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Der Unfall

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Schon von weitem sah er Ulrich und dessen Kumpels. Sie warteten am Ausgang des Schulhofes auf ihn. Er ahnte schon, was kommen würde. Vorsichtig ging er weiter dem Gittertor am Ende des Hofes entgegen. So, als würde er sie nicht sehen, versuchte er sich an der Bande vorbeizuschleichen. Da packte ihn der ungepflegte Rotschopf beim Arm und riss ihn herum. Er hob ihn hoch und presste ihn mit dem Rücken gegen das Eisengitter des Tores. Dann drückte Ulrich seine Stirn gegen die Stirn von Jens und brüllte ihn unter Auswurf seines übelsten Atems an: „So! Jetzt vergreift sich der Krötenzwerg schon an kleinen Mädchen, was?! Ist ja ekelhaft. So was sollte bestraft werden!“

Die Bande lachte schallend. Jens bettelte: „Lass mich runter, bitte“, doch der bullige Tyrann dachte nicht daran, sein Opfer loszulassen. „Runter, runter, runter, runter ...“, äffte er Jens nach und gab ihm bei jedem „runter“ eine Ohrfeige. „Es gibt Völker, die Zwergenwerfen machen!“, lachte er hämisch und schubste Jens in die Büsche neben dem Tor. Jens wollte sich gerade aufrappeln und so schnell wie möglich abhauen, als die Meute bereits langsam auf ihn zu kam und bedrohlich skandierte: „Zwer-gen-wer-fen! Zwer-gen-wer-fen!“ Endlich stand er auf den Füßen und rannte was das Zeug hielt in Richtung Wald. Ulrichs Leute versperrten ihm die anderen Richtungen.

„Ja, lauf nur in den Wald, wo Zwerge hingehören!“, rief einer ihm nach. Als Jens schließlich im Wald verschwand, hörte er noch Ulrich rufen: „Komm ja nicht wieder raus! Wir warten hier auf dich.“

Offenbar - und dies war Jens Glück - hatten die Großmäuler nämlich Angst davor, in den Wald zu laufen. So war Jens zunächst eine Gefahr los, jetzt musste er sich nur der nächsten stellen und unbehelligt am Forsthaus vorbeikommen. Dieses war nach wenigen Minuten bereits in Sichtweite und Jens wurde erneut von einem mulmigen Gefühl ergriffen. Er fühlte eine Art von Furcht, die er bis dahin noch nicht kannte. Ständig fixierte Jens mit seinen Blicken die Tür des Hauses und so bemerkte er die Kuhle im Boden erst, als er hineingetreten war. „Au!!“, schrie er laut. Er war mit dem Fuß umgeknickt und fiel hin. Sofort stand er auf, konnte aber nicht richtig auftreten.

Er humpelte einige Schritte und lehnte sich dann an einen Baum. „Mist“, fluchte er „tut das weh!“ Er zog seinen Schuh aus und betrachtete den schmerzenden Knöchel. Wie er wieder aufblickte, blieb ihm fast das Herz stehen. Vor ihm stand der riesige Alte und blitzte ihn mit seinen funkelnden Augen an.

„Warte!“, befahl die kräftige Stimme. Jens wusste nicht, wie ihm geschah. Der Förster hob ihn hoch und trug ihn ins Haus. Die Stube war dunkel und voller alter Möbel. Es roch nach nassem Holz und Leder. Mit dem Fuß schlug der Alte die Türe hinter sich zu und setzte Jens auf einen Holzstuhl an den Tisch. „Warte!“, wurde Jens wieder ermahnt. Der Förster verschwand im Nebenzimmer und Jens hörte, wie er mit irgendetwas klapperte. Jens blickte sich noch halb im Schock um. Über der Haustür hing ein riesiges Hirschgeweih und mehrere kleine waren über die Wände verteilt neben allerlei Spiegeln, Fotos und Gemälden in antiken Rahmen. Alles hing quer durcheinander und schief an den Wänden. Man hatte den Eindruck, dass im nächsten Augenblick alles in sich zusammenstürzen müsse. Nur ein Foto schien besonders herausgehoben, weil sich im näheren Umkreis nichts anderes befand. Es hing gerade. Es war ein sehr, sehr altes Hochzeitsfoto. Als Jens es näher betrachten wollte, betrat der Förster wieder den Raum. Er hielt eine weiße, mit Wasser gefüllte Emailleschüssel in den Händen und stellte sie auf dem Esstisch ab. Dann zog er einen Hocker hervor, setzte sich Jens gegenüber und nahm die arg verbeulte Schüssel auf seine Knie. „Zeig mal her“, raunzte er, nahm Jens’ Fuß hoch und reinigte ihn. Dann betrachtete er den Knöchel genauer und drückte an verschiedenen Stellen herum. „Tut das weh?“, fragte er.

