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ОглавлениеDraussen fielen die ersten Schneeflocken. Die Wolken hingen tief und dunkel, so dass man kaum sehen konnte, ob es Tag oder Nacht war. Wer sich zum Mittagessen nach draussen gewagt hatte, hetzte mit aufgeschlagenem Mantelkragen in die Wärme und das Licht der Büros zurück. Im grossen Verwaltungskomplex der Bank sassen eine Handvoll Leute in einem abgelegenen Konferenzraum. Sie versuchten zu telefonieren.
„Willkommen bei UNICONF, dem weltweiten Teleconferencing-System. Nach dem Ton nennen Sie bitte Ihren Namen, Ihre Organisationseinheit, Ihren Standort und Ihre Funktion. Wenn fertig, drücken Sie die Raute-Taste. Sie werden in die Konferenz geschaltet.“
„Hallo!“
„Fund Operations, Luxemburg.“
„Hallo?“
„Wer ist da?“
„Marktregion Süd, London.“
„Hallo?“
„Wie war das Wochenende?
„Was machen die denn da?“
„Hallo?“
„Schliess die Tür und komm rein.“
„Firmenkunden Schweiz, Bern.“
„Jacques, Paris“,
„Hallo!?“
„OK, alle bitte ihre Apparate auf stumm schalten.“
„ … ja und dann hab ich sie mit ihm gesehen …“
„Ultra High Networth Individuals, Singapur.“
„Hallo?“
„Stummschalten, hab ich gesagt, ja? Haben das alle verstanden?“
„Guten Morgen allerseits! Oder was bei euch immer für eine Tageszeit sein möge.“
„Hallo?“
„… wird ja noch fragen dürfen, oder?“
„OK, gut, alle herhören, hier spricht der Stabschef Privatkunden weltweit. Ich leite diese Sitzung des Krisenstabes. Es sind noch nicht alle dran, die wir brauchen. Wir warten also noch zehn Minuten. Bitte alle auf stumm schalten!“
„Ich habe verdammt nochmal besseres zu tun als hier meine Zeit zu verplempern!“
„Schhhh, man kann uns hö – “
„Hier nochmals der Stabchef. Sind die Vertreter der IT und von Operations eingewählt?“
„Passengers Landsruth and Hofer are kindly requested to proceed immediately to gate A63.“
„Stumm schalten, habe ich gesagt, verdammt!“
„IT? Oliver?“
Stille.
„Ops? Nancy?“
Nichts.
„Verdammt, wo bleiben die denn? Ist Antonio dran? Du hast doch gesagt, du hättest mit denen …“ dann leise: „Was? Nicht erreichbar? Was? Wollen nicht gestört werden? Sind die wahnsinnig geworden? Jetzt erklär denen mal den Tarif, oder sie können was erleben …“ Rascheln in der Leitung: „Entschuldigung, ich bin wieder da. Antonio, eben, du hast gesagt, die werden dran sein.“
Stille.
„Antonio – sind wir überhaupt noch in der Leitung oder ist dieses Scheisssystem jetzt auch noch abgestürzt? Ich war ja immer dag – “
„ – uldigung. Ich war immer noch auf stumm. Hier Antonio. Ja, bestätigt. Weiss nicht was mit denen los ist. Ich habe meine Assistentin geschickt, die läuft jetzt rüber zu Nancy.“
„Danke Antonio.“
„Hier Nancy.“
„-ver Schwab.“
„Wo wart ihr so lange? Ich muss doch sehr bitten! Verdammt, das hier ist ernst.“
„Was!?“ tönte es indigniert über die Leitung. „Wovon redest du?!“
Der zornige Mann wurde durch eine besonnene weibliche Stimme unterbrochen. „Ich glaube, es handelt sich um ein Missverständnis. Es scheinen zwei Telekonferenzen gleichzeitig zu laufen.“
„Zwei Konferenzen? Welcher Spassvogel hat die denn einberufen. Der kann was erleben!“
„Der Coo“, sagte jemand, nicht ohne Schadenfreude.
Der Stabschef Privatkunden weltweit schwieg betreten. Schliesslich gab die besonnene weibliche Stimmen die Einwahlkoordinaten der anderen Telefonkonferenz bekannt und zehn Minuten später waren alle am gleichen Ort eingewählt. Der Coo hatte den Vorsitz. Von all den Oberen war er derjenige, der mit Abstand am längsten in der Bank gedient hatte. Er war immer dabei gewesen, als die Bank in einem Tempo – das die wenig wohlgesinnte Presse hysterisch nannte – ein Geschäft nach dem anderen dazu gekauft hatte. Der Coo hatte sie alle integriert. Niemand wusste so gut wie er, wie die Teile des Puzzles zusammen passten. Bei ihm liefen alle Fäden zusammen. Er beaufsichtigte den ganzen Betrieb der Bank, von der Wertschriftenabwicklung über den Zahlungsverkehr bis zu Oliver Schwabs Rechenzentren. Wenn es etwas gab, was die ganze Bank betraf und nach Arbeit roch, dann übernahm der Coo die Führung.
