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In der EVEREST-Kommandozentrale klickte Fred Larson auf seinem Bildschirm ein Fenster weg. Er hatte sich die Aufzeichnung des Spiels von letzter Nacht angeschaut. Die Devils hatten wieder einmal eine Partie verloren, die sie auf dem Papier haushoch hätten gewinnen müssen. Ausgerechnet gegen die Islanders, die grössten Luschen im Feld! Fred starrte ungläubig auf den leeren Bildschirm. In dem Moment blinkte ein Icon auf. Jemand wollte mit ihm über das Videoconferencing-System sprechen.

„Guten Morgen Fred.“

„Guten Abend Raj – oder gute Nacht? Muss bei euch ja schon verdammt spät sein.“

„Ja, aber kein Problem. Was läuft?“

„Alles ruhig hier, ich hab mit grad ein Eishockeyspiel angesehen. Leider haben die Falschen gewonnen.“

Raj lachte. „Versuch’s mal mit Cricket, dann kannst du dir ein neues Team aussuchen.“

„Ich interessier‘ mich eben mehr für Sport als für Teetrinken und sich in Liegestühlen fläzen.“

„Touché. Ich hätte wissen müssen, dass du davon nichts verstehst. Es geht hier nämlich um Kultur. Aber du kannst ja nichts dafür, dass du Amerikaner bist.“ Raj lachte bewusst laut, denn bei den Yankees wusste man nie, ob sie einen Witz verstehen würden, wenn er nicht als solcher gekennzeichnet war. Fred, der genau wusste, was die Briten und ihre Alliierten über ihn und seinesgleichen dachten, lachte eifrig mit, damit ja kein Missverständnis entstünde. Nach weiteren Frotzeleien und Gelächter zur Stärkung der gegenseitigen Freundschaft wurde Raj schliesslich ernst: „Ich hab da etwas, das du wissen solltest. Wir bekamen eine Meldung von einem Virenangriff. Ein Kerl aus diesem neuen Callcenter in Bangalore hat uns angerufen. Der war ziemlich von der Rolle. Er hat darauf beharrt, dass die Bank angegriffen werde. Ich zitiere: ‚Die räumen unsere Konten ab! Sie müssen was tun!‘ Alles ziemlich verworren. Er versteht natürlich überhaupt nichts von Viren. Aber man weiss ja nie. Wir haben jedenfalls eine breite Analyse gefahren. Alle ungewöhnlichen Aktivitäten angeschaut und überprüft. Wir haben mit den Softwareherstellern und den Sicherheitsfirmen gesprochen. Nichts. Keine Zeichen eines erfolgreichen Angriffs. Keine Sicherheitslücken, die im Moment bekannt wären. Keine Aufregung auf den einschlägigen Hacker-Sites.“

„Okay, Danke für den Bericht. Wir haben hier auch nichts gehört. Aber ich nehme an, dass du mich angerufen hast, damit wir von hier aus mal reinschauen. Richtig?“

„Ja, genau“, sagte Raj. „Man weiss ja nie.“

Fred hörte sich die ganze Story an, und Raj gab ihm Mukeshs Kontaktdaten durch. Fred versprach, sich darum zu kümmern. Mukesh war per Telefon nicht mehr erreichbar, deshalb schrieb Fred ihm eine E-Mail. Er möge ihn sofort anrufen, wenn er das läse.

Fred trat aus seinem Büro in einen Saal, der aussah wie ein Handelsraum für Aktien- oder Devisenhändler – nur, dass hier keine Trader arbeiteten, sondern ein Haufen junger Ingenieure. In diesem Raum, der Kommandozentrale, liefen die Fäden der ganzen EVEREST-Anlage zusammen. Von hier aus wurde das Rechenzentrum überwacht und von hier aus wurde alles gesteuert. Im Moment waren etwa ein Dutzend entspannt wirkender Männer anwesend, die zurückgelehnt in ihren Chefsesseln zahllose Monitore beobachteten, Berichte und Analysen lasen oder kleine, clevere Programme schrieben, die ihnen die Arbeit weiter erleichtern sollten. Vor jedem Arbeitsplatz stand eine Stahlsäule, aus der wie bei einem Baum vier oder gar sechs Computermonitore wuchsen. Und an einer Seitenwand des Saals war eine Zeile noch grösserer Bildschirme montiert, auf denen man Karten von Ländern und Kontinenten sah, sowie Hunderte grüner, gelber und roter Punkte, die durch ein dichtes Geflecht von Linien miteinander verbunden waren. Was aussah wie der Metroplan einer chinesischen Megastadt diente der Überwachung des weltweiten Computernetzwerks der Bank.

