Читать книгу HYBRIS - Daniel Philipona - Страница 10
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ОглавлениеEs war Sonntag, am späten Nachmittag. Helen Grivas stieg die kurze steile Treppe hoch und streifte sich die Louboutins von den Füssen, bevor sie auf den weissen Veloursteppich trat. Die Stewardess wies ihr den Sitz zu und brachte ihr ein Glas Champagner.
Sie hätte wenigstens fragen dürfen, dachte Helen. Ihr Verhältnis zu Alkohol war kompliziert. Sie schaute zu wie die Bläschen aufstiegen, liess das Glas aber vorerst stehen. Stattdessen zog sie einen kleinen Spiegel aus der Handtasche und begutachtete ihr Gesicht. Ganz passabel dafür, dass der Fünfzigste immer näher rückte und dafür, dass sie zwei Nächte durchgefeiert hatte. Zum Glück hatte die Samstagnacht-Party auf der Yacht des Emirs stattgefunden. Da konnte man sich dank der Gebote des Propheten einigermassen elegant um zu viel Alkohol drücken. Was für eine Nacht das gewesen war! Selbst für Marbella lagen die Temperaturen noch aussergewöhnlich hoch. Man hätte meinen können, es wäre September und nicht schon Dezember. Und nur ausgelesene Gäste an Bord. Die ganze Bande von Möchtegerns und Schmarotzern war schon lange abgereist oder vom königlichen Majordomus kalt gestellt. Nur Besitzer, nicht Angestellte. Keine CEOs, die Sklaven ihrer Aktionäre waren, nein, die Herren selber: Industrielle, Financiers, Grossgrundbesitzer, reicher Adel. Dazu Minister aus Ländern, in denen eine Regierung noch was bewegen konnte, ohne von demokratischen Instanzen allzu sehr gestört zu werden. Sogar die Professionellen hatten so viel Klasse, dass sie von den regulär anwesenden Schönheiten – zweiten oder dritten Ehefrauen, Langzeit-Mätressen und Erbinnen – kaum zu unterscheiden waren. Alles potentielle Kunden, Geschäftspartner und Investoren, dachte Helen. Und keine Konkurrenz. Sie war persönlich eingeladen worden, nicht als Vertreterin der Bank. Vom Emir höchstselbst, denn der schuldete ihr einen Gefallen, da sie für seinen verweichlichten dritten Sohn eine Anstellung in der Londoner City arrangiert hatte. So viel man wusste, hatte sich der Junior genau einmal blicken lassen, nämlich um zu überprüfen, ob sein Büro über die standesgerecht ungeheuerlichen Dimensionen verfügte. Er schien zufrieden und widmete sich von da an ausschliesslich dem Erkunden weltlicher Genüsse in der internationalsten aller internationalen Städte. Die Arbeit überliess er Menschen, die dafür geboren waren. Helen urteilte nicht. Die Scheichs lebten in einer Welt mit anderen Massstäben. Sie war glücklich darüber, dass sie hatte helfen können. Und der Emir vergass den Gefallen nicht.
Sie liebte solche Wochenenden. Geschäft und Amüsement verbinden, dafür lebte sie. Sie sah es so: Von Montag bis Freitag war sie die Public Relations-Chefin der Bank. Das war die Pflicht. Am Wochenende jedoch lief sie die Kür. Da wurde sie zur obersten Beziehungsknüpferin und Chefverkäuferin. Von Freitagabend bis Sonntagabend war sie jeweils durchgebucht. Ein freies Wochenende hätte sie in eine tiefe Depression gestürzt. Helen wusste absolut nichts mit sich selber anzufangen. Sie musste sich von anderen Menschen nähren, denn ihr Inneres war furchteinflössend leer, wie sie selber zugab. Darum absorbierte sie jedes Wochenende einen Marathon an Anlässen: Vernissagen, Pferderennen, Konzerte, grosse Ausstellungen, Ehrungen und Partys, Partys, Partys.