„Lassen Sie mich damit beginnen, uns alle auf den gleichen Stand zu bringen“, sagte er mit feierlicher Stimme. „Seit Samstag erhalten wir Hinweise auf falsche Kontodaten in der Bank. Die Kontostände stehen im Widerspruch zu den Buchungen, die auf den Konten vorgenommen wurden – ich brauche Ihnen wohl nicht näher zu erklären, was das für eine Bank bedeutet.“
Niemand sagte etwas. Die Teilnehmer, die im grossen Konferenzraum um den Coo herum sassen, runzelten bloss überrascht die Stirn oder sie bearbeiteten die Smartphones, um herauszufinden, ob in ihren Abteilungen schon etwas von den Problemen durchgeschlagen war. Jemand machte einen leisen Witz zu seinem Nachbarn, den dieser aber nicht lustig fand. Der Coo fuhr fort und informierte über die Ereignisse im Callcenter am Samstag. Er fügte an, dass sich auch am Sonntag Kunden beschwert hätten. „Die Firma, die den Dienst am Sonntag für uns betreibt, verlangt Schadenersatz für den psychischen Schaden, den ihre Mitarbeiter erlitten haben. Die haben ganz schön was an die Ohren bekommen ...“
Er blickte lange auf sein Notizbuch und schlug dann eine die Seite um. „In der Nacht auf heute sind dann verschiedene Ladejobs hängen geblieben. Für diejenigen, die mit dem Vokabular nicht vertraut sind: Es handelt sich um Dateien, die aus unseren zentralen Systemen exportiert werden, damit man sie für verschiedene Auswertungszwecke in andere Systeme laden kann. Wenn die empfangenden Systeme die Dateien bei sich importieren, testen sie zuerst die Plausibilität dieser Daten. Zum Beispiel wird getestet um wieviel Prozent sich ein Wechselkurs verändert hat. Wenn eine bestimmte Schwelle überschritten wird – wenn der Zloty gestern fünfzig Prozent günstiger war als heute – dann sind die Daten wahrscheinlich falsch. Sie werden nicht importiert. Die Kommandozentrale bekommt eine Warnung und jemand geht der Sache nach. Damit wird verhindert, dass wir irgendwelchen Unsinn in unsere Anwendungen laden.
Nun, heute Nacht wurden ungewöhnlich viele Dateien nicht geladen, da sie inkonsistente Daten enthielten.“
„Was heisst inkonsistent?“ fragte jemand.
„Widersprüchlich“, erklärte der Coo und gab den Ball dann weiter: „Oliver, habe ich alles richtig wiedergegeben?“
„Ja, korrekt“, tönte es dürr aus dem Lautsprecher.
Die Teilnehmer warteten auf Olivers weitere Erläuterungen, aber er schwieg. Der Coo sprang schliesslich in die Lücke und berichtete von den Virenteams und den Anstrengungen in der Kommandozentrale, die Ursache zu finden. Als er damit durch war, fasste er zusammen: „Erstens: Wir haben in rund zweitausend Fällen falsche Kontostände entdeckt. Ob das alles ist, wissen wir nicht. Die Untersuchungen laufen weiter. Zweitens: Wir haben betroffene Kunden, die sich ihres Unmuts nicht nur am Telefon entledigen, sondern auch in den unermesslichen Weiten des Internets. Unnötig zu sagen, dass diese Dinge dazu tendieren, sich auszubreiten wie eine Virusepidemie! Da draussen geht’s bereits ziemlich lärmig zu und her. Und drittens“, er machte eine Kunstpause, „wir haben keinen blassen Schimmer was die Ursache des Problems ist.“
Neben dem Coo sass der Chef einer grossen Anwendungsentwicklungseinheit. Er gebot über ein Heer von zweitausend Programmierern, die Software für das Börsengeschäft schrieben. Er war ein machtbewusster eitler Gockel, mit öligen, nach hinten gekämmten Haaren.
