Читать книгу Shadow House - Dan Poblocki - Страница 10
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Marcus und Poppy standen in einem Korridor, der von der späten Nachmittagssonne durchflutet war. Als die Sonne hinter den Bäumen jenseits der grünen Wiese langsam tiefer sank, wurden die schartigen Schatten, die durch die alten Bleiglasfenster fielen, länger und krochen Stück für Stück an der gegenüberliegenden Wand hoch.
Marcus riss sich von dem Anblick los und sah zu Poppy. Sie hielt noch immer den bebenden Türknauf fest.
»Poppy, wir haben den Riegel vorgeschoben«, sagte er. »Ich glaube nicht, dass der gruselige Typ uns jetzt noch folgen kann.«
Poppys Augen verrieten ihre Angst. »Und was ist, wenn er den Riegel zurückschieben kann?«
Marcus verzog das Gesicht. Daran hatte er nicht gedacht. »Dann lass den Türknauf doch los und warte ab, was geschieht«, schlug er vor. »Wenn sich die Tür öffnet, können wir sie immer noch zuhalten, bis Mr Fox die Kräfte ausgehen.«
»Können Geistern überhaupt die Kräfte ausgehen?«, fragte Poppy.
Marcus schüttelte den Kopf und versuchte, sich seine Frustration nicht anmerken zu lassen. »Je länger wir hierbleiben, desto schwieriger wird es, die anderen zu finden.«
Poppy dachte kurz darüber nach. »Stimmt, du hast recht.«
»Danke«, entgegnete Marcus beklommen.
Langsam nahm sie ihre Hand vom Knauf, ohne den Riegel aus den Augen zu lassen. Er blieb zu. Poppy zählte im Kopf bis zehn, bevor sie erleichtert aufatmete.
»Das war … ich kann nicht glauben …« Seufzend richtete sie sich auf. »Und wie finden wir jetzt Azumi und Dash? Das war so dumm – ich hätte einen Treffpunkt vorschlagen sollen.«
»Nein, vielleicht ist es so besser«, überlegte Marcus. »Wenn du einen konkreten Ort genannt hättest, das Spielezimmer zum Beispiel, hätte Cyrus eventuell verhindert, dass wir dorthin kommen. Er hätte uns alle möglichen Hindernisse in den Weg legen können.«
Poppy seufzte. »Und was machen wir nun?«
»Das fragst du mich?«
»Klar, wen sonst?«
»Wir marschieren los«, schlug er vor und versuchte, möglichst selbstsicher zu klingen. Er war überrascht, dass Poppy ihn nach seiner Meinung fragte. »Weißt du noch, wie ich unten im Festsaal Klavier gespielt habe und Dash und du mich nur deshalb gefunden habt, nachdem ihr euch verlaufen hattet?«
Poppy blinzelte ohne große Überzeugung. »Und weiter?«
»Das gilt auch hier. Wir rufen nach ihnen, und sie rufen sicher nach uns. Dann werden wir uns über kurz oder lang finden.«
»Ja, könnte klappen.« Poppy nickte abwesend. Ihre Augen wirkten glasig, als hätte sie bereits genug davon, ihm zuzuhören. »Aber wir müssen nach Mr und Mrs Fox Ausschau halten, und nach anderen finsteren Gestalten, die wir nicht kennen.«
Sie ließen den Schlafsaal hinter sich und gingen durch den hellen Korridor. Dabei riefen sie ein ums andere Mal: »Dash! Azumi! Dylan!«
Hinter ihnen hämmerte Mr Fox mit seinen Gespensterfäusten an die verriegelte Tür. Zu ihrer Linken gingen etliche Türen in dunkle Räume ab, die sie instinktiv mieden.
Auf einmal wehte ihnen eine warme Brise entgegen. Sie brachte einen Gestank mit sich, der so übel war, dass Marcus und Poppy stehen blieben und sich die Nase zuhielten.
»Was ist das?«, keuchte Marcus.
Poppy versuchte, ihren Ekel zu unterdrücken, und sagte mit einem Schulterzucken: »Bei uns in der Stadt lag mal eine tote Ratte vor dem Fenster.« Sie deutete in die Richtung, aus der die Brise kam. »Aber das hier ist schlimmer.«
»Ich muss mich gleich übergeben«, stöhnte Marcus.
»Du musst durch den Mund atmen.« Poppy deutete mit dem Kinn nach vorne. »Wo könnte das herkommen, was meinst du?«
»Aus einem offenen Grab? Aus der Kanalisation? Oder es ist ein Troll mit echt fiesem Mundgeruch …«
Während sie weitergingen, wuchs die Brise zu einem kräftigen Wind an. Heftige Windböen zerrten an ihrer Kleidung. Und der Gestank wurde noch schlimmer.