Helen beobachtete wiederum die Bläschen des Champagners, schloss dann die Augen und stürzte den Inhalt des Glases gegen besseres Wissen hinunter. Es war nur schwer zu ertragen, dass an diesem Sonntag nichts mehr auf dem Programm stand. Sie war alleiniger Gast an Bord des Privatjets. Nur der Besitzer reiste mit, aber der hatte sich so hingesetzt, dass Helen ihm nicht in die Augen sehen konnte. Sie vermutete Absicht dahinter. Er wollte ungestört arbeiten. Und um ihr das völlig klar zu machen hatte er sich umgezogen, gleich nach dem sie den Jet bestiegen hatten. Er trug nun einen grässlichen, ausgebeulten Trainingsanzug. Mit seinen fetten Backen, Tränensäcken und aufgestellten Haaren sah er aus wie ein Langzeitarbeitsloser, der in seinem Fernsehsessel vor den Nachmittags-Talkshows dahinvegetierte. Wie konnte man sich nur so gehen lassen? Helen kam sich in ihren eleganten Hermesklamotten völlig deplatziert vor.
Er hatte sie mitgenommen, weil er am Montag per Zufall Geschäfte in der Stadt zu erledigen hatte, in der die Bank ihren Hauptsitz hatte. Sie hatte gehofft, dass hinter der Einladung vielleicht mehr steckte, aber sie wurde enttäuscht. Er liess sie links liegen, sobald sie im Jet Platz genommen hatten. Helen ärgerte sich über die entgangene Gelegenheit. Ihrem Gastgeber gehörte der Hedgefonds der Saison und er war noch kein Kunde der Bank. Ein Zustand der für Helen unakzeptabel war. Sie dachte daran, wieviel Assets sie noch bringen musste, um endlich in den innersten Kreis vorzudringen. Denn bis dato war sie nur Mitglied der erweiterten Konzernleitung. Natürlich hatte sie sich gefreut, als sie nach der letzten Reorganisation auf die Position befördert wurde. Aber nach einer Weile stellte sie fest, dass es einen riesigen Unterschied zwischen dem inneren und dem äusseren Kreis der Führung gab. Jeder der Divisionsleiter schaute mit unverhohlener Arroganz auf sie hinunter – wenn er sich überhaupt dazu herablies, sie zur Kenntnis zu nehmen. Dass es Helen Grivas war, die das Image der Bank so zurechtschliff, dass die Kunden den Divisionen direkt zuflogen, interessierte die überheblichen Bastarde einen Dreck.
Deshalb hatte sie sich – anlässlich eines Wochenendgigs auf einem schottischen Märchenschloss – an den Aufsichtsratspräsidenten herangemacht. Bei einem Whisky vor dem Kamin hatte sie aggressiv sondiert, was sie denn tun müsse, um den entscheidenden Schritt zu schaffen. Sie liess erkennen, dass sie zu allem bereit wäre. Die Bemerkung hätte beinahe ihre Karriere ruiniert, weil der hässliche Idiot tatsächlich geglaubt hatte, sie wolle ihn anmachen. Während endloser zehn Sekunden las sie in seinen Augen eine Abfolge von Gefühlen und Gedanken: Verwirrung, Jagdlust, Lüsternheit, Taxierung, Enttäuschung, Ernüchterung, Geschäftssinn.
„Sie müssen sich Respekt verschaffen“, sagte er schliesslich.
„Respekt?“, fragte sie.
„Geld. Assets. Business! Was denn sonst!“ Helen lief rot an, der Präsident nahm einen grossen Schluck und nannte eine Zahl. „Bringen sie diese Kundengelder in die Bank und ich werde persönlich dafür sorgen, dass sie einen Platz am Erwachsenentisch bekommen.“
Ihr heutiger Gastgeber hätte ein sehr schönes Stück zu dieser Zahl beitragen können. Verdammt. Sie biss sich auf die Lippen. Aber die Privatjet-Etikette war in dieser Frage leider unmissverständlich. Sie würde die Privatsphäre ihres Gastgebers genau einmal missachten und sie würde nie mehr mitfliegen. Weder bei ihm, noch bei seinen zwölf besten Freunden. Sie musste auf eine andere Gelegenheit warten.
