Читать книгу Shadow House - Dan Poblocki - Страница 5
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Dylan rannte und rannte. Seine Gedanken und Erinnerungen waren so dunkel und unklar wie die Schatten, die ihn verfolgten. Hinter sich hörte er seinen Zwillingsbruder rufen, doch das spornte ihn nur noch mehr an. Obwohl ihm die Angst fast die Luft abschnürte, rannte Dylan weiter, um all dem zu entkommen, was er gerade erlebt hatte.
Auch wenn er genau genommen gar nichts erlebt hatte.
Dylan war nämlich tot.
Als er um die nächste Biegung hastete, stolperte er über einen Teppich, der auf einmal wie aus dem Nichts aufgetaucht war, ruderte mit den Armen und taumelte gegen eine Wand. Das war typisch für Larkspur, dieses unheimliche Geisterhaus: Es veränderte sich ganz plötzlich und ohne Vorwarnung und versuchte ständig, einen zu verwirren und zu behindern. An diesen Albtraum konnte man sich nicht gewöhnen.
Dylan lehnte sich keuchend an eine Tür und presste eine Hand an seine Brust. Er spürte, wie sein Herz pochte und sein Puls raste. Seine Wangen glühten, und er wischte sich mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn. Komisch, er fühlte sich so real. Er fühlte sich lebendig.
Und dann fiel es ihm auf einmal wieder ein – der »Streich«, den sein Zwillingsbruder Dash ihm gespielt hatte. Er sah Dashs hämisches Grinsen vor sich, doch schon eine Millisekunde später verzerrte sich dessen Gesicht, und Dylan stieß einen markerschütternden Schrei aus. Der grelle Blitz, das Blut in seinem Mund, der unsägliche Schmerz im ganzen Körper. Dann Stille. Dylan schüttelte sich, als könne er damit diese Erinnerung abschütteln.
Doch das ging nicht. Niemand kann den Tod verjagen; es ist der Tod, der die Menschen jagt.
Irgendwo in den Tiefen seines Bewusstseins kroch ein Gedanke wie ein Wurm durch seine Gehirnwindungen. Hatte Dash das mit Absicht gemacht? Dash war immer der »gute« Zwilling gewesen, Mamas kleiner Engel und der Liebling aller Regisseure, mit denen sie im Laufe der Jahre in Los Angeles gearbeitet hatten. Er dagegen, Dylan, war der »Böse«, die Nervensäge. Nur seinetwegen waren neue Jobangebote ausgeblieben. Hatte Dash seinen Zwillingsbruder deshalb unbewusst loswerden wollen?
Dylan schloss gequält die Augen. Er vermisste Los Angeles und würde alles dafür geben, wieder dort zu sein und aus diesem Spukhaus zu kommen.
Er lachte auf, ein seltsames, sprödes Geräusch in der Stille des Korridors. Er war ja selbst einer der Geister, die in Larkspur herumspukten.
Dylan zwang sich, die Augen wieder zu öffnen und sich umzusehen. Diesen Korridor hier kannte er noch nicht. Der Holzfußboden und die holzgetäfelten Wände waren fast schwarz. Von oben kam ein schwacher Lichtschein, und Dylan sah, dass die Decke wie ein Brustkorb gewölbt war. Ein Riegel klickte, und irgendwo öffnete sich quietschend eine Tür.
Dylan zog den Kopf ein, als wolle er sich unsichtbar machen. Das müsste doch gehen, oder? Er war schließlich tot.
Schritte hallten durch den Korridor, und dann tauchten die finsteren Umrisse einer hochgewachsenen Gestalt aus dem Halbdunkel auf. Dylan drückte sich flach gegen die Wand, doch die Gestalt kam so schnell näher, dass ihm keine Zeit blieb, sich zu verstecken.
Er spürte ein vertrautes Prickeln auf dem Kopf, als hätte er eine mit Nadeln gespickte Mütze auf. Vor seinen Augen begann der Korridor zu wanken.
