Читать книгу Ein herrlicher Ort für das Unglück - Damir Karakaš - Страница 12

6.

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Ich nehme die raschelnde Plastiktüte mit der Scheiße aus der Kloschüssel, schnüre sie fester zu und gehe nach draußen. Ein paar Nachbarn kommen vorbei und ich beeile mich, ihnen zu entwischen. Sie merken, dass etwas stinkt, vermutlich glauben sie, dass ich mir in die Hose gemacht habe. Draußen quillen die Container und Mülleimer über, und die Scheiße oben drauf oder daneben liegen zu lassen kann manchmal gefährlich sein. Jemand kann bemerken, dass es sich um Scheiße handelt, und mich beschuldigen, dass ich zu al-Qaida gehöre und versuche, in Paris eine Seuche freizusetzen.

Ich laufe die Rue Tolbiac hinunter bis zur Metrostation François Mitterrand. Es stinkt und die Menschen drehen sich nach mir um. Ich werde paranoisch, denke, dass mich alle anstarren. Außerdem habe ich Angst, von der Polizei angehalten zu werden. Ich muss diese Scheiße schnell irgendwo loswerden.

Am Ende entsorge ich sie heimlich im Fundament eines zukünftigen Geschäftsgebäudes und renne panisch zur Metro.

Gegen Mittag komme ich zum Pompidou, packe meine Sachen aus, klappe die Stühle auf, bringe meine Kleidung in Ordnung, hole die Werbekarikatur heraus und begreife dann, dass ich heute überhaupt keine Lust zum Zeichnen habe. Ich habe keine Energie dafür. Also entscheide ich mich, in die Bibliothek zu gehen. Hoffentlich ist die Schlange nicht zu lang; der Eingang ist auf der anderen Seite des Centre Pompidou, von hier aus kann ich nicht sehen, wie lang sie ist. Wenn sie hundert Meter lang ist, bedeutet das eine Wartezeit von einer halben Stunde, wenn sie viel länger ist, dann werde ich an der Seine spazieren gehen. Ich gehe um das Gebäude herum, schätze ab, dass ich eine halbe Stunde werde warten müssen, und entscheide mich zu bleiben. Die Wächter warten ab, bis zehn Personen herausgekommen sind, und lassen erst dann die nächsten zehn herein. Wie in einer überfüllten Disco. Als ich endlich an der Reihe bin und man mich ordnungsgemäß abgetastet hat, kann ich kaum einen freien Platz finden.

Ich setze die Kopfhörer auf: Klassik, Jazz, neapolitanische Lieder …

Später fahre ich mit der Rolltreppe nach oben, wo es tonnenweise interessante Bücher gibt.

Abends setze ich mich in die Metro und mache einen Ausflug zum Montmartre. Ich verweile bei den serbischen Zeichnern, die im Stehen mit schnellen Strichen Karikaturen und Portraits für Touristen anfertigen. Unter ihnen bemerke ich einen Eindringling, einen Araber in einer Tarnhose, und ich sehe, dass er unbeschreiblich glücklich ist, weil es für ihn – genau wie für alle anderen hier – sehr gut läuft. So ist es jedes Mal: Sie lassen den Eindringling ein, zwei Tage lang zeichnen, dann verprügeln sie ihn. Auf diesem Kopfsteinpflaster, das in das Herz von Montmartre führt, dürfen nur Serben zeichnen, vielleicht noch Montenegriner. Hier habe ich es in den ersten Tagen auch versucht, zusammen mit einem Iraner mit riesigen weißen Zähnen.

Wir schwiegen, zügelten unsere Aufregung und zeichneten. Es lief sensationell gut.

In der ersten Nacht bekam ich vor Aufregung kein Auge zu.

Alles schien so einfach, das Geld lag auf der Straße.

Die ganze Nacht lang rechnete ich aus, wie viel ich in einem Monat verdienen würde. Im Traum zählte ich das Geld, ich war ja als reicher Mann eingeschlafen. Am nächsten Tag kamen wir wieder hierher und es lief wieder glänzend.

Ich war gerade dabei, einen Amerikaner im weißen Anzug mit goldenem Siegelring am Zeigefinger zu zeichnen.

Der Iraner hatte zwei Afrikanerinnen mit bunten Turbanen an der Angel. Die eine zeichnete er und der anderen – der Schöneren – machte er den Hof. Die anderen Zeichner waren ebenfalls überbeschäftigt.

Da bekam ich von hinten einen heftigen Schlag auf den Kopf.

Neben mir lag der Iraner, er winselte und hielt sich den blutigen Kopf.

Die Zeichner um uns herum waren verschwunden, auch unsere Kunden waren geflohen.

Nach einer halben Stunde kamen die Zeichner zurück und fuhren mit ihrer Arbeit fort, als wäre nichts passiert. Ich wurde wütend, knirschte mit den Zähnen und dachte darüber nach, wie ich mich rächen könnte. Doch am nächsten Tag riet mir Hristo in aller Freundschaft, dass es klüger sei, dieses Ereignis sofort zu vergessen.