Helen zog ihren Notebook-Computer hervor und begann ihr Journal nachzuführen. Sie führte pingelig genau Buch darüber, wen sie wann wo getroffen hatte, was diskutiert wurde und was sie sonst noch am Wissenswertem aufschnappte. Sie hatte auf die harte Tour lernen müssen, dass sie jetzt unter Raubtieren lebte. Mehrmals war ihr die mühsam erlegte Beute aus den Klauen gerissen worden. Die Assets von Kunden, die sie akquiriert hatte, waren einem skrupellosen Divisionsleiter zugeschlagen worden. Bis sie endlich begriff, dass das zum Spiel gehörte. Sie musste lernen sich zu wehren, sonst hatte sie am Tisch der Grossen nichts verloren. Und seit sie Fakten, aber auch Klatsch und Gerüchte sammelte, war ihr nichts mehr weggenommen worden. Es war unglaublich, wieviel sie bereits über die dunklen Seiten der Bankoberen herausgefunden hatte, seit sie gezielt nachforschte. Affären, grossangelegte Spekulationen, Insidergeschäfte oder Bekanntschaften mit zweifelhaften Elementen. Sie las nochmals durch, was sie geschrieben hatte. Das Wochenende hatte weniger Resultate geliefert, als sie zuerst geglaubt hatte. Mehr Unterhaltung als Business. Vielleicht ein paar Optionen für die Zukunft, aber nichts Greifbares. Den Baron von Donners-irgendwas, der durchblicken liess, dass er mit seinen englischen Bankern unglücklich war, hatte sie sofort als Hochstapler durchschaut. Er war ein schlaffer Typ von knapp vierzig Jahren, an dem Kleidung, Fleisch und Haut frühzeitig herunterhingen. Vom Geschäft verstand er definitiv weniger als sie selbst. Wenn er tatsächlich mal um die dreissig Millionen geerbt hatte, wie er umständlich den Anschein zu erwecken versuchte, dann wäre bei seiner Inkompetenz längst nichts mehr davon übrig geblieben. Gute Freunde und Berater hätten sich bedient und wären längst mit dem Tafelsilber verschwunden. Und selbst wenn er nicht gelogen hatte: Es lohnte sich nicht, für so wenig Geld zu riskieren, sich zu blamieren. Sie würde den Baron sicher nicht zur Bank bringen.
Der Captain meldete, dass man aus dem Fenster irgendeine französische Stadt sehen konnte, deren Namen sie nicht verstanden hatte. Der Flug zog sich hin und sie spürte den Alkohol in allen Gliedern. Helen schluckte den Rest aus dem Glas, das so schön war, dass sie sich am liebsten darin verkrochen hätte. Sie sah auf die Uhr. Noch eine Stunde. Sie klappte das Notebook zu. Eine Sekunde später stand die Stewardess, die von hinten alles beobachtet hatte, neben ihr.
„Darf ich den Computer für Sie im Gepäck verstauen?“
Helen schaute den langen Beinen und den verführerischen Hüften entlang nach oben.
„Ja, danke“, sagte sie mit belegter Stimme.
