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Kapitel 1 Von sicheren Fakten ausgehen

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Am 10. März 1986 marschierte ich über das weitläufige Werksgelände einer großen Firma am Stadtrand von Kansas City in die Fabrikhalle, betrat die Rednerbühne, trat an das Mikrofon und räusperte mich, während ich meinen Blick über die Massen schweifen ließ. Mehrere Tausend Männer und Frauen saßen vor mir und warteten schweigend darauf, was ich ihnen wohl zu sagen hatte. Sie sahen ganz und gar nicht glücklich aus, im Gegenteil. Die Stimmung war miserabel.

Grund dafür war ein heftiger Disput zwischen dem Management und der Belegschaft der Folgers Coffee Company, der zum Abbruch der Lohnverhandlungen geführt hatte. Zum ersten Mal in der 78-jährigen Firmengeschichte standen alle Maschinen still, damit die gesamte Belegschaft an der Versammlung teilnehmen konnte.

Einige Wochen vorher hatte mich einer der Manager nach einer Veranstaltung angesprochen und gefragt, ob ich bereit wäre, vor den Angestellten von Folgers zu sprechen, um die ins Stocken geratenen Verhandlungen vielleicht auf diese Weise wieder in Gang zu bringen. Ich wies ihn darauf hin, dass ich als Zukunftsforscher nicht unbedingt der Richtige wäre, um einen Arbeitnehmer-Arbeitgeber-Disput zu schlichten. Das sei ihm schon klar, meinte er, doch er habe mich über das Thema »Von sicheren Fakten ausgehen« sprechen gehört und das Gefühl, dass sich auf der Basis dieser Idee die Gespräche vielleicht wieder aufnehmen ließen. Einen Versuch war es ihm auf alle Fälle wert.

Tja, und da stand ich nun, mit trockenem Mund und einem knackenden Mikrofon.

»Mein Name ist Dan Burrus«, stellte ich mich vor. »Ich bin hier, weil mich Ihr Management darum gebeten hat, mit Ihnen zu sprechen. Ich möchte vorausschicken, dass ich mein Honorar bereits erhalten habe, daher kann ich jetzt eigentlich sagen, was ich will.«

Angespanntes Gelächter raunte durch die Menge.

»Bevor wir über irgendetwas sprechen, möchte ich zunächst abklären, ob es Punkte gibt, über die Sie einer Meinung sind«, fuhr ich fort. »Stimmen Sie mir zu, wenn ich sage, dass Sie alle Ihre Arbeitsplätze behalten möchten?«

Einige Dutzend nickten grimmig, und ich hakte den ersten Punkt auf der Checkliste ab, die ich an diesem Morgen noch schnell entworfen hatte: Arbeitsplatz behalten.

»Stimmen Sie mir zu, wenn ich sage, dass Sie und Ihre Familien nicht umziehen, sondern in Kansas City bleiben möchten?«

Dieses Mal nickten einige Hundert, und ich hörte das eine oder andere »Verdammt richtig« und »Auf jeden Fall«. Ich hakte den nächsten Punkt ab: in Kansas City bleiben.

»Gut, was noch? Stimmen Sie mir zu, wenn ich sage, dass keiner von Ihnen möchte, dass das Unternehmen den Bach hinuntergeht?«

Das ging noch eine ganze Weile so weiter, bis wir schließlich eine Liste von 40 Punkten hatten, über die sich alle einig waren. Ich las sie noch einmal im Zusammenhang vor, ließ meinen Blick über die Masse der Angestellten und das kleine Grüppchen der Führungskräfte schweifen und verkündete dann: »Sie haben sich auf 40 Punkte geeinigt. Jetzt müssen Sie nur noch gemeinsam einen Weg finden, wie Sie sie umsetzen können.«

Das Verblüffende war: Es klappte. Der Disput war innerhalb kürzester Zeit beigelegt und die Produktion wurde wieder aufgenommen.