Er meinte: »Nur so können sie ihr Territorium verteidigen.«

Jetzt verspüre ich wieder die schreckliche Wut. Ich kann mich kaum zurückhalten, am liebsten würde ich ihnen sagen, dass sie mich noch kennenlernen werden. Wie sie wohl reagieren würden, wenn sie erführen, dass ich Kroate bin?

Vielleicht würden sie mich wieder angreifen.

Vielleicht würden sie mir auch erlauben, hier zu zeichnen.

Ich stehe da, ganz nah bei ihnen, und einige bieten mir sogar an, mich zu zeichnen, da sie mich für einen Touristen halten.

Sie haben mich nicht erkannt. Wie könnten sie sich auch an alle erinnern, die sie verprügelt haben?

Ich überlege mir, ob ich den Araber warnen soll, beschließe dann aber, mich doch nicht einzumischen.

Ich gehe weiter, laufe, bleibe stehen. Ich stehe da und betrachte die Stadt, ihre unzähligen Lichter, die schwer zu beschreiben sind. Ich erinnere mich an einen Satz von Henry Miller, der einmal gesagt hat, dass Paris nachts von hier aus gesehen wie ein Edelstein aussieht, der am Boden einer Schüssel zerschlagen wurde. Doch ich genieße den Blick nicht.

Mein Kopf tut so weh, als würde mir jemand die Haare ausreißen.

Während ich die Lichter betrachte, beginne ich über Morana nachzudenken, darüber, wie ich ihr am Montparnasse – sie war gerade vom Yoga gekommen und wir gingen zur Metro – gestand, dass ich sie mit einer Frau betrogen hatte, die im Kino bei der Metrostation Lourmel Karten abreißt. Als ich ihr alles gesagt hatte, zerkratzte sie mir vor allen Leuten das Gesicht.

Die Kommunikation zwischen Morana und mir lief absurderweise auf Französisch am besten.

Sie spricht diese Sprache perfekt: Als Kind lebte sie in Montpellier, später studierte sie Französisch an der Philosophischen Fakultät in Zagreb. Wenn sie spricht, können die Franzosen nicht begreifen, dass sie keine Französin ist, sie meinen, dass sie von irgendwoher aus dem Süden stammt. Zu Hause unterhielten wir uns auf Französisch, damit ich schneller Fortschritte machte: Wir lachten über meine ständigen Fehler. Nur wenn wir lachten, schien mir unsere Beziehung einigermaßen sinnvoll zu sein. Auf Kroatisch zeigte sich nur noch der widerliche Alltagstrott.

Als sie beschlossen hatte, zur Promotion nach Paris zu gehen, und ich mich dazu entschloss, sie zu begleiten und in Paris eine internationale Schriftstellerkarriere zu beginnen – davon hatte ich schon immer geträumt –, übersetzte sie mein Buch »Ein herrlicher Ort für das Unglück« ins Französische. Doch zwischen uns begann es schon in Kroatien schief zu laufen. In Paris ging dann alles vollständig in die Brüche. Dabei hatte ich für kurze Zeit geglaubt, das Leben in der Fremde würde uns helfen, ein reset unserer Beziehung hinzubekommen, sie auf neue Füße zu stellen. Und doch hatte ich die Vorahnung, dass wir am Ende angelangt, dass unsere Tage gezählt waren.

Früher hatte ich meine Freundinnen ständig betrogen, sie aber wollte ich nicht betrügen.

Ich weiß aus Erfahrung: Wenn man einmal betrügt, wenn man diese Linie überschreitet, dann ist es schwer aufzuhören.

In den letzten Monaten hatte ich begonnen, auf Pornoseiten herumzusurfen.

Ich überprüfte, ob sie nicht doch in der Nähe war, und dann wechselte ich von einem Clip zum nächsten und onanierte hemmungslos.

An jenem Abend, nachdem ich ihr die Sache mit der verfluchten Kartenabreißerin gestanden hatte, kniete ich mitten in der Wohnung, vor mir den Rucksack, in den ich langsam meine Sachen stopfte. Morana saß auf dem Stuhl neben dem Fenster. Ihr Gesicht war versteinert, sie starrte aus dem Fenster.

Der Wind bauschte den Vorhang auf. Das war das einzige Geräusch.

Wie in Horrorfilmen.

Ich stand auf, ließ den Kopf hängen und entdeckte ihre Pantoffeln an meinen Füßen.

Ich seufzte tief auf, mein Atem zitterte.

»Vielleicht sollten wir uns noch einmal unterhalten«, presste ich leise hervor.

»Worüber?«

»Über uns.«

»Du hast deinen Teil schon gesagt.«

»Ich würde dir verzeihen«, sagte ich. »Ich würde versuchen, dich zu verstehen.«

Sie sah mich mit ihren großen grünen Augen an, als wollte sie mich mit Blicken abschlachten.