„Ich bringe Ihnen auch gerne noch ein Glas.“
Du willst mich wohl ruhig stellen, dachte Helen. Ich bin dir wohl zu unheimlich, was? Sie griff nach einer Zeitschrift. Ein Lifestyle Magazin für die oberen Zehntausend. Sie blätterte den Schund durch, und fragte sich, ob die Leute wirklich glaubten, dass die Reichen so lebten? Den ganzen Tag Champagner aus der Magnumflasche saufen, Autos mit Tausend PS fahren, die man keine Parkhausrampe hinunter kriegte oder Tourbillon-Uhren am Handgelenk tragen, mit denen man sich nur einmal an der Tischkannte stossen musste, um den Mechanismus vollständig zu ruinieren? Und dann dieses Klischee, dass die Reichen nichts lieber taten, als den ganzen Tag shoppen, obschon sie bereits alles in zehnfacher Ausführung besassen. Helen schüttelte den Kopf, während sie das nächste Glas runterkippte. Was für ein Schwindel! Im Hintergrund hörte sie das Plopp einer neuen Flasche. Das Mädchen war auf Trab, da gab’s nichts zu mäkeln. Sie brachte auch gleich ein neues Glas, dessen Inhalt Helen im Nu herunterschluckte. Sie war jetzt ziemlich beduselt und sie vermisste einen Menschen, mit dem sie reden konnte, mehr denn je. Helen lehnte sich über die Armlehne hinaus, damit sie sehen konnte, ob ihr Gastgeber immer noch am Arbeiten war. Aber die Stewardess, die mit allen Wassern gewaschen war, erkannte, was sie vorhatte und trat dazwischen. Sie füllte Helens Glas erneut und widmete sich dann ihrem Herrn, der sich in seinem ausgebeulten Trainingsanzug im Sitz fläzte. Sie schenkte ihm ein Lächeln von einer Qualität wie Helen nie eines erhalten würde. Ihr wurde schwindlig. Wenn ich nicht hier wäre, dachte sie, dann würdest du jetzt vor ihm auf die Knie gehen und es ihm besorgen, du verdammte Hure. Sie zog die Schlafmaske über die Augen und versuchte nicht zu weinen.
Eine Stunde später war die Maschine endlich gelandet. Bevor sie ihre Sachen packen und aufstehen konnte, winkte der Gastgeber schon zu ihr herüber. Dann war er durch die Tür verschwunden. Die beiden Frauen sahen ihm enttäuscht nach. Er war vor ihnen beiden geflüchtet, klarer Fall, denn mit seiner Filmstarfreundin konnten sie’s beide nicht aufnehmen. Helen versuchte die Fassung zurückzugewinnen und sah zur Stewardess hinüber. Dich könnte ich schon trösten, dachte sie, als sie sich vorstellte, wie sie der Stewardess die Bluse aus dem Rock zog und mit ihren Händen über die darunterliegende warme Haut fuhr. Sollte sie ihr ein finanzielles Angebot machen? Nein, dafür war sie einfach zu wenig abgebrüht und sie hatte nicht die geringste Idee, wie man ein solches Anliegen einigermassen stilvoll formulieren könnte. Dabei hätte sie es so nötig gehabt, heute Nacht jemanden neben sich im Bett zu haben. Doch jetzt war’s bereits zu spät. Das Ziel ihrer Träume bugsierte sie kalt lächelnd zur Tür hinaus. Helen schwankte die gefährlichen Stufen hinunter und schaute zurück. Fast schien es ihr, als würde die Stewardess auf ein Zeichen warten. Aber auch dieser Moment war verpasst. Der Pilot war aus seiner Kabine getreten und plusterte sich vor der Schönen auf. Er drückte auf einen Knopf und die Türe wurde von unsichtbarer Hand leise nach oben gezogen. Helen stand allein auf dem Rollfeld. Sie drehte sich traurig ab und ging mit konzentrierten Schritten breitbeinig zur Halle hinüber. Später konnte sie sich nicht mehr erinnern wie sie es überhaupt zum Taxistand geschafft hatte. Völlig ausgepumpt warf sie ihren Koffer in den Wagen und liess sich auf den Rücksitz plumpsen. Der Fahrer roch nach Knoblauch und sprach kein Wort einer zivilisierten Sprache, wie sie rasch herausfand. Sie musste dringend versuchen die Schwärze zu bekämpfen, die in ihr aufstieg und so griff sie zum Smartphone. Vielleicht hatte ihr jemand etwas aufs Band gesprochen. Sie hatte zuerst Mühe, die verschwommenen Buchstaben zu lesen. Das Display zeigte nichts als drei Anrufe, von einer Mitarbeiterin in Singapur, die sie nicht ausstehen konnte. Dazu ein E-Mail mit dem Wort Shitstorm. Nicht schon wieder dieses Thema. Und mit drei Ausrufezeichen. Aber die Wichtigtuerin versendete jedes zweite Mail mit Ausrufezeichen und Helen hatte wirklich keine Lust mit der geistig zurückgebliebenen Göre über deren neues Lieblingsthema zu diskutieren.
