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1.2Freiheit und Bildung des Spielers

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Wenn die Zuschauer es genießen, dem fließend-synchronen Entstehen von Text, Schauspiel und Inszenierung zuzusehen, so gilt dasselbe für die Spieler selbst, nur eben auf der Seite des Schaffens.

Ein Schriftsteller kann während des Schreibens oder danach Wörter austauschen, Sätze oder ganze Absätze streichen oder am Ende gar alles wegwerfen und von vorne anfangen. Wie anders ist da doch das Improvisieren auf der Bühne! Alles gilt in diesem Augenblick. Korrekturen sind nicht mehr möglich. Natürlich freuen wir uns, wenn wir eine Story auf die Bühne bringen, die die Zuschauer bewegt, die uns vielleicht selbst mitreißt und uns nachdenken lässt. Aber was das Improtheater vom geschriebenen Drama, vom Drehbuch oder der Kurzgeschichte unterscheidet, ist der Fokus auf den Flow, das Entstehen der Story. Als Improvisierer lieben wir das Werkeln oft mehr als das Werk, den Prozess mehr als das Produkt.

So sehr ich meine Arbeit als Schriftsteller mag – sie bleibt eine einsame Tätigkeit. Die überraschenden Wendungen einer Geschichte sind Produkte meiner Phantasie. Im Improtheater hingegen muss ich praktisch permanent mit den Angeboten meiner Mitspieler umgehen. Muss? Nein, ich darf! Was für Außenstehende wie totaler Stress erscheint („Wie kann dir denn dazu andauernd etwas einfallen, wenn der andere etwas sagt, was du nicht erwartet hast?“), ist für den Improvisierer ein Genuss. In Wahrheit sind diese Überraschungen, das Unerwartete ein Geschenk. Ich muss mich nicht selber überraschen, diese Arbeit leistet mein Mitspieler für mich. Und ich muss nur noch mit etwas reagieren, was mir als naheliegend erscheint, für meinen Mitspieler aber wieder sehr überraschend sein wird. Es gibt Szenen, in denen dieses gegenseitige Überraschen ein Ausmaß annimmt, dass es sich anfühlt, als würde man abgekitzelt.

Für die meisten Impro-Spieler ist Improtheater mit innerer Befreiung verknüpft. Dabei sind viele Impro-Spiele bei genauerer Betrachtung formal ziemlich restriktiv. Aber sie gewähren uns gerade dadurch inhaltliche Freiheit. Beim Improvisieren entstehen unglaubliche, manchmal geradezu absurde Inhalte, auf die man als Einzelner kaum kommen würde. Auch dass das Bewertende während des Spielens im Prinzip wegfällt, wird als Befreiung empfunden: Wo sonst, wenn nicht im Improtheater, erleben wir eine solche Atmosphäre des Nicht-Beurteiltwerdens? Improtheater hebt sich so für die meisten Spieler markant von ihrer Alltagserfahrung ab. Vor allem bei Neulingen ist dieser Kontrast enorm spürbar. Sie wirken auf Außenstehende oft wie Verzückte, die gerade ein Erweckungserlebnis hatten. Man sieht die Welt geradezu mit anderen Augen: Was passiert, wenn ich ja sage zu den „Angeboten“ der Umwelt und Mitmenschen? Was, wenn ich die kritische Skepsis fallen lasse? Wie erscheint die Welt der sozialen Interaktion, wenn ich sie durch den Filter des theatralen Status beobachte? Diese befreiende Erfahrung können sich auch erfahrene Spieler erhalten, wenn sie den Prozess des Impro-Lernens nie als abgeschlossen betrachten und gleichzeitig nachsichtig mit den eigenen Fehlern umgehen, wenn sie neue Formen und Inhalte suchen, ohne Gelerntes zu vergessen.

Ein Aspekt, der für Impro-Spieler von großer Bedeutung ist, aber mit dem eigentlichen künstlerischen Schaffensprozess nur indirekt zu tun hat, ist die Persönlichkeits-Bildung, denn die Tugenden, die wir im Improvisationstheater lernen und praktizieren, übertragen sich nach einer gewissen Zeit der Impro-Praxis unweigerlich auf die Persönlichkeit des Impro-Spielers.

Das Erste, was bei den meisten Impro-Schülern (egal wie alt sie sind) nachlässt, ist die Schüchternheit. Improtheater lebt vom kreativen Umgang mit Fehlern. Man feiert das Scheitern geradezu. Für manche ist das Impro-Spielen in einem Workshop das erste von Kritik befreite Handeln seit Jahren. Man erlebt hier Vertrauen, hat Spaß, wird für das, was man tut, geschätzt. Viele entdecken so nach langer Zeit, dass sie über eine kräftige Stimme verfügen, dass sie etwas zu sagen haben, dass es nicht schlimm ist, wenn man sich verspricht oder mal Unsinn verzapft. Dieses Selbstvertrauen wirkt natürlich zurück auf den Alltag.

Ein weiteres Beispiel: Für Impro-Spieler ist es unerlässlich, gut zuzuhören, denn sonst könnten sie ja nicht auf ihre Mitspieler eingehen. Zuhören zu können ist aber auch im Alltag eine wichtige Eigenschaft. Ob zuhörende Ärztinnen, Chefs, Eltern, Lehrerinnen, Ehepartner – praktisch in jedem Lebensbereich werden Menschen geschätzt, von denen man merkt, dass sie einem ihre Aufmerksamkeit widmen.

Drittens: Schauspieler brauchen eine hohe emotionale Flexibilität. Egal, wie es ihnen am Tag des Auftritts geht – sie müssen in der Lage sein, verschiedene Emotionen glaubwürdig zu verkörpern. Improvisierende Schauspieler müssen diese Emotionen aus dem Moment, aus der Notwendigkeit der Szene abrufen. Diese Flexibilität, wenn sie nur häufig genug im Alltag praktiziert wird, hat zur Folge, dass man eher in der Lage ist, sich in andere hineinzuversetzen, man entwickelt ein sensibleres Mitgefühl für seine Mitmenschen. Außerdem wird man nicht so leicht Opfer seiner eigenen Emotionen, das heißt, man wird sich eher über die Bedingtheit der Emotion im klaren: Wenn ich auf der Bühne in der Lage bin, meine Emotionalität blitzschnell zu ändern, warum soll das dann nicht auch im alltäglichen Leben geschehen?

Diese sozial und psychisch wertvollen Charaktereigenschaften – Zuhören, emotionale Flexibilität, Achtsamkeit für den Moment, Mut zum Unbekannten, spielerischer Umgang mit Fehlern, Großzügigkeit gegenüber anderen – werden durchs Impro-Spielen verstärkt. Improtheater hat eine quasi-therapeutische Wirkung.2 Diese Art von Selbsterfahrung sollte man nicht geringschätzen. Sie ist ein Grund, warum selbst Impro-Spieler, die wissen, dass ihr schauspielerisches Talent beschränkt ist, oft trotzdem dabei bleiben und ohne Publikum – lediglich in der Gruppe – improvisieren.

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