Читать книгу Improvisationstheater - Dan Richter - Страница 21
2.6.2Die Angst vorm Urteil des Publikums Der Vergleich mit den Mitspielern
ОглавлениеDie Show ist vorbei. Das Publikum klatscht begeistert. Verbeugung des Ensembles. Der Applaus brandet noch einmal auf. Dann der Applaus für die einzelnen Spieler.
Tom – Applaus und Jubel.
Sibylle – Applaus, begeisterte Pfiffe.
Lukas – Applaus, begeistertes Stampfen mit den Füßen.
Du – lediglich Höflichkeitsapplaus.
Na? Zwickt es dich? Wenn du diese Situation nicht nur ertragen, sondern wirklich mit Freude genießen kannst, hast du ein großes Impro-Herz.
Nach der Show grübelst du vielleicht, und dir fällt ein: Ja, Tom war am Ende der letzten Story der strahlende Held, der außerdem noch mit seinem Wissen über moderne soziologische Theorie brillierte. Sibylle hat mit ihrem Gesang alle begeistert. Lukas hat fast jede Szene mit einem urkomischen Satz beendet, der für die größten Lacher des Abends gesorgt hat. Was hast du gemacht? Du hast den Helden unterstützt, indem du einen fiesen Gegenspieler etabliert hast. Du hast der Sängerin Platz gelassen, damit ihre Stimme strahlen konnte. Und du hast die Enden für sich stehen lassen, ohne noch etwas vom Lacher abkriegen zu wollen. Mit anderen Worten: Du hast dafür gesorgt, dass die anderen ihr Potential entfalten konnten. Du hast deine ganze Kraft der Show gegeben. Du bist wahrscheinlich ein guter Improvisierer.
Lasst euch nicht vom Applaus verführen. Lasst euch schon gar nicht von Lachern und vom Lob verführen. Haltet eure Eitelkeit im Zaum. Vergleicht euch nicht zu sehr mit euren Mitspielern, und vergleicht niemals das Lob, das sie einheimsen mit dem euren. Denn egal, ob ihr bei diesem Vergleich besser oder schlechter abschneidet als eure Mitspieler, das Vergleichen selbst nährt am Ende doch wieder nur die Eitelkeit.
Die Angst, für dumm, humorlos oder unattraktiv gehalten zu werden
Viele der bekanntesten Impro-Spiele zielen darauf ab, der Phantasie und der Freiheit der spontanen Assoziation einfach freien Lauf zu lassen. Die Originalität des Unbewussten, das schneller ist als unser Denken wirkt dann oft genial. Oft erreichen dann die Spieler ein Plateau und glauben, nun von der Angst, für dumm gehalten zu werden, befreit zu sein. Aber listig kehrt diese zu unerwarteten Gelegenheiten zurück: Wenn wir darauf kommen, Langform-Impro zu spielen, wenn wir Storys entwickeln wollen, wenn wir Charaktere mit Substanz spielen wollen. Dann flüstert sie tückisch: „Kann ich denn das überhaupt?“. Sie sind manchmal fasziniert von den Fähigkeiten oder dem Wissen ihrer Kollegen und glauben, genau so sein zu müssen. Sie fürchten, nicht nur vom Publikum, sondern auch von den Mitspielern für dumm gehalten zu werden.
Was deine Fähigkeiten oder die Könnerschaft einer bestimmten Form betrifft, so kannst dir das Training nicht ersparen. Aber: Du kannst trotzdem mutig auf die Bühne springen wie am ersten Impro-Tag, denn Scheitern gehört dazu. Außerdem gibt es nie die eine Art, eine Geschichte zu erzählen. Wenn du deine Kollegin vielleicht dafür bewunderst, wie es ihr gelingt, aus jeder Story-Plattform das herrlichste Melodram zu basteln, so sei dir darüber im Klaren, dass Melodramen zwar bewegend sein mögen, aber längst nicht das einzige Genre auf diesem Planeten.
Wir müssen auch die Tatsache akzeptieren, dass wir nie so klug sein werden wie unsere Mitspieler. Aber sie auch nie so klug wie wir. Ich beobachte immer wieder, dass Impro-Spieler ein überaus reiches Wissen in den unterschiedlichsten Bereichen haben. Sie haben Lebenserfahrungen gemacht, um die man sie beneidet. Aber sie wagen oft nicht, aus diesem Brunnen zu schöpfen. Im Idealfall ergänzen sich unsere Kenntnisse und Weisheiten perfekt.