Stattdessen kam sie zum Schluss, dass es Zeit war, die halbe Schlaftablette einzuwerfen, die sie hoffentlich vollends betäuben würde, sobald sie in ihrer Wohnung ankäme. Das war ihr neuster Trick. Das Timing war so gewählt, dass sie noch genug wach war um den Fahrer korrekt zu bezahlen, in den 23. Stock zu fahren und die Tür aufzusperren. Während sie früher die Stille und Leere ihres Apartments wie ein Schlag in den Magen getroffen hatte, war sie jetzt jeweils schon so vorermüdet, dass sie sich so aufs Bett freute wie ein kleines Kind, das den ganzen Tag draussen herumgerannt war. Und auch heute funktionierte die Strategie: Sie schaffte es gerade noch nach oben, zog Schuhe und Jacke aus, fiel auf das optimistisch grosse Bett und dort in tiefen Schlaf.
Es dauerte lange bis sie das Geräusch nicht nur registrierte sondern auch einordnen konnte. Es war ihr Telefon, das pausenlos vibrierte. Draussen war es immer noch dunkel. Ein Blick auf die Uhr zeigte Viertel vor Vier. Gut. Ganze sieben Stunden geschlafen. Das war mehr als genug. Sie fühlte sich zwar nicht gerade wie eine gespannte Feder, aber sie hatte genügend Energie, um anständig durch den Tag zu kommen. Auf den Wachmacher aus dem Medikamentenschrank konnte verzichtet werden. Helen schaltete die Kaffeemaschine ein und stieg danach unter die Dusche. Die Prozedur schloss sie mit einer Minute eiskalten Wassers ab. Sie schnappte zwar nach Luft, aber anschliessend konnte sie sich dafür im Spiegel an ihrer Haut erfreuen, die in jugendlichem Rosa schimmerte. Im Bademantel setzte sie sich an die Bar in der Küche und braute sich einen doppelten Espresso. Sie gab ihrem Notebook zwei Minuten Zeit die Mailbox zu synchronisieren. Während dessen hielt sich die Tasse vorsichtig an die Lippen und versuchte sich nicht den Mund an der brutal heissen Flüssigkeit zu verbrennen. Es misslang.
„Was zum Teufel?!“, sprach sie leise in die Leere ihrer Wohnung. Sie hatte ihre Mailbox geöffnet. Neben dem üblichen Mist fand sie ein Dutzend E-Mails, alle zum gleichen Thema und alle mit Grossbuchstaben geschrieben. Sie öffnete das Oberste, las es ungläubig, und klickte sich dann durch die Internetlinks, die im Mail angegeben waren. Eine einzige verdammte Katastrophe. „Was zum …“, sagte sie noch einmal. Warum erfuhr sie erst jetzt davon? Diese Penner! Musste sie sich denn immer selbst um alles kümmern? Sie hatte schliesslich keine Zeit das ganze Wochenende alle Social Media Sites dieser Welt zu überwachen. Dafür hatte sie ein Team! Verdammte Schlafmützen! Jemand musste dafür zur Rechenschaft gezogen werden. Bald war Bonuszeit, und sie würde ein paar Leute ihn ihrem Team sehr, sehr unglücklich machen. Wütend wählte sie eine Nummer in Singapur.