Was war passiert? Nichts von dem, was ich auf der Bühne sagte, war etwas Neues. Durch meine Fragen habe ich lediglich einige Fakten in den Vordergrund gerückt, die allen bereits bekannt waren. Doch das reichte schon, um die Pattsituation aufzulösen, sich auf neue Arbeitsverträge zu einigen und den produktiven Betrieb wieder aufzunehmen. Die Arbeitnehmer von Folgers hatten die Lösung ihrer Probleme vor der Nase liegen, konnten sie aber nicht erkennen, weil sie sich nur auf die Punkte konzentrierten, über die keine Einigkeit herrschte.

Genau daran scheitern häufig auch diplomatische Verhandlungen zwischen Nationen oder Versöhnungsgespräche zwischen Ehepaaren. Wir alle sind gelegentlich mit Blindheit für das, was vor uns liegt, geschlagen. Es ist ja auch viel einfacher, sich auf das zu konzentrieren, was nicht klappt, was nicht möglich ist, was nicht offensichtlich und was nicht bekannt ist. Doch dieser Tunnelblick macht es nahezu unmöglich, sich auf etwas zu verständigen und eine gemeinsame Linie zu finden.

Mit einer ähnlich negativen Einstellung stehen wir für gewöhnlich der Zukunft gegenüber: Es ist doch sowieso alles unsicher und ungewiss! Noch nie zuvor drehte sich die Welt so schnell wie heute. Noch nie zuvor vollzogen sich Veränderungen so rasant und in so vielen Bereichen gleichzeitig. Unter diesen Umständen ist es doch ein Ding der Unmöglichkeit zu wissen, was die Zukunft mit sich bringt!

Das stimmt jedoch nicht. Es mag uns zwar so vorkommen, aber der Schein trügt. Fakt ist: Noch nie zuvor waren treffsichere Zukunftsprognosen so einfach wie heute. Wir wissen viel mehr über die Zukunft, als uns bewusst ist. Wir müssen nur an der richtigen Stelle suchen, um die Zeichen zu erkennen und richtig zu deuten. Ähnlich wie die streikenden Arbeiter bei Folgers lassen wir uns von den scheinbar unzähligen Ungewissheiten blenden und irritieren. Und je mehr wir uns auf das konzentrieren, was ungewiss und unabwägbar ist, umso mehr verfallen wir in eine Art Schreckstarre, die uns handlungsunfähig werden lässt. Als Beispiel möchte ich auf die USamerikanische Automobilbranche verweisen.

Im Herbst 2004 war ich zu einer Festveranstaltung des amerikanischen Verbands für öffentliches Verkehrswesen eingeladen und saß an einem Tisch mit Rick Wagoner, dem damaligen Chairman und Chief Executive Officer (CEO) von General Motors (GM).

Als wir uns nach dem offiziellen Teil entspannt unterhielten, rutschten Rick einige Bemerkungen über die Zukunft der Automobilbranche und der amerikanischen Wirtschaft heraus, die ich in ähnlicher Form auch schon von Präsidenten, Premierministern, Wirtschaftsbossen und Topmanagern weltweit gehört hatte:

»Na ja, wir wissen es einfach nicht … Wir bemühen uns um gute Prognosen, aber wer weiß schon, wie sich die Dinge wirklich entwickeln? Die Wahrheit ist: Wir können noch so viele Daten erheben und Prognosen erstellen, doch die Zukunft ist und bleibt unvorhersehbar.«

Wenn das der Fall wäre, gäbe es tatsächlich gute Gründe, der Zukunft mit all ihren lauernden Gefahren mit Angst und Sorge entgegenzusehen. Wenn das der Fall wäre, befänden wir uns tatsächlich in einer hoffungslosen Lage. Und wenn das der Fall wäre, hätte ich dieses Buch nicht zu schreiben brauchen.

Glücklicherweise ist es aber nicht der Fall. Die Zukunft hat reichlich Vorhersehbares zu bieten. Ricks Unsicherheit und Zweifel sind jedoch durchaus verständlich, wenn man sich die Entwicklungen klar macht, die GM, die Automobilindustrie und die USA durchlaufen haben.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Amerika das Land mit dem weltweit größten Wachstumspotenzial und keiner Erfindung wurde eine rosigere Zukunft vorhergesagt als dem Automobil. Das Kraftfahrzeug war das Sinnbild amerikanischer Spitzentechnologie, in der sich Ingenieursleistung und Innovationsfreude in Perfektion vereinten. Im Lauf der Jahrzehnte veränderte das Auto die Lebens- und Denkweise, das Einkaufsverhalten und Liebesleben der Amerikaner sowie die Art der Kriegsführung und Friedensstiftung der Nation. Mitte des 20. Jahrhunderts, genauer gesagt 1953, gab der damalige Präsident von GM eine Erklärung ab, die noch Jahrzehnte nachhallte: »Was gut für GM ist, ist auch gut für unser Land.« Eine Abwandlung dieses Zitats wurde zu einem der geläufigsten amerikanischen Slogans des Jahrhunderts: »As GM goes, so goes the nation« – soll heißen, in der Entwicklung von GM spiegelt sich die Entwicklung der Nation wider.