Ein paar Meter weiter kamen sie zu einer Biegung – ein neuer Korridor begann, der offenbar zurück in die Tiefen des Hauses führte. Vereinzelte Wandleuchten strahlten die vertraute blau-schwarz strukturierte Satintapete an. Marcus fragte sich, ob das Rankenmotiv immer noch wie Herzschläge pulsierte – ähnlich wie der Rhythmus der Musik, die ihm früher ständig durch den Kopf gegangen war. Er hasste es, wie ruhig seine innere Welt ohne sie war.
»Dash! Azumi! Dylan!«, rief er mit lauter Stimme.
Ein heftiger Windstoß ließ ihn unvermittelt stehen bleiben. »Ich halte diesen Gestank nicht aus. Wir müssen umkehren«, keuchte er.
»Warte …« Poppy stand vor der Gabelung. »Ich habe eine Idee.«
»Eine Idee, die mir vermutlich nicht gefallen wird, stimmt’s?«
»Die Regeln der realen Welt scheinen hier in Larkspur nicht zu gelten, richtig?«
»Wenn du meinst.«
»Weißt du, alles, was wir bisher erlebt haben, hat uns in bestimmte Richtungen gelockt«, fuhr Poppy fort. »Etwas wollte verhindern, dass ich mir im Büro die Unterlagen ansehe, und deshalb ist das Zimmer in Flammen aufgegangen. Dann die zugenagelte Tür – und bevor wir herausfinden konnten, was es damit auf sich hatte, ist ein Maskierter aufgetaucht und hat uns angegriffen. Die Speziellen jagen uns, und wir können sie nur abwehren, indem wir ihnen die Maske vom Gesicht reißen.« Poppy legte die Stirn in Falten. »Wenn das Haus und alles, was sich darin befindet, Rätsel sind, die Cyrus sich ausgedacht hat, dann finden wir die Lösungen vermutlich nur an Stellen, die äußerst schwer zu erreichen sind.«
»Du meinst also, Cyrus will nicht, dass wir weiter in diese Richtung gehen?«, fragte Marcus. »Und nur deshalb ist es hier so windig und stinkt fürchterlich?«
»Dort muss etwas sein, was wir nicht sehen sollen, vielleicht sogar ein Weg ins Freie.«
»Aber wenn er sogar die Wände verschieben kann, dann könnte er doch auch diesen Korridor hier blockieren. Vielleicht ist das bloß ein Spiel, so eine Art umgekehrte Psychologie. Wie: Geht da nicht rein!« Marcus legte sich beide Hände an den Mund und flüsterte: »Aber in Wirklichkeit … geht rein!«
Poppy starrte ihn kopfschüttelnd an. »Also ich weiß nicht, Marcus.«
»Und was, wenn es tatsächlich der Weg ins Freie ist? Sollen wir die anderen dann hier zurücklassen?«
»Das wäre schlimm.« Poppy stellte sich wieder dem heftigen Wind. »Darüber machen wir uns Gedanken, wenn es so weit ist.«
Die starke Brise wirbelte ihre Haare durcheinander und wehte sie nach hinten. Einen Moment lang war Markus verblüfft, wie ähnlich sie mit freier Stirn dem Mädchen von dem Gemälde sah, das sie entdeckt hatten, kurz bevor Dylan weggelaufen war. Consolida Caldwell – Poppys »Mädchen im Spiegel«, die gespenstische Freundin, die Poppy ihr ganzes Leben lang begleitet hatte.
Marcus versuchte, einen Anflug von Neid zu unterdrücken. Auch er hatte sein Leben lang einen heimlichen Begleiter gehabt, einen Musiker, der ihn Melodien hören ließ, ganze Kompositionen, die durch seinen Kopf tanzten und dann aus seinen Fingern strömten. Alle hatten Marcus für ein musikalisches Wunderkind gehalten, und dabei hatte er nur die Melodien nachgespielt, die er Tag und Nacht im Geiste hörte.
Erst hier in Larkspur hatte Marcus entdeckt, wer dieser Musiker in Wirklichkeit war: sein Onkel Shane, der als Junge verschwunden war. Der angeblich tot war. Seine Melodien waren stets eine Art Schutzschild für Marcus gewesen, doch das Haus hatte sie verstummen lassen. Inzwischen war die Stille so erdrückend, dass Marcus befürchtete, sie würde ihn verschlingen.
»Wie du meinst«, sagte er und ärgerte sich ein bisschen, weil Poppy vermutlich wieder einmal recht hatte. Er hielt sich die Nase zu und folgte ihr hinein in den Gestank.