„Etwas“, antwortete Jens.

„Nur leicht verstaucht“, murmelte der Alte, „ruh dich etwas aus und halt das hier drauf“, fuhr er fort, indem er ein nasses Handtuch um den Fuß wickelte. Dann stand er auf, stellte die Schüssel wieder auf den Tisch und zog seinen dunklen Mantel aus. Er hängte ihn an das Hirschgeweih über der Tür und kramte in den Taschen. Schließlich zog er ein schwarzgrünes Holzkistchen hervor, öffnete es und entnahm eine dunkle kleine Zigarre. Dann packte er das Kistchen zurück und durchwühlte von neuem die Manteltasche. Als er die Streichhölzer gefunden hatte, zog so etwas wie ein Lächeln über sein zerfurchtes Gesicht.

Unter leisem genüsslichen Ächzen bewegte er sich in die andere Ecke des Zimmers und ließ sich in einem alten ausgefransten Ohrensessel nieder. Mit einem Holzhebel an der Seite klappte er eine Fußstütze hervor und brachte sich in eine leicht liegende Position. Dann zündete er seine Zigarre an. Er drehte sie immer wieder über der Flammenspitze und machte viele kleine Züge bis eine helle Glut entstand und die Flamme schließlich übersprang. Mit der linken Hand schlug er das Streichholz aus und mit der rechten hielt er die Zigarre vor seine Augen und beobachtete, wie die kleine Flamme noch ein Weilchen auf dem Zigarrenende tanzte, bis sie schließlich erlosch. Jetzt nahm er einen langen Zug und unter einem tiefen wohligen Seufzer blies er den Rauch in Richtung Zimmerdecke.

Eine Weile verging in Stille. Dann begann der Alte: „Du bist der Jens nicht war, - Jens Kroll, oder?!“

„Woher wissen Sie dass?“

„Du bist Deiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten.“

Jens stutze. Diese Antwort hatte er nun überhaupt nicht erwartet. Schließlich sagte er: „Sie können meine Mutter gar nicht kennen. Ich kenne sie ja selber nicht. Sie ist vor vielen Jahren gestorben.“

„Oh doch, ich kannte sie“, entgegnete der Förster in einem warmen und schwärmerischen Ton, „sie war ein wunderschönes junges Mädchen. Ihre helle Haut glich fast dem Weiß der Birken in der Schonung hinterm Haus, ihr Haar war glänzend braun, wie das der Kastanien, die zur Reifezeit durch meinen Kamin fallen. Ja, ihre dunkelgrünen Augen hatten ganz die Farbe meines Waldes nach einem warmen Sommerregen. Wirklich, wenn ich durch den Wald gehe, meine ich sie überall wiederzusehen ... und doch - hier hab ich sie verloren.“ Er wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel und nahm einen tiefen Zug von der Zigarre.

Jens fuhr auf. „Das stimmt nicht, das stimmt nicht!“, brüllte er weinerlich, „meine Mutter ist tot und nicht verloren! Sie kannten sie nicht! Sie sind ein Lügner!“

„Ich verstehe Deinen Schmerz“, suchte der Alte ihn zu beruhigen. „Ich selbst habe meine Frau verloren wegen dem, was damals geschehen ist. Deine Mutter kam wirklich oft zu mir und ließ sich den Wald und seine Geheimnisse von mir erklären. Ja, im Sommer gingen wir täglich die verschlungensten Wege.“ Er lachte laut auf im Erinnern. „Sie meinte dann überall Gnome und andere Fabelwesen zu erkennen und lief ihren Phantasiegestalten nach. Und dann“, er wurde ernst und seine Stimme klang bedrückt, „und dann eines Tages, es war in ihrem 20sten Lebensjahr und du warst gerade wenige Wochen alt, verlor ich sie an ihrem Lieblingsplatz für immer aus den Augen. Sie war einfach weg“, er schluckte traurig „tagelang haben wir nach ihr gesucht. Doch nicht das kleinste Zeichen war zu sehn. Meine Frau gab mir die Schuld am Verschwinden des Mädchens und verließ mich nach kurzer Zeit. Ich hätte besser Acht geben müssen. Sie konnte mir die Schuld nicht vergeben. Man sagte, die junge Mutter sei entführt worden, ein Triebtäter hätte ihr aufgelauert im Wald und schließlich ging das Gerücht, ich hätte sie ermordet“. Unendlicher Schmerz mischte sich in seine Stimme. Nichts mehr war von ihrer bedrohlichen Kraft geblieben, vielmehr klangen die Worte jetzt gebrochen, als wäre er der Sprache nicht mächtig. „Vielleicht stimmt es ja in gewissem Sinne. Wo waren nur meine Augen. Einfach weg ... sie war einfach plötzlich weg.“