Die Seite des Raums, die den Grossbildschirmen gegenüber lag, war hingegen über die ganze Länge verglast. Hinter den getönten Scheiben sah man in spektakulärer Aussicht auf das Meer. Die Ergonomen hatten darauf bestanden. Die Mitarbeiter waren angehalten, ihre monitorgeplagten Augen öfters durch einen Blick in die Weite zu entspannen. „Wird die Leistung erhöhen, glauben Sie mir“, hatte der oberste Arbeitsplatzgestalter versprochen. Fred, der ehemalige Leutnant der Marines, hielt das zwar für ziemlichen Humbug, aber schliesslich hatte er sich nicht weiter gewehrt, als klar wurde, dass sie ihr neues Quartier im Kristall beziehen würden. Und er musste zugeben, dass die spektakuläre Umgebung half, die besten Leute für den Job zu gewinnen. Wer einmal hier gearbeitet hatte, wollte so schnell nicht wieder weg.

Zufrieden schaute Fred auf seine Jungs. Sie waren die Besten – zusammengehalten durch einen Korpsgeist, wie er ihn seit seinen Militärtagen nicht mehr erlebt hatte. So viel er wusste, kommandierte er die letzte frauenlose Bastion in der Bank. Und das war richtig so! Die Anti-Diskriminierungspolizei der Personalabteilung war ihm zwar deswegen schon auf die Pelle gerückt. „Ein bisschen viel Zufall, finden Sie nicht, Fred? Strengen Sie sich ein wenig an. Sie werden bestimmt jemanden finden!“ Aber er hatte die Schlacht noch einmal gewonnen. Er präsentierte zwei Kandidatinnen, die zwar brillante Abschlüsse vorweisen konnten, aber derart verhaltensauffälig waren, dass man sie selbst dann nicht eingestellt hätte, wenn die Damen für das Privileg bezahlt hätten.

„Es ist einfach kein Frauenberuf“, hatte er erklärt, doch die Leiterin der Task Force Gleiche Chancen für alle hatte nur verächtlich geschnaubt. Fred machte sich keine Illusionen. Die Sache war für ein Jahr vom Tisch, aber er wusste, dass er nur davongekommen war, weil EVEREST im Moment noch die Schlagzeilen lieferte und er damit am längeren Hebel sass. Wäre die Normalität erst einmal eingekehrt, würde er entweder spuren müssen oder er bekäme seine Halsstarrigkeit bei jeder Beurteilung links und rechts um die Ohren gehauen. Dabei hatte er ja gar nichts gegen Frauen, ganz im Gegenteil, er liebte sie im Allgemeinen und seine Ehefrau und die zwei Teenanger-Töchter ganz besonders. Er verstand sie nur nicht. Und hier war ein Ort, der sich blitzschnell in eine Kampfzone verwandeln konnte. Da musste man sich blind verstehen. Kein Platz für Gefühlsduselei. Kein Platz für die verdammte politische Korrektheit, die sich in der Bank ausbreitete wie eine heimtückische Krankheit und alles zu beherrschen begann, sobald ein einziges weibliches Wesen auftauchte. Und an all die zwischenmenschlichen, erotisch aufgeladenen Minenfelder wollte er erst gar nicht denken. Zum Glück gab‘s unter Freds Kommando keine solchen Ablenkungen. Hier konnten sich seine Jungs ungestört auf die anstehenden Herausforderungen konzentrieren.

