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Der Alltag

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Der Wald war tabu. Verboten. „Alles Böse kommt aus dem Wald“, so sagte man seit Generationen im Dorf. Wann immer ein Unglück passierte: „Der Wald hat es ausgespuckt!“ Wann immer ein Mensch verschwand: „Der Wald hat ihn verschlungen!“ Sein Rauschen war anders als das Rauschen üblicher Wälder. Sein Grün war finsterer, sein Geruch süßlicher – anlockend irgendwie. Es heißt, dass bereits über hundert Menschen willenlos dem Duft gefolgt waren und nie mehr gesehen wurden.

Der alte Förster war der Einzige, der den Wald liebte. Er wohnte auch darin. Die Einwohner Grechems hassten und fürchteten den Alten, weil er sich mit der grünen Finsternis verbrüdert hatte. Ein Kind soll er dem Wald geopfert haben, um von ihm angenommen zu werden. Jetzt heißt es, er sei untrennbar mit dem Gehölz verbunden und könne nie mehr hinaus.

Nur einmal im Jahr betraten die Bürger freiwillig den Wald - am Waldfesttag. Dann sollte alles Böse für einen Moment überwunden werden. Fackeln wurden angezündet - am helllichten Tag. Lieder wurden gesungen. Man fasste sich bei den Händen und machte sich Mut. Angeführt vom Bürgermeister zog die Gemeinschaft in einer langen Reihe quer durch den Wald. Alle gingen den kaum mehr erkennbaren Hauptweg entlang, am alten Forsthaus vorbei bis zum erlösenden Licht der anderen Seite. Sie sangen laut, riefen und machten Lärm. Sie schlugen auf Kochtöpfen herum. Die Dorfältesten voran, dann die Mütter mit ihren Kindern und schließlich die erwachsenen Männer. Viele hatten ihre Gewehre geschultert. Sie waren stärker als der Wald – für einen Moment.

Nur Oma Ilse ging nicht mit. Kein Jahr, seit Jens sich erinnern konnte, nahm sie an diesem Spektakel teil.

Jens ging in die zehnte Klasse. Er liebte die Natur. Er motivierte seine Mitschüler durch allerlei Aktionen zum Umweltschutz und überwachte die Krötenwanderung. Letzteres hatte ihm den Schimpfnamen Krötenzwerg eingebracht. Jens war sehr klein. Und, da es an jeder Schule die Dummköpfe aller Klassen sind, die, um von ihren eigenen Fehlern abzulenken, den Spott gezielt auf jene mit sichtbaren Gebrechen lenken, hatte Jens eben auch unter diesen zu leiden. Es gab Tage, da wäre er für bloße körperliche Gewalt dankbar gewesen.

Jens lebte bei seiner Oma. Sein Vater war ein Unbekannter und seine Mutter bei seiner Geburt verstorben. Er kannte sie nur von alten Photos, die Oma Ilse in einem Schuhkarton im Wohnzimmer aufbewahrte. Eines der Bilder hatte er liebevoll in seinem Zimmer an die Wand gehängt. Er mochte das Gesicht seiner Mutter. Auch wenn er sie nie gekannt hatte, hatte sich ihr Gesicht, ja ihr ganzes Wesen tief in seine Vorstellung und seine Träume geprägt. Auch seinen Opa kannte Jens nicht. Dass er nicht in einer richtigen Familie aufwuchs, störte ihn nicht. Von seiner Großmutter wurde er nach Strich und Faden verwöhnt, denn auch, wenn eine Oma die Mutterrolle übernehmen muss, bleibt sie immer noch Oma.

Das Haus, in dem die beiden lebten, war der Rest eines alten Gehöfts. Eigentlich waren nur noch vier Zimmer bewohnbar, aber diese waren stets so gepflegt, dass man sprichwörtlich vom Boden hätte essen können. Die Einrichtung war rustikal. Schwere alte Bauernschränke und massive Eichenmöbel prägten das Bild. Solche Möbel waren typisch für diese Gegend. Die Stube wurde von einer schlanken Stehlampe beleuchtet, aus deren trichterförmigem Messingkopf die Glühbirnen wie an Krakenarmen hingen. Direkt daneben stand das Sofa mit seinen vielen verschiedenen Kissen und der karierten Wolldecke über der Lehne. Es war der beste Ort zum Lesen. Jens allerdings machte wenig Gebrauch von dieser Beschäftigung. Zur Mitte des Raumes führte ein neuer hellgrüner Läufer. Jens hatte ihn seiner Oma zum letzten Geburtstag geschenkt. Es war ihr dreiundsechzigster. Auf dem Boden unter dem Esstisch, an welchem acht Personen bequem Platz finden würden, sorgte ein grobgeknüpfter Teppich für Wohnlichkeit. Ein Kruzifix, ein schlechtes Ölgemälde, worauf ein Ochsenkarren abgebildet war und zwei kleinere Spiegel bevölkerten die sehr ornamentale Tapetenlandschaft. Omas Schlafzimmer war klein und bestand eigentlich nur aus ihrem Bett, es war ein großes französisches – ihr ganzer Stolz.