Der Alte tat Jens Leid und dennoch musste er fragen: „Wo war das, ihr Lieblingsplatz? Ich würde ihn gern sehen.“

„Oh nein“, antwortete der Förster, „ich werde dich nicht hinführen.“

„Bitte, bitte“, bettelte Jens „ich möchte sehen, wo meine Mutter verschwunden ist – habe ich nicht ein Recht darauf?“ Er wickelte das Tuch von seinem Fuß, biss die Zähne zusammen und ging mühsam lächelnd im Zimmer auf und ab. „Sehen Sie, ich kann schon wieder laufen. Es tut gar nicht mehr weh. Bitte führen Sie mich hin. Ich laufe auch bestimmt nicht weg und es kann gar nichts passieren.“

Unruhig wippte der Alte in seinem Sessel hin und her.

„Na gut“, sagte er schließlich „komm!“

Er stand auf, nahm Hut und Mantel und öffnete die Tür. Jens ging hindurch und bevor der Förster die Türe hinter sich zuzog, nahm er noch sein Gewehr von der Wand und schulterte es. Für einen kurzen Moment dachte Jens daran, was sich die Leute erzählten, doch dann schüttelte er sich, wie als wolle er den Gedanken von sich abwerfen und blickte fragend auf seinen Führer. „Da lang“, brummte dieser und deutete auf einen schmalen Pfad, der ins dichte Grün des Waldes führte.

Etwa eine Viertelstunde gingen die beiden zwischen Nadelbäumen her, die einander so ähnelten, dass sich jeder Fremde hätte unweigerlich verirren müssen. Dann auf einmal tat sich vor ihnen eine lichte Stelle auf, die von den urwüchsigsten Bäumen bewohnt war, die Jens je gesehen hatte.

Alles hatte eine sehr melancholische Ausstrahlung. Der lockende Duft des Waldes war hier konzentriert. Wie Räucherstäbchen benebelte er die Sinne. Bewegten sich die Bäume etwa? Da waren große Kiefern zu sehen, um die sich mächtige Eichen wie Efeu wanden. Überhaupt waren viele Stämme zu einer Art Symbiose verwachsen, so dass man gar nicht erkennen konnte, um welche Sorte es sich ursprünglich handelte. Breite graue Buchen standen dabei, deren Wurzeln hier und da völlig verbogen aus der Erde ragten, so dass man in ihnen tatsächlich allerlei Gnome hätte sehen können. Ein Baum aber, er stand etwa in der Mitte des Gebietes, war am sonderbarsten. Sein mächtiger Stamm ging ungefähr anderthalb Meter in die Höhe. Hier teilte er sich in zwei gleichstarke Stämme auf, von denen der eine links- und der andere rechtsherum im Bogen nach oben wuchs, bis sie sich wieder trafen und zum Hauptstamm vereinigten. Der Baum sah aus wie ein riesiges verbogenes Nadelöhr. Jens war begeistert. Da wollte er unbedingt hinauf. Die Schmerzen in seinem Fuß waren nun völlig vergessen. Schon kletterte er ins Nadelöhr. Er saß in der Öffnung wie auf einer Schaukel. Mit beiden Armen hielt er sich rechts und links an den Stämmen fest und ließ seine Füße baumeln. „Sei vorsichtig!“, ermahnte ihn sein Begleiter, doch Jens war übermütig. Er stellte sich nun aufrecht in den Baum und ließ die Hände los. Er winkte dem Alten zu, als wolle er sagen: Siehst Du, es kann ja gar nichts passieren! In diesem Moment musste er den angestauchten Fuß unglücklich belastet haben. Er geriet ins Straucheln, versuchte sich noch festzuhalten, aber es war zu spät. Rückwärts stürzte er durch das Nadelöhr zu Boden. Als er aufschlug, verlor er das Bewusstsein.

Der magische Met

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