Wie war es nun 2004 um GM bestellt? Nun, als ich in dem Jahr mit Rick Wagoner zu Tisch saß, ging es dem Unternehmen nicht gut. Nach Jahrzehnten der Spitzenerfolge und Spitzengewinne hatte der einst größte Industriekonzern der Welt gerade Milliardenverluste geschrieben, über ein Dutzend Fabriken geschlossen und Zehntausende Arbeiter entlassen. Und es sollte noch schlimmer kommen. Im ersten Quartal des Geschäftsjahres 2007 musste GM seinen Titel des international führenden Automobilherstellers an Toyota abtreten. Im Sommer 2009 wurden Rick und mit ihm Hunderte weiterer Führungskräfte zum Rücktritt gezwungen – von der Obama-Regierung, die astronomisch hohe Summen in das marode Unternehmen pumpte, um es vor dem endgültigen Bankrott zu bewahren. Der einst weltweit führende Automobilkonzern, Prestigeobjekt und Stolz der ganzen Nation, ging als größter unternehmerischer Misserfolg in die Geschichte des Landes ein.

Das amerikanische Automobil begann seinen Triumphzug einst als strahlend heller Zukunftsflash auf vier Rädern. Was war dann passiert? Die Branche fiel dem nur allzu menschlichen Bedürfnis zum Opfer, den Status quo um jeden Preis bewahren zu wollen. Die Verantwortlichen weigerten sich, mit offenen Augen in die Zukunft zu blicken und sich zu fragen: »Was lässt sich mit absoluter Gewissheit prognostizieren?«

»As GM goes, so goes the nation.« In welche Richtung entwickelt sich die amerikanische Automobilindustrie – und somit Amerika? 2004 sagte Rick dazu: »Wir wissen es einfach nicht«. Das stimmt aber nicht. Wir wissen jedenfalls sehr viel mehr, als uns bewusst ist.

Eine meiner Standardfragen bei Vorträgen lautet: »Wäre es nicht großartig, wenn Sie die Zukunft vorhersagen könnten – und Recht behielten?« Damit ernte ich natürlich jedes Mal Gelächter. Vielleicht, weil den meisten diese Vorstellung einfach nur lächerlich erscheint. (Stand in Ihrer Zeitung etwa schon einmal »Berühmter Wahrsager knackt den Jackpot«?) Vielleicht ist es aber auch ein erfreutes Lachen, weil sich meine Zuhörer vorstellen, welche fantastischen Möglichkeiten sich dadurch auftäten. Stellen Sie sich vor, Sie könnten die Zukunft vorhersagen – und behielten Recht. Überlegen Sie nur einmal, welchen immensen Vorsprung Sie sich dadurch verschaffen könnten. Genau darum geht es in diesem Buch.

In meinen Vorträgen fahre ich üblicherweise damit fort, dass ich behaupte: »Sie können die Zukunft exakt vorhersagen. Sie müssen dabei nur die Punkte ausklammern, in denen Sie sich täuschen könnten.«

Damit ernte ich natürlich auch immer Gelächter, aber das ist kein Witz, sondern mein voller Ernst. Das Erstaunliche ist nämlich: Selbst wenn Sie alles ausklammern, was sich als nicht zutreffend erweisen könnte, bleibt genug übrig, was sich exakt vorhersagen lässt und Sie voranbringt. Doch woher wissen Sie, was auszuklammern ist? Hier kommt der erste der sieben Zukunftsflash-Impulse ins Spiel, mit dem wir uns in diesem Kapitel eingehend befassen.

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