„Leute!“ Fred klatschte in die Hände: „Hört alle her! In zehn Minuten zum Briefing. Im Konferenzraum. Verstanden? Danke.“

Die Crew aus jungen Männern setzte sich in Bewegung. Ein Meeting einfach so mitten am Tag war ohne die entsprechende Dosis Nervengift nicht auszuhalten. Koffein oder Nikotin, je nach persönlichem Geschmack. Die Laster einer gelangweilten Elite, wie einer von ihnen kürzlich in der Schlange am Espressoautomaten erklärt hatte. „Wir sind die Besten, haben an den renommiertesten Universitäten Computerwissenschaft studiert, verdienen Geld wie blöd – nicht das ich irgendetwas dagegen einzuwenden hätte –, aber wir haben den ganzen Tag nichts zu tun. In den Monitor starren, Papierflieger falten, Büroklammerschleudern basteln, von nackten Frauen träumen und auf den Moment warten, an dem endlich die Welt zusammenbricht und wir zeigen können, wie verdammt gut wir sind. Da muss man einfach zu Substanzen greifen.“

Mittlerweile hatten sich alle bedient. Die Sitzlehnen der Sessel im Konferenzraum waren maximal zurückgestellt, aber man blickte doch neugierig auf den Chef. Denn der schien heute Morgen gespannt wie eine Feder – eine Haltung, die mehr versprach, als das Verlesen der neusten administrativen Schikanen aus der Konzernzentrale.

„OK, Jungs“, begann Fred, „Wir haben eine Meldung – indirekt und unbestätigt, wie ich betonen muss – über mögliche Fehlstände auf einer Handvoll Konten im asiatischen Raum.“

Spätestens jetzt genoss er die volle Aufmerksamkeit seines Teams. Das waren mal Neuigkeiten! Die Sessel gierten, und ein paar der Jungs sassen jetzt ein wenig aufrechter.

„Die Antworten auf eure Fragen nehme ich gleich vorweg. Erstens: Wir wissen nicht, wie viele Konten betroffen sind. Wir haben in einem Callcenter Beschwerden entgegengenommen, aber der Kerl, der den Laden führt, hat die Nerven verloren und die Leitungen gekappt. Könnte also alles nur ein dummer Zufall gewesen sein. Ein paar Kunden, die glaubten, mehr zu haben als sie tatsächlich hatten. Kommt vor, hab ich mir sagen lassen.“ Fred räusperte sich und fuhr dann fort: „Aber es waren mehr als ein Dutzend Anrufe in weniger als neunzig Minuten. Das müsste also schon ein verdammt riesiger dummer Zufall gewesen sein.“

Man hörte jetzt nur noch die Lüfter der Klimaanlage leise schwirren. Alle warteten gespannt auf die Fortsetzung. Einen solchen Fall hatten sie noch nie erlebt.

„Zweitens – und, ja, Brian, ich weiss was du sagen willst: Was haben wir den damit zu tun? Wenn’s wirklich ein Problem gibt, dann sind sicher die Entwickler schuld. Richtig?“

Fred nahm sich Zeit, kurz in jedes Paar Augen zu sehen, das ihm entgegenblickte. Seit Jahrzehnten gab es Rivalitäten zwischen den Technikern, die für die Hardware, die Betriebs- und Kommunikationssysteme und die Datenbanken zuständig waren und den Anwendungsentwicklern, die die Programme schrieben, mit denen die Geschäfte der Bank betrieben wurden.

„Richtig, sag ich, höchstwahrscheinlich ist das so. Wenn wirklich falsche Zahlen in der Datenbank stehen, dann hat wahrscheinlich ein Buchungsprogramm falsche Zahlen hineingeschrieben. Aber – und das ist Drittens – wir sind die einzigen Leute mit Verstand, die heute Samstag und Morgen Sonntag in dieser Bank arbeiten. Unsere gloriosen Programmierer haben letzte Woche ganz hart gearbeitet und müssen nun das Wochenende über Tee trinken, Däumchen drehen und ihre ehelichen Pflichten erfüllen. Also: Wenn’s was zu finden gibt, dann finden wir es. Endlich könnt ihr zeigen, dass ihr die obszönen Saläre wert seid, die wir euch jeden Monat in den Hintern schieben!“

Die durch diese Rede beschwingte Truppe erhob sich und machte sich auf den Weg zurück an ihre Arbeitsplätze. Fred, der einen gewissen Ernst vermisste, rief ihnen nach: „Und falls tatsächlich etwas in unseren Systemen faul sein sollte, dann brauch ich euch nicht extra zu erklären, was das bedeutet! Also bis klar ist, wo wir stehen: kein Alkohol, keine Drogen. Heute Nacht wird richtig geschlafen, auch wenn Samstag ist!“

„Aye, Sir“, tönte es enthusiastisch zurück.