„Ja, ich hab’s gesehen. Warum wurde ich nicht früher informiert? …. Das sind Ausreden, Sie wissen, dass ich keine Ausreden akzeptiere! … Nein, jetzt hören Sie mir zu, schreiben Sie auf: Wir brauchen sofort eine Analyse, welche Sites, wie viele Meldungen, welche User … wer sind die Meinungsmacher? … Strengen Sie ihr Hirn an! … Alles was wir wissen müssen, um die Lage unter Kontrolle zu bringen … ich will Vorschläge hören, lassen Sie sich was einfallen! Haben Sie sich nicht bei mir als die Social Media Queen angepriesen? Ihre exakten Worte, wenn ich mich recht erinnere. Nehmen Sie ihren verdammten Finger raus und zeigen Sie, dass Sie ihr Geld wert sind! Und noch was: Sie beschäftigen doch diese Leute, die uns wohlgesinnte Einträge verfassen. Mobilisieren Sie alles, was wir haben! Wir müssen diesen Mist stoppen, bevor alle Dämme brechen!“
Helen zog sich an, packte ihre Tasche und fuhr mit dem Aufzug in die Tiefgarage. Sie hasste es mit dem eigenen Wagen zu fahren. Aber die Dienstzeit ihres Fahrers begann Montag erst um sechs. Auf ein Taxi mochte sie nicht warten, dazu war sie zu aufgeladen. Also keine Wahl: selber fahren. Wenigstens gab’s kaum Verkehr und sie kam tatsächlich ohne Unfall in der Bank an. Der Nachtwächter bestätigte ihr, dass der Chief Operating Officer bereits da war – so wie sie das erhofft hatte.
Voller Energie stiefelte Helen durch die leeren Grossraumbüros. Dabei aktivierte sie sämtliche Bewegungsmelder und schuf damit eine Bugwelle aus Licht, die für die Obdachlosen, die von draussen zuschauten, aussah wie ein verfrühtes Weihnachtswunder. Der Lichterreigen endete erst als sie beim hintersten Einzelbüro angekommen war. Sie konnte die unverwechselbare Silhouette des COO sehen, der vor der mattierten Glasfront stand und nachzudenken schien. Niemand hatte je so eine Figur gesehen. Wie von Doktor Frankenstein aus zwei verschiedenen Körpern zusammengeflickt. Vom Gesicht bis hinunter zum Gürtel sah er aus wie ein ausgemergelter Revolverheld aus einem Westernfilm; vom Gürtel an abwärts hingegen, wie eine gut genährte Frau aus einem Rubensgemälde. Er bewegte sich ungern und wenn, dann auf eine träge Art, die an das Weiden einer Kuh erinnerte. Wahrscheinlich deswegen kam jemand auf die Idee die Abkürzung COO statt als englische Einzelbuchstaben – C-O-O – auf die gleiche Weise auszusprechen wie das deutsche Wort Kuh, oder, zurückanglisiert, Coo. Die neue Aussprache setzte sich durch. Er selbst nahm’s gelassen – er hatte kaum die Augenbraue gehoben, als ein Unvorsichtiger den Begriff zum ersten Mal in seiner Anwesenheit benutzt hatte.
Helen sah durch das mattierte Glas, dass er sich wahrscheinlich an seinen Schreibtisch gesetzt hatte. Sie klopfte an die Tür und trat ein.
„Oh, Helen, schon so früh unterwegs?“ Er freute sich, sie zu sehen. Bei jedem anderen wäre Helen sicher gewesen, dass der Grund für die Freude primär darin lag, dass jemand bemerkte, was für unglaubliche Arbeitszeiten der Betreffende hinlegte. Bei ihm war sie sich aber nicht sicher. Er war der uneitelste Mensch, den sie kannte. Ausserdem wusste sowieso jeder in der Bank, dass ihn in der Disziplin Präsenzzeit niemand schlagen konnte. Helen schloss die Tür mit Schwung.
„Gut, dass Sie da sind“, sagte sie und trat hinter seinen Schreibtisch, dicht neben ihn. „Darf ich? – Wir haben da nämlich ein Problem.“ Belustigt ab so viel morgendlicher Nähe, stand er mit dem üblichen Klonk auf – das Geräusch, das sein Sessel lieferte, als er ihm nach einigem Zögern vom breiten Hintern fiel. Er sollte wirklich nur Stühle ohne Seitenlehnen benutzen, dachte Helen, als sie sich hinsetzte und begann auf seinem PC herumzuklicken.