Rückblende.
Die Garderobe. Der Wassereimer auf der Tür, ein Klassiker.
Rückblende.
Pitschnass und schlotternd hatte er eine Hand ausgestreckt, um die Lampe anzumachen. Dann der Schock, die gleißende Helligkeit. Der tödliche Stromstoß.
Vorspulen.
Die Beerdigung.
Vorspulen.
Dashs Zimmer im psychiatrischen Krankenhaus.
Vorspulen.
Vorspulen.
Vorspulen.
Eine Stimme rief seinen Namen, doch Dylan sackte in sich zusammen. Dann wurde alles dunkel.
»Dylan?«, ertönte eine Stimme aus der Dunkelheit. »Dylan?«
Dylan öffnete mühsam die Augen. Er lag auf dem Boden. Über ihm eine holzgetäfelte Decke, unter ihm ein weicher Teppich. Neben ihm kauerte ein Mann, den er noch nie gesehen hatte. Die Gestalt von vorhin? Der Mann hatte breite Schultern, einen struppigen Bart und trug ein rot-schwarz kariertes Hemd und eine dunkelblaue Jeans. Er sah fast wie ein Holzfäller aus, oder zumindest wie jemand, der in einer der kälteren Gegenden in der Nähe von Los Angeles lebte. Der Unbekannte legte Dylan eine Hand auf die Schulter. Seine braunen Haare hingen ihm über die dichten Augenbrauen und verdeckten zum Teil auch die golden funkelnden Pupillen.
»Alles in Ordnung?«, fragte der Mann.
»W-weiß nicht«, stammelte Dylan. »Was ist passiert?«
»Du hast gerade deinen Text einstudiert, als du plötzlich ohnmächtig geworden bist. Du hast die Augen verdreht und bist wie ein Sack Mehl umgefallen.«
»Meinen Text?«
»Oh Mann, du musst dir den Kopf ganz schön hart angeschlagen haben. Meine Assistentin holt gerade ein Glas Wasser für dich. Sie dürfte gleich zurück sein. Ruh dich so lange aus.«
Dylan versuchte, die Hand des Mannes abzuschütteln, doch sie lag breit und schwer auf seiner Schulter.
»Nicht bewegen! Gleich geht’s dir wieder besser.«
»Von welchem Text reden Sie?«, fragte Dylan zitternd. Hoffentlich hörte man seiner Stimme nicht an, wie nervös er war. »Und wer sind Sie überhaupt?«
Der Unbekannte grinste, fasste sich aber rasch wieder und runzelte die Stirn. Er knöpfte sein Hemd auf, unter dem ein weißes T-Shirt zum Vorschein kam, zog es aus und legte es Dylan wie eine Decke über die Schultern.
»Del Larkspur«, stellte sich der Mann vor. »Der Produzent von Es gibt kein Entkommen. Du spielst eine der Hauptrollen. Der fiese Bösewicht.« Er machte eine kurze Pause und musterte Dylans verdutztes Gesicht. »Du bist mit deinem Bruder hergekommen, um mit mir einen Horrorfilm zu drehen. Muss ich noch mehr erzählen?«
»Es gibt kein Entkommen?«
Del fuhr sich durch die Haare, als sei er ziemlich frustriert über Dylans Erinnerungslücken.
Dylan hatte das Gefühl, dass ein schwarzes Loch in seinem Kopf sämtliche Erinnerungen aufsaugte – Erinnerungen an etwas, das wohl doch nur ein schrecklicher Albtraum gewesen war. Obwohl es sich entsetzlich real angefühlt hatte.
Ein Stapel Blätter lag links von ihm auf dem Teppich. Sicher das Drehbuch. Auf der ersten Seite stand in schwarzen Lettern seine Rolle: Der Trickser.