Nach einem langen Tag voller Theorien und Hypothesen und Suchen war es draussen dunkel geworden. Sie hatten nichts gefunden. Alle Systeme liefen perfekt. Keine Fehlermeldungen. Keine Warnungen. Keine Anomalien. Der neue Rechnerverbund verwaltete sich zum grossen Teil selber. Wenn auch nur eines der hunderttausend Programme nicht so gelaufen wäre, wie vorgesehen, dann hätten sie es gesehen. Wenn eine der Hunderten von Datenbanken etwas Verdächtiges wahrgenommen hätte, dann hätten sie es gesehen. Wenn irgendeiner der zehntausend Prozessoren oder Festplatten ausgefallen oder auch nur zu warm gelaufen wäre, dann hätten sie es gesehen. Wenn die Stromversorgung gezickt hätte – sie hätten es natürlich gesehen. Aber da war nichts. Kein Pieps. Nur stille Perfektion.

Schliesslich waren die Jungs der Morgenschicht enttäuscht nach Hause gefahren. Neue Kräfte hatten ihre Plätze eingenommen. Fred wiederholte die Ansprache vom Morgen und die Truppe machte sich mit frischen Augen auf dieselbe Suche. Fred hatte danach eigentlich Dienstschluss. Er verspürte aber wenig Lust nach Hause zu fahren, denn er gehörte zu der Sorte Menschen, die immer alles sofort erledigt haben musste. Die Kommandozentrale zu verlassen, solange ein unverstandenes Problem im Raum stand, bereitete im beinahe physische Schmerzen. Also ging er zurück in sein Büro, wo er erleichtert feststellte, dass die Hilfe, die er gerufen hatte, eingetroffen war.

„Ah. Gut, bist du hier“, sagte er zu Johannes Pragel, seinem technischen Gewissen und erfahrensten Mitarbeiter. Johannes war ein hochqualifizierter deutscher Wanderarbeiter, der das Handwerk noch von der Pike auf gelernt hat. Er konnte mit Lochkarten umgehen, hatte mit Festplatten hantiert, als die noch gross wie ein Stapel Platzteller waren und herumgetragen wurden, und er hatte verschiedenste Generationen von Bandmaschinen bedient. Er war zu einer Zeit Systemprogrammierer gewesen, als in den Rechenzentren noch gar nichts automatisiert war und man den Grossrechnern jeden Tag mit Einzelbefehlen sagen musste, welches Programm sie wann abzuarbeiten hatten. Später arbeitete er für verschiedene Hersteller von Grossrechnern. Und nun, am Ende seiner langen Karriere, liess er sich sein Können und Wissen von der Bank vergolden. Er machte mehr Geld als Fred, aber dieser hatte kein Problem damit. Schliesslich hatte er Johannes selbst geholt und das Salär vorgeschlagen. Für das EVEREST-Projekt brauchten sie die Besten und das kostete eben entsprechend.