Die Diele entlang zu Jens’ Zimmer tickte die schlichte Standuhr satt vor sich hin. Sein eigenes Reich war groß. Ein Jugendzimmer mit antiken Akzenten: Der Teetisch, die Wäschekommode und vor allem der Sekretär mit dem Geheimfach. Jens liebte dieses Möbel und wie in einem Tabernakel bewahrte er darin sein Allerheiligstes auf. Für den Schulkram und das alte Spielzeug war genug Platz in den blauen Sperrholzmöbeln. Der Schreibtisch war immer überfüllt und unaufgeräumt und meistens, wenn er daran saß, blickte er zum Fenster hinaus in seine Gartenlandschaft und ließ sich durch Gedankenspiele von den Hausaufgaben ablenken.

Neben diesen Zimmern gab es noch das „dunkle Zimmer.“ Jens mochte den Raum unter dem Dachboden nicht. Er hatte kein Fenster und kein Licht. Es lag kein Strom unterm Dach. Alles, was man nicht in der Wohnung gebrauchen konnte, wurde hier aufbewahrt. Der Raum war das schlechte Gewissen des Hauses. Als kleines Kind hatte Jens sich gefürchtet hineinzugehen. Wenn seine Oma ihn dennoch bat etwas herunterzuholen, schlich er mutig vor bis an jenen großen knorrigen Tisch, zu welchem das wenige Licht, das einfiel, wenn man die Tür aufmachte gerade noch gelangte. Dahinter gähnte die Finsternis. Dorthin ging er selbst dann nicht, wenn seine Oma ihn mit einer Taschenlampe bewaffnet hatte. Die Dielen wippten und knarrten hier oben und erzeugten beim Laufen ein leicht schwebendes, unsicheres Gefühl. Heute noch überkam ihn manchmal ein unbegründeter Schauer, wenn er das dunkle Zimmer betrat.

Die übrigen Räume, außer dem Bad und der Küche natürlich, waren verfallen und unbewohnbar. Der Zustand des Hauses war allerdings nichts Außergewöhnliches in Grechem. Der Ort war eine Kleinstadt, die ihren Ursprung in den umliegenden Bauernhöfen hatte. Die Höfe waren zwar bewohnt, aber Landwirtschaft wurde kaum noch betrieben.

Jens machte das Beste aus dem Leben abseits der Stadt. Er liebte es, die Landschaft nach seinen Vorstellungen zu formen und hatte darin bereits einiges Talent entwickelt. In den letzten Wochen war der dunkelblonde Krauskopf damit beschäftigt, ein riesiges Loch im Garten auszuheben. Kaum kam er nach Hause, ging er schon wieder mit Spaten und Schaufel bewaffnet hinters Haus. Er wollte ein Biotop bauen, um alle Rätsel der Natur zu verstehen. Vielleicht würde er es sein, der eines Tages die Geheimnisse des Waldes ergründet.

Richtige Freunde hatte der Außenseiter kaum. Eigentlich gab es da nur Monika, die Nachbarstochter. Ja, Monika war am ehesten so etwas wie ein Freund. Sie hatte ihn nie gehänselt wegen seiner Größe und oft hatte die Klassenkameradin ihm auf dem Heimweg Trost zugesprochen oder auf dem Hinweg Mut gemacht. Sie teilte sogar ein Geheimnis mit ihm: Eines Morgens, sie kannten sich gerade erst eine Woche, kam sie völlig verheult aus dem Haus. Ihre Mutter brachte sie bis zur Tür und rief ihr vorwurfsvoll nach: „Das kommt eben von deinem dummen Aberglauben, mein Fräulein. In dem Alter kann man doch nicht mehr so naiv sein. Ich wünsche keine Diskussion! Du gehst jetzt zur Schule und siehst zu, wie du es erklärst.“

Jens beobachtete die Szene vom Bürgersteig. Er verstand nicht, was da los war. Doch dann sah er im Näherkommen, dass Monika einen fürchterlichen Ausschlag auf der Lippe hatte. Dicke gelbe Blasen. Natürlich fragte er nach und nach langem Zögern berichtete sie ihm schluchzend, sie habe im Glauben an einen reichen Märchenprinzen einen Frosch geküsst und müsse nun wenigstens eine Woche mit diesem Ekelherpes leben. Jens gab sich Mühe nicht zu lachen und versuchte sie zu trösten. Er musste schwören, es niemals jemandem zu verraten, wenn er mit ihr befreundet sein wolle. Und tatsächlich hatte er bis heute nie ein Wort darüber verloren und wollte es auch in Zukunft nicht tun.

Die beiden hatten einen weiten Schulweg, da sie außerhalb wohnten und kein Schulbus fuhr. Sie hätten die Strecke zwar abkürzen können, aber dafür blieb nur der Weg durch den gruseligen Wald. Also standen sie lieber jeden Morgen eine halbe Stunde früher auf und nahmen die Umgehungsstraße am Grechmer Busch entlang.

Jens teilte seit der fünften Klasse den Schulweg mit Monika und wenn es nach ihm ginge, würde er wohl auch neben ihr in der Klasse sitzen. Aber sobald sie den Schulhof erreichten, endete die Gemeinsamkeit. Rasch verschwand Monika dann in ihrer Mädchenriege, wohl aus Angst, man würde das schöne Mädchen als die Geliebte des Krötenzwergs beschimpfen. Wie gern hätte Jens einmal mit ihr gemeinsam die Schule betreten. Was würde es ihn innerlich wachsen lassen, wenn er nur einmal Seite an Seite mit ihr über den Pausenhof gehen könnte. Aber es war wie eine schweigsame Abmachung, dass sie sich an der letzten Ecke vor dem Schulgebäude trennten und nacheinander den Schulhof betraten.

Der magische Met

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