»Ach ja, der Film«, stammelte Dylan. »Klar.«
Nach und nach fielen ihm bestimmte Einzelheiten wieder ein. Gruselige Masken. Gespenster. Ein riesiges Haus als Drehort. Nur dass … Moment mal, das war kein Film gewesen, sondern Realität. Er hatte gerade herausgefunden, dass er … Doch an diesem Punkt verweigerte sein Gehirn den Dienst.
»Haben wir uns heute Morgen schon gesehen?«, fragte er.
Del nickte.
»Und Dash? Wo ist er?«
»Bei Cyrus Caldwell, dem Regisseur«, erklärte Del. »Zusammen mit den anderen jungen Darstellern proben sie für die große Szene heute Abend.«
»Kann ich meinen Bruder sehen?«
»Warum das?«
»Ich … ich müsste ihn etwas fragen.«
Del, der immer noch in der Hocke neben Dylan kauerte, schaukelte auf den Fersen vor und zurück. Die Fältchen um seinen Mund verspannten sich.
»Ich dachte, dass in diesem Film jeder seine eigene Rolle spielt. Wie du es dir gewünscht hast, wenn ich mich nicht irre.«
Dylan setzte sich auf. An den Wänden standen übervolle Bücherregale. Im Kamin brannte ein Feuer, das einen orangefarbenen Lichtschein in alle Ecken und Winkel des Raums warf.
»Stimmt«, sagte er hastig, um seinen Gesprächspartner nicht noch mehr zu verärgern. »Dann frage ich ihn eben heute Abend, nach dem Dreh.«
»Gut.« Dels Miene wurde wieder etwas freundlicher. »Zieh das Hemd an. Hier drin kann es recht frisch werden.«
Dels Lächeln tat Dylan gut. Er fühlte sich wertgeschätzt. Akzeptiert. Der böse Traum verblasste, Erleichterung wärmte seine Adern, und er holte tief Luft. Dann schlüpfte er in Dels kariertes Hemd und griff nach dem Drehbuch.
»Es tut mir leid«, beteuerte er. »Ich weiß nicht, was mit mir los war, warum ich einfach umgekippt bin. Aber Sie können auf mich zählen, ich werde Sie nicht enttäuschen – versprochen!«
»Gut«, wiederholte Del und ging auf den offenen Kamin zu. »Ich würde nämlich nur ungern einen Ersatz für dich suchen müssen.«
Dylan spürte, wie er errötete.
»Aber ich habe etwas, das dir helfen kann, dich besser in deine Rolle einzufühlen«, fuhr Del fort und nahm etwas vom Kaminsims. »Ein Requisit.«
Der Mann kam damit zu Dylan und überreichte es ihm. Es war ein Gesicht.
Eine Maske!
Große, leere Augenhöhlen starrten Dylan an. Übertrieben weit hochgezogene Augenbrauen, die wie ein umgedrehtes V aussahen. Eine rote Knollennase, knallrote Lippen, die sich zu einem traurigen Lächeln verzogen. Aufgemalte Tränen auf den Wangen.
Dylans Magen zog sich zusammen, als er die Maske in die Hände nahm. »Das soll ich spielen?«, fragte er ungläubig. »Einen Clown?«
Del nickte, und die Flammen im Kamin ließen seine bernsteinfarbenen Augen glänzen. »Setz die Maske auf, dann weißt du genau, was ich von dir erwarte.«
Dylans Herz pochte so wild, als wollte es ihn warnen, doch inzwischen war er so eingeschüchtert, dass er sich das Gummiband widerspruchslos über den Kopf zog. Die Maske saß perfekt, wie eine zweite Haut. Er hatte befürchtet, durch die Löcher nur schlecht sehen zu können, aber zu seiner Überraschung sah er alles glasklar – zum ersten Mal, seit er aus seiner Bewusstlosigkeit erwacht war.
»Unser Trickser«, murmelte Del, und seine Stimme klang auf einmal deutlich tiefer und rauer. »An die Arbeit, es ist höchste Zeit.«