„Wir könnten die Logs natürlich einzeln sichten“, schnaufte Johannes. Fred schaute wie immer ein wenig besorgt auf seinen besten Mann. Von der äusseren Erscheinung waren sie ein Paar, das gegensätzlicher nicht hätte sein können. Fred trainierte täglich: Laufen, Liegestütze, Klimmzüge – das ganze Programm. Er war immer noch so schlank, dass er von weitem aussah, wie ein grossgewachsener Schuljunge. Ein Bündel von Muskeln und Sehnen, ein Triathlet in Wettkampfform – eingepackt in einen Konfirmandenanzug. Johannes hingegen trug ein Holzfällerhemd, das wie ein Zelt über eine gewaltige Wampe gespannt war. Wenn er sass, musste er sich bemüht aufrecht halten und die Beine spreizen, damit die überquellende Masse zwischen seinen Schenkeln Platz hatte. Sein Gesicht und sein restbehaarter Skalp glühten rot und erinnerten an den überhitzten Kessel einer Dampfmaschine. Fred war ständig darauf gefasst, dass kleine Wölkchen aus seinen Ohren aufsteigen würden, damit er buchstäblich Dampf ablassen konnte. Johannes hatte Fred erklärt, er müsse sich keine Sorgen machen. Die Konstitution läge in der Familie. Sein Vater und sein Grossvater hätten genau gleich ausgesehen und seien trotzdem nicht totzukriegen gewesen. Schlecht sähe es erst aus, wenn die Farbe in seinem Gesicht von Rot auf Weiss wechseln sollte.

„Die Logs sichten“, wiederholte Fred nachdenklich das, was Johannes vorhin gesagt hatte. „Das Problem ist nur, dass niemand mehr die Logs versteht. Die Kids da draussen“, Fred wies mit dem Daumen in den Saal, „sind zwar alle smart, aber das war vor ihrer Zeit. Die Jungs können die Einträge nicht mehr lesen.“

„Ich schon.“

„Du weißt, was ich meine. Das sind Zehntausende von Einträgen. Du wirst die ganze Nacht brauchen, um auch nur einen Bruchteil zu sichten.“

„Na und? Ich wusste immer, dass das mal kommen würde. Ich war nie ein grosser Fan dieser vollautomatisierten Überwachungssysteme.“

Fred im Prinzip auch nicht. Er hatte bei seinem kurzen Kriegseinsatz in der Wüste gelernt, dass den vollmundig angekündigten, hochraffinierten Kampfsystemen nicht zu trauen war. Immer wieder hatte sich das Einfache im Einsatz besser bewährt. Und hier war es genau das Gleiche. Einfach hiess gut. Aber Fred wusste auch, dass es illusorisch war, wieder so wie früher zu arbeiten. Alle Komponenten in einem Rechenzentrum – die zahllosen Grossrechner, Speichersysteme, Transaktionsmonitore, Datenbanken – schrieben ständig Statusmeldungen in die Logs oder auf sogenannte Konsolen. Das waren früher riesige Plastikwürfel: Bildschirme mit grünen Ziffern und Buchstaben auf schwarzem Hintergrund. Vor diesen Kisten sassen die Systemprogrammierer und schauten, ob auch tatsächlich die Meldungen erschienen, die sie erwarteten. Über die Jahre wurden die Systeme immer komplizierter, die Komponenten immer zahlreicher. Das Personal ertrank in der Menge der abgesetzten Meldungen. Da waren findige Köpfe drauf gekommen, dass man diese Meldungen statt durch Menschen, durch Computer lesen lassen könnte. Schlaue Programme wurden geschrieben. Die ersten Firmen, die solche Programme verkauften, machten ein Riesengeschäft. Der Ansatz setzte sich durch. Die Überwachungssysteme wurden immer raffinierter. Den Programmen entging nichts. Sie machten keine Fehler. Sie filterten das Unwichtige heraus. Und wenn ein Mensch intervenieren musste, schrieben diese Programme automatisch eine E-Mail oder eine SMS an den Experten auf Pikett. Die Programme lieferten Zahlen, Trends, und Problemstatistiken. Alles was das moderne Managerherz begehrte. Jedes Rechenzentrum arbeitet heute so! Aber natürlich: Wenn etwas passieren sollte, das in den Überwachungssystemen nicht vorgesehen war, ja dann, dann konnte es haarig werden. Dann wäre wieder Handarbeit gefragt und die Masse der Daten würde zu einem Riesenproblem werden. Darauf hatte Johannes angespielt.

„Hast du mit dem Callcenter-Menschen, diesem Mukesh, sprechen können?“ fragte Johannes um das Thema zu wechseln.