„Hier, lesen Sie!“ Sie deutete mit ihrem mageren Zeigfinger auf den Bildschirm. Helen stand auf und liess ihn wieder in seinem Sessel Platz nehmen. Er begann zu lesen, blätterte runter und wieder rauf. Sein Gesicht näherte sich dem Bildschirm immer mehr, so konzentriert las er. Helen hielt den Finger wieder auf den Bildschirm. „Und jetzt hier klicken. Es geht noch weiter.“
„Heilige Scheisse. Was ist denn hier passiert?“ fragte er eher belustigt als besorgt, was Helen ziemlich ärgerte. Der Kerl hatte nichts von modernen Medien begriffen. Und er war beileibe nicht der einzige in der Bank. Sie musste den Typen immer alles dreimal erklären und trotzdem nahmen sie’s nicht ernst.
„Jemand zettelt einen Shitstorm gegen uns an“, sagte sie. „Verstehen Sie? Für unser Image ist das katastrophal. Das hier ist ernst!“
„Aber wer würde so etwas tun?“, fragte er immer noch eher verwundert als beunruhigt.
„Keine Ahnung. Ich hab’s eben erst erfahren. Wir sind daran herauszufinden, wer dahinter steckt. Bis jetzt scheint es ein lokales Phänomen zu sein. Wir hoffen, dass wir’s noch eindämmen können. Könnte die Occupy-Bewegung sein. Oder die Konkurrenz.“
„Die Konkurrenz?“
„Natürlich nicht von oben herab befohlen. Aber vielleicht steckt eine Einzelperson oder eine kleine Gruppe dahinter. Ein wildgewordener Ehrgeizling, der sich mit einer Heldentat profilieren will.“ Sie hielt einen Moment inne und fügte dann bedauernd an: „Die Experten auf dem Gebiet der neuen Medien entsprechen leider nicht immer unseren hohen ethischen Standards. Es werden Leute angestellt, die einen anderen Umgang gewohnt sind. Unter den jungen Internetfirmen herrscht Krieg. Da werden auch fragwürdige Mittel eingesetzt. Zuerst schiessen, dann fragen – verstehen Sie?“
„Stellen wir auch solche Leute ein?“
„Wir versuchen natürlich die Unzurechnungsfähigen herauszufiltern. Aber ein Restrisiko bleibt natürlich immer.“
„Hören Sie, Helen, ich habe heute Morgen eine Reihe wichtiger Sitzungen. Sie haben die Sache im Griff, wie ich sehe. Wenn Sie was brauchen, schreien Sie um Hilfen und ich eile herbei.“
Helen verstand den Wink. Sie griff nach ihrem Mantel und ihrer Tasche. „Sollen wir den Krisenstab einberufen?“
Der Coo war nicht begeistert. Hinter dem Wort Krisenstab steckte ein straff reglementierter Ablauf mit zahllosen Vorschriften, die ohne Ausnahme einzuhalten waren. Wenn der Krisenstab erst einmal einberufen war, dann wäre der Coo für die nächsten vierundzwanzig Stunden zu hundert Prozent absorbiert.
„Lassen Sie uns die Sache nicht aufbauschen“, sagte er. „Solange Sie Ihre Finger drauf haben, sollten wir es im kleinen Rahmen behalten. Ich werde meinen Stabschef informieren. Er wird Ihnen nötigenfalls helfen.“
Der Coo war aufgestanden, um sie zur Tür zu begleiten. „Ich tippe ja auf Occupy. Die wollen uns einfach ärgern. Schauen Sie doch mal nach, ob die bei anderen Banken auch so einen Zirkus veranstalten.“ Seine Miene hellte sich auf. „Occupy ist die einfachste Erklärung. Und die einfachste Erklärung ist immer die beste Erklärung. Ockham’s Razor.“
„Das tönt gut.“ Helen, die noch nie etwas von Ockhams Rasierern gehört hatte, war aber noch nicht fertig. Sie blieb unter der Tür stehen und biss sich auf die Lippe. Mit aufgerissenen Augen platzte sie schliesslich mit ihrer Frage heraus: „Nur um sicher zu gehen … dass da was dran ist … ich meine, dass unsere Zahlen wirklich falsch im Computer sind, das ist doch nicht möglich, oder?“