicht! Das ist aber keine Garantie für einen erfolgreichen Kampf gegen ein ganzes Rudel! Du hast eine kleine UV-Lampe, nichts weiter. Und ob die hilft, kann ich nicht beweisen.
Wir gehen davon aus, dass sie durch die Strahlung eben wie die Blutsauger zu Staub zerfallen. Es ist aber nur eine Vermutung, weil ich niemals gehört habe, dass sie jemanden bei Tage angriffen. Die Köter vertreten voll die dunkle Seite der Macht. Trotzdem weiß ich nicht, liegt es am UV oder an etwas völlig anderem?
Ich habe mein ganzes Leben lang schon Monster und Ungeheuer, Dämonen und Götter studiert, dennoch kann ich dich allein theoretisch beraten! Ist ja nicht so, dass ich bereits einem Dämon gegenübergestanden habe, um ihn auszufragen! Mir fehlt es schlicht an Praxiserfahrung!“
„Schon klar!“, rief Dani und boxte eine Salve von Schlägen ab. Allmählich bekam er mit ihren Knöcheln Mitleid. Schnaufend kam sie zum Schluss und atmete durch.
„Den Punkt hab ich dir voraus!“, sprach sie verbittert. „Ich stand ihm gegenüber.“
„Aber der gefährliche Wolfsmann hat dich laufen lassen“, warf Jules ein.
„Gezwungenermaßen, wie mir scheint“, erinnerte sie ihn und wies auf ihren rechten Oberarm. Unter ihren bunten Tätowierungen konnte er die Narbe von damals noch deutlich erkennen. Die Bissspuren einer Bestie, die keiner außer ihr gesehen und für die es nie Zeugen gegeben hatte. „Ihm kam was Wichtigeres dazwischen, als mir den Hals zu zerfetzen!
Jules, ich hatte jahrelang Albträume und Nachtangst wegen dem verdammten Vieh! Wegen dem Flohfänger habe ich meine Zeit mit nutzlosen Therapien vergeuden müssen und durfte mir von sogenannten Experten anhören, wie verrückt, selbstverletzend und armselig ich angeblich sei! Schon deshalb werde ich ihm nie verzeihen, dass er mir mein Leben versaut hat! Jetzt bin ich nämlich stark und werde diesen Dämon jagen, damit der mal selber lernt, was Angst ist!“
Resigniert stöhnte er auf. „Deine Kraft ist beeindruckend, ja, aber er ist kein Mensch. Er ist keiner von den Machos, die du immer verprügelst. Er wird sein Versprechen halten und dich töten. Das lasse ich nicht zu.“
Mit einem Handtuch wischte sie sich den Schweiß von der Haut.
„Ich werde mir diese Gelegenheit nicht entgehen lassen. Ich hab keinen Bock, noch mal siebzehn Jahre zu warten. Schließlich werde ich nicht jünger.“
„Dani“, nutzte er jetzt ihren üblichen Tonfall der Belehrung, „willst du dir seinetwegen die Nächte um die Ohren schlagen? Was ist dann mit deinem Job? Und mit mir? Willst du mich einfach zurücklassen?“
„Du würdest es verstehen, wenn du Ähnliches erlebt hättest“, sagte sie entschlossen. „Zur Not mach ich halt im Job Kasse. Und du wusstest, wie ich mich entscheiden würde, schon als wir uns begegnet sind. Das ist mein Ziel, Jules. Rache für meine Familie und dafür, dass er mir eine normale Jugend verwehrt hat! Ich habe die Schnauze gestrichen voll von diesem Dämon! Ich will Vergeltung!
Danach kann ich endlich abschließen.“
Ja, weil du dann tot bist, traute er sich nicht, die Worte laut auszusprechen.