„Nein. Ich hoffe, er ruft mich noch an. Aber am Sonntag arbeiten die eigentlich nicht. Da übernimmt eine Outsourcing-Firma in der Slowakei. Die geben keine Auskunft über Bankdaten, sondern nur technische Unterstützung. Verlorene Passwörter und solches Zeugs.“

Johannes schnaufte vor sich hin und fragte dann: „Was machen wir heute Nacht? Ich kann durcharbeiten und versuchen die Logs durchzusehen.“

„Nein, ich glaube nicht, dass du das machen solltest. Du hast keine Chance, solange wir das Problem nicht einigermassen einkreisen können. Es sind viel zu viele Daten.“

„Wenn wir ein wirklich ernsthaftes Problem haben, dann zählt jede Stunde.“

„Stimmt. Aber irgendwo müssen wir dem, was wir hier gebaut haben, auch vertrauen können. Wir können nicht bei jedem Rülpser eine Nachtschicht einlegen.“ Fred versuchte, Johannes zu beruhigen. „Schau, ich werde morgen früh hier sein und mal sehen, ob ich mit diesem Mukesh reden kann. Wenn du sonst nichts zu tun hast, kannst du ja auch vorbeikommen. Wenn nichts los ist, lad ich dich dafür zum Essen ein. Hummer mit einer Flasche von diesem fetten kalifornischem Chardonnay!“

„Machen wir’s so“, sagte Johannes, stand dampfend auf und ordnete seine ausladenden Körperteile. Freds Büro schien plötzlich klein. „Übrigens: Wirst du jemanden informieren?“

„Ich hätte normalerweise Peter unterrichtet, aber der hat bestimmt schon die Segel gehisst und nuckelt am dritten Bier. Und Oliver Schwab? Ich weiss nicht … wir haben einfach zu wenige Fakten, um ihn am Wochenende zu stören. Hast du seine neue Freundin gesehen. Gütiger Gott, dass sowas überhaupt rumlaufen darf.“

Johannes Pragel traf Sonntagmorgen vor Sieben im Rechenzentrum ein. Über dem Meer zeigte sich ein zart rosa Schimmer, da, wo die Sonne später aufgehen würde. Johannes hatte unruhig geschlafen, und seine Frau hatte ihn fast noch mitten in der Nacht liebevoll aus dem Bett gejagt. Als er dann den Hügel hinauf fuhr, hatte er schon von weitem Lichter in den Büros gesehen, da wo normalerweise am Sonntagmorgen alles dunkel war. Kein gutes Zeichen, dachte er, gleichzeitig fühlte er aber auch einen Energiestoss und eine freudige Erwartung. Seit EVEREST fertig gebaut war, langweilte er sich halb zu Tode. Immer nur Warten und den Maschinen beim Arbeiten zusehen. Jetzt hingegen war endlich was los. Er drückte aufs Gas und wetzte verboten schnell den Hügel hinauf.

Fred sah vom Bildschirm auf, als Johannes eintrat. Ein Netz feiner Fältchen und Linien hatte sich in sein bleiches Jungengesicht eingegraben. Johannes vermutete, dass er die ganze Nacht geblieben war.

„Und? Wie steht’s? Neuigkeiten?“

„Tja“, sagte Fred, „irgendetwas scheint los zu sein. Ich habe mit dem Typen aus dem Call Center gesprochen. Er hat mich vorhin angerufen. Sie haben etwa zwei Dutzend Anrufe von sehr aufgebrachten Kunden erhalten, bevor er die Leitung gekappt hat.“

Er liess einen Kugelschreiber durch die Finger flitzen. „Der Junge war völlig am Ende und hat sich bei mir ausgeweint. Sie sind da unten ja alle neu bei der Bank, und er kennt rundherum kein Schwein. Ein Mädchen im Team wurde übel beleidigt. Sie ist ziemlich fertig, und er fürchtet, dass die ganze Bande das Weite suchen wird. Der Arbeitsmarkt scheint immer noch heiss. Sein Chef war auch keine grosse Hilfe. Der schien die Störung seiner Wochenendaktivitäten nicht goutiert zu haben, und hat unseren Mann ganz schön in den Senkel gestellt. Wenn du mich fragst: Die sind alle gegangen, inklusive diesem Mukesh-Typ. Du weisst ja, wie die sind.“