„Wir können’s sicher nicht gewesen sein“, hielt er bemüht entspannt fest. „Wir haben seit zwei Monaten keine neuen Programme auf Olivers Systemen installiert. Dass ausgerechnet jetzt ein Fehler auftaucht, den wir verursacht hätten, ist ausgeschlossen.“
„Ausgeschlossen ist hier gar nichts“, schnappte Oliver über’s Telefon zurück. Sie waren einmal fast Kumpels gewesen, verbunden in sportlichem Ehrgeiz. Aber mittlerweile konnte Oliver den Kerl nicht mehr ausstehen. Maliziös fügte er hinzu: „Aber es ist schön, dass du uns wissen lässt, dass mit euch nicht zu rechnen ist, wenn’s mal brenzlig wird!“
Bevor der Angegriffene zurückschiessen konnte legte ihm der Coo die Hand vor die Brust. „Genug! Uns ist allen bewusst wie schwierig die Situation ist. Mit der Ungewissheit ist nicht leicht umzugehen. Aber wir sitzen hier alle im gleichen Boot. Und wir ziehen bitte alle am gleichen Strick. Ich erwarte professionelles Verhalten auf allen Stufen. Die IT – Systemtechnik und Anwendungen – werden die Ursache finden, analysieren und beheben.“
Er schlug eine weitere Seite seines Notizbuches um und fuhr dann fort: „In der Zwischenzeit müssen wir Entscheide fällen. Erstens: Wie und was kommunizieren wir. Zweitens: Schalten wir ab, oder lassen wir laufen.“
Nach einer kurzen Pause realisierten einige Teilnehmer, was der Coo soeben gesagt hatte.
„Abschalten!?“ schrie jemand über die Leitung. „Unmöglich! Heute läuft der STELLAR-Börsengang. Was denkt ihr euch eigentlich … Wir haben ein halbes Jahr an diesem Projekt gearbeitet. Die ganze Welt schaut auf uns. Alleine zwanzig Millionen direkte Gebühren! Und dann all das Folgegeschäft. Hier geht’s um mehr als hundert Millionen an Einnahmen. Ihr könnt ja euren Kram ausschalten, aber sicher nicht unsere Systeme!“
Andere meldeten sich mit ähnlichen Voten.
Der Coo blieb ruhig und sagte: „Oliver? Wollen Sie‘s ihnen erklären?“
„Ja. Also. Wo soll ich beginnen...“ Er räusperte sich. „Ich denke, es ist wichtig zu verstehen, dass wir immer eine einheitliche, globale Bank sein wollten. Das war die strategische Vorgabe, nicht wahr? Dieses strategische Ziel haben wir nach langen Kämpfen in hohem Masse erreicht. Und in der IT hatten wir immer das Ziel, die Struktur der Bank eins zu eins abzubilden. Die IT-Struktur folgt der Bankstruktur, sozusagen“
„Warum redet der so geschwollen?“ fragte jemand, der wahrscheinlich vergessen hatte, sein Telefon stumm zu schalten.
Oliver räusperte sich scharf. „Darf ich bitten, ja? – Also, nach zwei Jahren grosser Anstrengungen haben wir dieses strategische Ziel nun verwirklicht. Wir sind nun nicht nur eine einheitliche, globale Bank, sondern auch eine einheitliche, globale IT.“
Der Kritiker von vorhin war immer noch nicht auf stumm. „Wovon redet der Kerl eigentlich?“
Der ölige Anwendungsentwickler lächelte süffisant, während der Coo donnernd Ruhe verordnete. „Oliver, bringen Sie’s auf den Punkt! Bitte!“
„Der Fehler lässt sich nach unseren Erkenntnissen weder geografisch noch nach Geschäftsfeld isolieren. So wie wir jetzt organisiert sind, fahren wir entweder alles runter oder gar nichts.“
„Was!? Ist mir doch egal wie ihr organisiert seid“, warf eine aufgeregte Stimme ein. „Ich muss mich auf die IT verlassen können. Wenn ihr das nicht bieten könnt, dann müssen wir dringend darüber nachdenken, ob wir hier die richtige Besetzung haben. Ich lass mir von euch jedenfalls nicht meine Karriere ruinieren!“
Dann wollte eine schnarrende Stimme wissen, wo eigentlich der Boss sei. „Ihr wisst, wie wichtig dieser Börsengang für ihn ist.“
Peinliches Schweigen folgte. Niemand, der über seine Nasenspitze hinaus dachte, wollte den CEO dabei haben, wenn es galt, fundierte und sachliche Entscheide in komplexen Angelegenheiten zu fällen. Der Boss war zwar stark darin, neue Kunden zu gewinnen und die Bank mit knackigen Botschaften als führenden globalen Player darzustellen. Aber die differenzierte Analyse vertrackter Probleme war seine Sache nicht – was ihn aber unglücklicherweise nicht daran hinderte, sich mit aller Macht einzumischen, wenn er erst einmal Witterung aufgenommen hatte.
