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Der Schulweg

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Wie Granaten schlugen die dicken Hagelkörner auf die schutzsuchenden Menschen nieder. Eine alte Frau lag verletzt am Boden. Sie blutete. Niemand eilte ihr zur Hilfe. Alle flohen panikartig in Hauseingänge, Autos oder unter Bushaltestellen. Seit einer halben Stunde heulte unaufhörlich das Martinshorn. Dann endlich war es vorbei. Zögerlich, misstrauisch wagte man sich vor, die Verletzte zu bergen. Hämisch lachte der Himmel die Szene aus, so als wäre nichts gewesen.

An diesem Freitag waren die Schüler aufgerufen, ein Referat zum Thema „Tierverhalten und Klimaveränderung“ zu halten. Jeder hatte am Tag zuvor im Losverfahren einen Stichwortzettel gezogen. „Erdbeben“ war Jens‘ Aufgabe. Seine Begeisterung hielt sich in Grenzen. Den ganzen Donnerstag saß er da und überlegte, was er wohl schreiben könnte. Das Erdkundebuch lieferte nur eine magere Ausbeute an allgemeinen Informationen, z. B. über die Verschiebung der Erdplatten usw. Doch das interessierte Jens nicht. Nein, er fragte sich, warum im letzten Monat hier, nur fünfzig Kilometer entfernt im Örtchen Beikirch, die Erde gebebt hatte. Noch nie - jedenfalls solange es Menschen in dieser Gegend gab - hatte es hier Beben gegeben.

Jens wollte den großen Zusammenhang der Naturgewalten ergründen. Er suchte die Ursachen für die vielen außergewöhnlichen Naturphänomene der letzten Jahre. Wenn das Wetter so wie überall gewesen wäre, dann hätte er sich tiefergehende Gedanken sparen können. Er hätte sich der allgemeinen Meinung angeschlossen. Aber Jens wusste es besser. Er hatte seit drei Jahren alles aufgeschrieben. Damals im August schneite es stundenlang dicke Flocken vom Himmel. Aber nur in Grechem. Nirgends sonst. Dann im Winter des gleichen Jahres: am Heiligen Abend 25 Grad über Null! Er hatte auch aufgeschrieben, als der kleine Hügel am anderen Stadtrand im Frühjahr abrutschte und die Fahrbahn für Tage blockierte. Erst zu Anfang dieses Jahres knickte ein Sturm zahlreiche Bäume und Straßenlaternen wie Strohhalme um. Zwei Autos wurden begraben und wieder hatten die Nachrichten nichts aus anderen Städten gemeldet. Nein, hier in diesem Ort musste etwas Besonderes vorliegen. Vielleicht, dachte er sich, hatte Grechem ein eigenes Mikroklima. Er wusste nicht, was er schreiben sollte. Er glaubte nicht, dass daran allein der Wald schuld war.

Oma Ilse war in diesem Falle keine große Hilfe. Sie hatte ihre ganz eigene Erklärung für diese Phänomene. Als Jens sie fragte, was sie von der Entwicklung in Grechem und dem Beben in Beikirch halte, nahm sie ihn bei den Schultern, blickte ihm tief in die Augen und seufzte: „Die Götter führen wieder Krieg, mein Junge. Wenn das so weitergeht, wird alles zerstört!“ Sie sagte das so unheimlich, so ernst, dass es Jens kalt den Rücken hinunter lief. Oma Ilse drehte sich um, bekreuzigte sich und ging zu Bett. Sie pflegte nachmittags eine, manchmal auch zwei Stunden zu schlafen. Jens stand noch ein paar Sekunden wie betäubt im Wohnzimmer, dann schüttelte er sich, lachte kurz und lief in sein Zimmer.

Irgendwie hatte er dann doch bis heute morgen etwas zusammengeschrieben und wartete nun vor dem Nachbarhof auf Monika.

Die Tür ging auf und sie kam ihm entgegen. „Morgen“, sagte Jens, „und, alles klar?!“

„Geht so“, antwortete sie und hatte dabei diesen schmollenden Ausdruck im Gesicht, der sich jedes Mal einstellte, wenn Monika mit etwas nicht zufrieden war.

„Wieso, was ist denn?“, fragte er.

„Mein Referat - ich hab keins geschrieben. Ich hab keine Ahnung von dem Thema. Hoffentlich komm ich heut nicht dran.“

„Sie wird’s eh einsammeln. Was ist denn dein Stichwort?“

Monika wollte antworten. Dann stockte sie. Sie wollte ihn nicht verletzen.

„Sag schon“, forderte er.

Sie stotterte: „Kr- Kr- Krötenwanderung.“

Jens zuckte zusammen. Er blickte auf den Boden. Wurde rot. Dann fasste er sich.