Sie schauten sich an. Das war heikles Terrain. Die politische Korrektheit in der Bank verlangte, dass man die kulturellen Unterschiede zwischen den Kontinenten uneingeschränkt als Gewinn zu sehen hatte. Dabei war die Realität einfach eine andere. Fred störte sich an der völlig fehlenden Firmenloyalität der Inder, die ihren Arbeitgeber sofort wechselten, wenn sie beim nächsten nur schon einen Fünfziger mehr im Monat bekamen. Johannes hingegen konnte halb wahnsinnig werden ab der Hierarchiegläubigkeit, dem Gesichtwahren und dem Nicht-nein-sagen-können der Asiaten im Allgemeinen. Und beiden gingen die Schweizer mit ihren ewigen Kompromissen auf die Nerven. Nur ja diese und jene Interessen nicht vergessen und ja keine Minderheit überfahren. Dann die pedantischen und besserwisserischen Deutschen: jeder verdammte Satz von einem erhobenen Zeigefinger begleitet. Und schliesslich die Schlimmsten, die Franzosen, bei denen man sich fragen musste, ob sie überhaupt in irgendeiner Weise am Geldverdienen interessiert waren.

Fred riss sich los: „Weißt du was wirklich komisch ist an der Sache?“ Er liess Johannes eine Weile zappeln. „Die Buchungen scheinen nicht mit den Kontoständen übereinzustimmen.“

Johannes hob eine Augenbraue. „Wie meinen?“

„Die Geschichte ist kompliziert. Die Call Center Agenten dürfen oft nicht alles sehen, was über einen Kunden abgespeichert ist. Die Errungenschaften des Datenschutzes – du verstehst? Wie auch immer, es war schwer nachzuvollziehen, was genau passiert ist, aber schliesslich haben sie zwei Fälle dokumentieren können. Da sah man dann die Diskrepanz. Also: Ende Oktober Vierzigtausend auf dem Konto. Dann zwei Rückzüge zu je Fünftausend im November. Ergo sollten noch Dreissigtausend da sein. Auf dem Konto liegen aber nur noch Fünfzehntausend – oder sonst eine Fantasiezahl.“

„Die Zahl könnte natürlich auch höher sein“, sagte Johannes.

„Klar. Aber ich nehme an, die Kunden haben’s in diesem Fall weit weniger eilig, uns anzurufen.“

Johannes schnaufte, als wäre er soeben eine steile Treppe hinaufgerannt. Nach einer langen Pause fragte er ohne viel Hoffnung: „Warum schauen wir nicht einfach selbst hinein?“

Aber Peter bestätigte, was Johannes bereits vermutet hatte. Seit ein Systemprogrammierer die Kontostände von ein paar Spitzenmanagern einer Zeitung verkauft hatte, war der Zugriff für sie alle gesperrt. Man konnte die Sperrung zwar temporär aufheben, aber das brauchte die Bewilligung des Chief Operating Officers. Oliver persönlich hätte den Antrag stellen und begründen müssen. Daran war am Wochenende und ohne harte Fakten nicht zu denken.

„OK“, sagte Johannes, „lass uns systematisch vorgehen. Also erstens: Wenn es stimmt, dass Buchungen und Kontostände nicht übereinstimmen, dann haben wir korrupte, sprich widersprüchliche und falsche Daten.“

Fred nickte.