»Nimm deinen Kram und verschwinde«, flüsterte sie.

Ich ahnte, dass sich Tränen unter ihren Augenlidern versteckten.

Ich kniete mich wieder hin, zog das Packen in die Länge.

Plötzlich schluchzte sie laut auf.

Sie verbarg das Gesicht in den Händen, stieß meine Hand von sich, als hätte sie etwas gebissen. Dann stand sie weinend auf und begann, auf mich einzuschlagen und einzutreten.

Sie ging zur Spüle, griff sich ins Haar und begann, daran zu zerren.

»Morana«, sagte ich. »Ich liebe dich.«

Sie schrie auf, schnappte sich ein Messer von der Spüle und warf es in meine Richtung. Ich konnte gerade noch ausweichen.

»Geh weg«, schrie sie. »Du hast mein Leben zerstört.«

Ich saß in der letzten Reihe des Busses, sonst waren da nur der Fahrer mit einem lustigen aufgezwirbelten Schnurrbart und hinter ihm eine Oma in Schwarz. Die Strecke Split – Zagreb. Nur noch fünf Minuten bis zur Abfahrt. Dann kam ein hübsches Mädchen mit einer schwarzen Bürstenfrisur herein (damals hatte sie das Haar noch nicht rot gefärbt). In ihrem Gesicht erschien alles größer, vor allem die Lippen. Der Fahrer sagte etwas zu ihr und sie lachte. Ihre weißen Zähne gehörten nicht zu dieser Welt.

Und dann noch diese runden, sexy Nasenlöcher! Sie kam mir vor wie eine weiße Schwarze.

Als sie auftauchte, wusste ich sofort, dass zwischen uns etwas passieren würde.

Sie ging nach hinten und setzte sich direkt vor mich.

Als der Bus losfuhr, waren wir symmetrisch darin verteilt: links vorne der Fahrer, hinter ihm die Oma, hinten rechts ich, vor mir dieses Mädchen.

Als hätte jemand unsere Sitzordnung vorher festgelegt.

Ich wollte sie sofort anbaggern. In meinem Kopf schwirrten Fragen herum wie Fliegen in einer Pferdemähne.

Doch auch zwei Stunden später dachte ich immer noch über die Methode nach, wie ich sie anmachen sollte.

Mir fiel nichts ein.

Dann erreichten wir meinen Geburtsort. Es begann zu regnen; die Tropfen schlugen auf das Dach des Busses.

Der Bus bewegte sich nur mit Mühe durch den zähen Schlamm, der die Straße bedeckte. Der Regen wurde stärker, von irgendwoher fielen Äste auf den Bus. Draußen konnte man hässliche, unverputzte Häuser sehen, Autowracks, die nur noch vom Rost zusammengehalten wurden, Hunde ohne Schwänze (in meiner Gegend schneidet man den Hunden die Schwänze ab, da man glaubt, dass sie so gefährlicher werden und das Haus besser hüten), und dann schlug ein Blitz ein und beleuchtete eine Szene, in der ein betrunkener Mann hinter einem Huhn herlief und versuchte, es in eines der Autowracks zu treiben.

Twilight zone, so ungefähr sah das aus.

Plötzlich reckte ich den Hals und fragte das Mädchen: »Entschuldige, weißt du, in welchem Ort wir sind?«

Sie zuckte zusammen, schaute erschrocken aus dem Fenster, sah dann mich an und meinte: »Keine Ahnung.«

Dann sagte ich: »Das ist mein Kaff.«

So lernte ich Morana kennen.

XXXXX

From: ana.m@free.fr

Herzlichen Gruß von der weiblichen Person, die ein wenig zu viel getrunken hat, hick, obwohl man damit nicht prahlen sollte. Man sollte es auch nicht herumerzählen, hick, aber mir scheint, dass Wodka einen positiven, kristallklaren Einfluss auf mein Verständnis der Welt und der Situation hat, im kristallklaren Aufleuchten der momentanen Erkenntnis, reitend auf dem Schlitten von Väterchen Frost durch die sibirische Winternacht, auf der Flucht vor den Wölfen, vor Rasputin und der Schneekönigin, und es ist schon richtig, sich deiner zu erinnern, lieber Fjodor, wärest du hier, würde ich auch dir Wodka anbieten, dazu Plätzchen aus Schnee, den ich in einem Tuch aufbewahre, auf das russische rote Rosen gestickt sind, die im Sommer blühen, sie sprießen heldenhaft aus dem Grab hervor, aus dem verharschten Schnee und dem Eis, ich fahre jetzt mit dem Schlitten zum sibirischen Supermarkt, hoffentlich geht es dir gut, ich brauche in jeder Hinsicht Unterstützung, denn die Nacht ist lang und kalt. Warum meldest du dich nicht?

Ana

Ein herrlicher Ort für das Unglück

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