Nutze deine Intelligenz und sei dir deiner Intelligenz bewusst! Leider spielen immer noch viel zu viele Impro-Spieler dumme Charaktere, um nicht für dumm gehalten zu werden. Das mag paradox klingen, aber es scheint zunächst leichter und sicherer, einen betrunkenen Zahnarzt zu spielen, der von nichts eine Ahnung hat, als einen nüchternen, kompetenten. Außerdem kommt der Lacher aus dem Publikum schneller. Natürlich gehen wir ein Risiko ein, wenn wir einen kompetenten Zahnarzt spielen. Aber da müssen wir eben behaupten! Wir dürfen nicht aus Angst, für dumm gehalten zu werden, dumm spielen!
Die Angst, für humorlos oder langweilig gehalten zu werden, findet auf der Bühne ihr Ventil im Gagging – dem Zerstören einer Szene für den schnellen Lacher.14 Gagging bricht sich auch in anderen Situationen Bahn, zum Beispiel wenn der Spieler die Spannung der Szene, die Verletzlichkeit der Figur oder einfach nur die Stille im Publikum nicht aushält. Niemand will das Publikum langweilen. Das Problem ist nur, dass wir auf der Bühne kaum ein Signal aus dem Publikum bekommen, das uns verrät, ob es sich langweilt oder nicht. Wenn man von extremen Äußerungen wie Jubeln oder Schluchzen absieht, dann ist die einzige regelmäßige akustische Äußerung des Publikums das Lachen. Dieses positive Feedback ist für einige Spieler dermaßen anregend, dass sie nervös werden, wenn einmal nicht gelacht wird.
Dieses Phänomen beobachten wir auch bei Gruppen, die den Übergang von Kurz- zu Langformen wagen. Klassische Impro-Spiele sind, wenn man sich nur halbwegs anstellt, fast eine Lacher-Garantie, ein Selbstläufer. Langformen funktionieren anders, und zwar selbst dann, wenn man langformatige Comedy spielt. Der Rhythmus der Lacher ist ein anderer, die Art der Lacher abwechslungsreicher. Es geht nicht nur um Gags, komische Figuren und Situationen, sondern um den Aufbau von Spannungsmomenten und einer ganzen Story. Wenn wir aber jeden Story-Ansatz für einen Gag opfern, kann nichts entstehen. Du bekommst zwar vielleicht noch deinen Lacher, aber deine Partner sind nun am Zuge, die Story-Karre wieder zum Laufen zu bekommen. Bei Improvisationen, die nicht in erster Linie auf Comedy abzielen, ist die Herausforderung noch größer: Schweigt das Publikum, weil es sich langweilt oder weil es von der Story gefesselt ist? Die Versuchung ist für viele Spieler übermächtig, doch noch hier und da ein kleines Witzchen zu platzieren, um sich als lustiger Typ darzustellen, der bei allem Ernst die Story ironisiert. Haltet die Spannung aus. Haltet es aus, gerade in der Anfangsphase von Langform-Impro nicht zu wissen, was das Publikum gerade empfindet.15
Während die Angst, für humorlos gehalten zu werden, vor allem junge Männer betrifft, dreht sich das Geschlechterverhältnis bei der Angst, für unattraktiv gehalten zu werden, um.16 Die darunter liegende Angst ist natürlich die Angst vor der Verletzlichkeit. Die Flucht ins Sexy-Sein macht eine Spielerin unangreifbar und unveränderlich. Aber als Impro-Spielerin musst du dich verändern lassen, du musst in der Lage sein, wütend und hässlich zu werden, deine Figur die falschen Entscheidungen treffen lassen. Du musst beweglich bleiben. Aber im Theater geht es nicht um dich! Es geht um die Szene, um die Story. Wenn du auf der Bühne stehst, um Männern oder Frauen zu gefallen, oder überhaupt um jemanden zu beeindrucken, was du für ein toller Mensch bist, dann bist du im Improtheater fehl am Platz. Improtheater lebt davon, dass die Spieler in der Lage sind, ihr Ego auszuschalten, ihr kleines „Ich will doch geliebt werden“ zuhause zu lassen und stattdessen in der großen Gemeinsamkeit aufzugehen.