„Zweitens: Falsche Daten können im Prinzip durch Anwendungsprogramme verursacht werden, die aus irgendeinem Grund Unsinn in die Datenbanken schreiben. Eine seltene Konstellation von Daten führt zu einer falschen Berechnung und dieses falsche Resultat wird in die Datenbank geschrieben. Oder die Konstellation führt dazu, dass eine Buchung überhaupt nicht in die Datenbank geschrieben wird, der resultierende Saldo allerdings schon. Nur so als Beispiel. Solche Fehler sollten zwar abgefangen werden, aber so alle paar Schaltjahre passiert mal was, was eigentlich nicht passieren dürfte.“

„Alle paar Schaltjahre … Davon hab ich auch schon geträumt.“ Fred lachte. „Aber ich bin dem schon nachgegangen. Wegen der Umstellung von EIGER auf EVEREST war es in den letzten zwei Monaten verboten, neue Anwendungsprogramme einzuführen. Es ist zwar theoretisch möglich, dass der Fehler von einem alten Programm stammt und erst nach Monaten auftrat, aber du weißt selbst, dass das nicht sehr wahrscheinlich ist.“

„Kaffee?“

„Was? Ja, klar, gehen wir rüber …“

„Die Luft ist einfach nicht zum Aushalten. Man erstickt ja hier drin.“ Die Klimaanlage war übers Wochenende runtergeschaltet und man hatte manchmal das Gefühl, man müsse um die letzten Sauerstoffatome kämpfen, die noch vereinzelt in der Luft hingen.

„Was ist mit neuen Programmen, die unter der Hand eingeführt wurden“, fragte Johannes. „Ein Programmierer, der einen peinlichen Fehler korrigieren will? Einer, der einen Freund bei uns hat, der ihm wider die Vorschriften die Schleusen öffnet? Ein Managing Director, der einen Riesenzirkus aufführt, damit wir ihm erlauben, eine winzig kleine, völlig ungefährliche Änderung für den wichtigsten aller Kunden einzuspielen?“

„Klar. Ist zwar verboten, aber natürlich möglich. Wir werden das alles untersuchen müssen. Ich habe die Aufträge erteilt. Wenn da was war, dann finden wir’s.“

Johannes nahm den Faden wieder auf. „Und drittens: Irgendetwas spielt hier im Rechenzentrum verrückt. Ein Prozessor, der falsch rechnet, zum Beispiel.“

Er dachte an den berühmten Fall des PC-Prozessors. Das Ding hatte damals tatsächlich falsch gerechnet. Aber der Fall lag ein Dutzend Jahre zurück, und der Fehler zeigte sich erst so weit hinter dem Komma, dass er für die allermeisten Anwendungsgebiete irrelevant war. Und überhaupt: Wenn man sich nicht mehr darauf verlassen konnte, dass die Hardware richtig rechnet, was konnte man dann überhaupt noch tun?

Sie standen vor dem Kaffeeautomaten und sahen schweigend zu, wie die Sonne über dem Meer aufging. Dann warf Johannes eine Münze ein und drückte auf Cappuccino. „Alles sehr unwahrscheinlich“, sagte er, um die Gedanken an fehlerhafte Hardware zu verscheuchen. „Was käme weiter in Frage? Eine Datenbank, die richtige Zahlen an den falschen Ort schreibt?“

Auch dazu war ihnen nichts bekannt.

„Ich werde die Hersteller abklappern, und sehen, ob sie was auf ihren Websites gepostet haben“, sagte Johannes. „Und dann werde ich ein paar Leute anrufen, um zu sehen, ob irgendwo etwas am Dampfen ist. Falls wir es wirklich mit einem perfiden Fehler in einer der Komponenten zu tun haben, werden die nicht besonders scharf darauf sein, es an die grosse Glocke zu hängen. Aber sie werden’s verklausuliert durchblicken lassen, wenn ich persönlich mit ihnen rede.“ Er ächzte, als er sich bückte um den Kaffee aus dem Automaten zu nehmen. „Und wenn ich damit durch bin, hänge ich mich hinter die Logs.“

Fred starrte müde in die Sonne. Schliesslich wandte er sich Johannes zu. „Ich gehe mal unsere Notfallszenarien durch und blättere ein wenig in den Dokumenten der alten Notfallübungen. Vielleicht gibt das was her.“

Sie entschieden, heute Mittag auf Hummer zu verzichten und stattdessen durchzuarbeiten. Irgendetwas Unschönes war da am Gären, das sagte ihnen die Erfahrung. Besser es rasch zu finden, als zu warten, bis ihnen die ganze eitrige Brühe um die Ohren flog.

HYBRIS

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