„Macht doch nichts. Da kenn ich mich aus. Komm ich helfe dir. Das schreiben wir noch schnell.“

„Supi“, rief sie – sie rief immer supi, das war so eine Art Markenzeichen, wie das Schmollgesicht, nur umgekehrt - „Supi, komm wir gehen in die Scheune, da ist ein Tisch!“

Die beiden rannten, um nicht von Monikas Eltern entdeckt zu werden, um den Hof herum zur Scheune und setzten sich an den schäbigen Tisch. Monika packte ihre Sachen aus.

„Also. Überschrift und Datum hab ich schon“, kicherte sie, „diktier einfach. Aber langsam, so dass ich mitkomme.“

Jens überlegte einen Moment, suchte erst nach ein paar Formulierungen, so dass der Einstieg etwas holprig klang, aber nach etwa fünf Minuten war er ganz in seinem Element. Er diktierte das perfekte Referat über mehr als zwei Seiten.

„Mann, was du alles weißt“, sagte Monika als sie ihre Sachen wieder einpackte. Dann schaute sie auf die Uhr: „Mein Gott schon so spät! Das schaffen wir nicht mehr!“

„Wir können doch durch den Wald laufen“ schlug Jens vor, „dann schaffen wir’s vielleicht doch noch.“

„Bist du verrückt! – Mann, das ist doch Selbstmord!“

„Komm, Monika, du fürchtest dich doch nicht wirklich vor alten Bäumen - oder? Die spinnen doch alle!“

„Aber der Förster! Du weißt doch, was man sagt.“

„Quatsch“, entgegnete Jens „das sagen die Leute nur, weil man ihn nie sieht. Weil er nie in die Stadt kommt. Ich frag mich, wie der sich ernährt. Vielleicht lebt er ja gar nicht mehr. Du brauchst keine Angst zu haben, Monika, wenn der wirklich ein Mörder wäre, säße der längst im Gefängnis! - Und außerdem, wir können ja ganz schnell am Forsthaus vorbeirennen, der alte Knacker würde uns sowieso nicht kriegen.“

Schließlich ließ Monika sich überreden. Und die beiden liefen los.

Als sie die ersten Schritte im Wald gegangen waren, zog sich der Himmel plötzlich zu. Ein lautes Krachen kündigte den Platzregen an. Das Wasser fiel in Mengen auf das Laubdach und verursachte eine unheimliche Geräuschkulisse.

„Wenigstens sind wir hier etwas geschützter als auf der Straße“, sagte Jens.

„Aber es ist so dunkel“, entgegnete Monika.

Tatsächlich ließen die dunklen Gewitterwolken und das dichte Grün kaum mehr Licht hindurch. Der Regen wurde heftiger und auch die Bäume konnten jetzt den Großteil nicht mehr zurückhalten. Monika steckte ihre langen blonden Haare hinten in den Kragen ihrer weißgepunkteten Sommerbluse, um sie zu schützen. Jens liebte es, wenn sie mit ihren Haaren hantierte. „Ich sehe gleich aus wie ein Schwein“, wütete sie und bekam wieder das Schmollgesicht. Sie trug weiße Söckchen und hochmoderne helle Plateauschuhe und mit jedem Schritt versanken diese im matschigen Boden. Jens hingegen hatte keine Sorgen mit seiner Kleidung. Er trug eine seiner geliebten kniekurzen Hosen und ein altes Holzfällerhemd. Socken hatte er im Sommer nie an und seine alten Treter hielten eine Menge aus.

Das Einzige, was er fürchtete, war, dass Monika ihm die Schuld für alles geben würde. Aber dazu blieb keine Zeit, und sie dachte wohl offensichtlich auch gar nicht daran, denn von weitem war schon das alte Försterhaus zu sehen. Eines der Fenster schien erleuchtet. Der Puls der beiden erhöhte sich ebenso, wie das Tempo ihrer Schritte. „Komm, lass uns schnell vorbeigehen!“, sagte Jens. Sein Mut von vorhin war offensichtlich gewichen. Sie rannten los. Als sie unmittelbar am Haus waren, donnerte und blitzte es ohne Unterbrechung, als wäre der Jüngste Tag gekommen. Die Kinder rannten als sei der Teufel hinter ihnen her. Monika blieb ein wenig zurück, so dass Jens sein Tempo verlangsamen musste. Er drehte sich um.

„Komm, komm schon!“, schrie er gegen das Gewitter an. In diesem Moment ging die Tür des Hauses mit einem Krachen auf und der alte Förster stand auf dem Weg und blickte Monika nach. Die Augen der riesigen Gestalt blitzen unter seinem dunklen Hut hervor.

„Aahh!“, schrie Monika und lief so schnell sie konnte.

„Beeil dich!“, brüllte Jens nicht sehr hilfreich. Dann fasste er sie bei der Hand und die beiden rannten unter dem ohrenbetäubenden Lärm den gesamten Weg durch den Wald. Als sie aus der Dunkelheit hervortraten und die letzten Meter zur Schule nahmen, klärte sich das Wetter ebenso plötzlich wieder auf, wie es gekommen war.

Der magische Met

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