„Der ist mit der Aussenministerin auf einem Chinatrip“, sagte der Coo. „Fördern der wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Ich habe kurz mit ihm gesprochen, und wir sind übereingekommen, dass es das falsche Zeichen nach aussen setzen würde, wenn er jetzt dort ausstiege. Er meinte, er hätte vollstes Vertrauen, dass wir das Problem rasch unter Kontrolle bringen würden.“
Jeder, der den Boss kannte wusste, dass das seine Art war zum Ausdruck zu bringen, man solle verdammt nochmal aufhören bei Mutti zu flennen und stattdessen seinen Job machen. Und sowieso: IT? Geht’s noch? Mit solchen Trivialitäten wollte er nicht belästigt werden.
Oliver Schwab meldete sich wieder: „Ich habe noch ein paar Dinge, die wir diskutieren sollten.“ Er war kaum zu verstehen und tönte, als würde er sich schämen für das, was gleich kommen würde.
„Wir wissen nämlich nicht nur nicht, wer oder was die falschen Daten in die Datenbank geschrieben hat, sondern wir wissen auch nicht, ob das nur einmal passiert ist oder ob es laufend immer noch passiert.“
„Herrgott, dass darf doch nicht wahr sein.“
„Macht ihr Witze?!“
„Sollte die zweite Möglichkeit wahr sein, dann verschlimmert sich das Problem jede Minute, die wir die Systeme noch laufen lassen. So verlieren wir unsere bevorzugte Option, den Schaden zu beheben.“
„Und was ist diese bevorzugte Option?“ fragte eine unbekannte, aber vernünftig tönende Stimme.
„Wenn wir das Problem erkannt und eine Lösung entwickelt haben, fahren wir die Systeme runter, spielen die entsprechende technische Korrektur ein, stellen die falschen Daten von Hand richtig und fahren die Systeme wieder hoch.“
„Alle Systeme?“
„Von Hand? Was zum Teufel!?“
„Wann nehmt ihr die runter? Hoffentlich nicht während der Singapur-Geschäftszeiten. Asien hat Priorität, wir wachsen am schnellsten, die Konkurrenz ist brutal. Ich will das im Protokoll …“
„Kann dem Kerl jemand das Maul stopfen!?“
„Wie lange wird das dauern? Seid ihr verrückt geworden? Wisst ihr überhaupt, was ihr hier für einen Schaden anrichtet?“
„Bevorzugte Option. Ich lach mich kaputt …“
„Ruhe!“ donnerte der Coo. Er hatte geduldig auf eine Lücke in dem vielstimmigen Geschrei gewartet. „Wir müssen die Risiken abwägen. Wenn sich der Fehler weiter ausbreitet und wir die Systeme laufen lassen, dann wird das Problem jede Stunde grösser. Immer mehr Kunden wären betroffen und es würde immer länger dauern, die falschen Daten später wieder zu korrigieren. Auf der anderen Seite: Wenn all die falschen Daten in einem Rutsch geschrieben worden wären – wenn es sich also um einen einmaligen Fehler handelte – dann riskierten wir einen grossen Schaden für nichts, wenn wir die Systeme jetzt stoppten.“
Er wandte sich an seinen neusten Assistenten, einen schwabbeligen, bleichen Burschen, den er zwar überhaupt nicht mochte, dessen Fachgebiet aber die IT war. „Was hat dieser Berater gesagt, was uns jede Stunde kostet, die unsere Systeme nicht laufen?“
„Das kommt auf viele Faktoren an, aber sicher über zwanzig Millionen pro Stunde. Am Anfang. Je länger es dauert, umso mehr kostet die Stunde.“
„Und nach achtundvierzig Stunden ist man tot“, ergänzte der Coo nachdenklich.
Sein Assistent bestätigte dies, ganz enthusiastisch darüber, dass er auch einmal zu Wort kam. „So lautet die Faustregel. All die offenen Geschäfte … die Kunden, die Verluste erleiden, weil ihre Transaktionen nicht durchgehen … all die Termine, die verpasst werden … die Börsentransaktionen, die stecken bleiben … die Kontrakte, die platzen … die Schadenersatzklagen … man darf gar nicht dran denken“, sagte er, während er übers ganze Gesicht strahlte.
Der Coo wandte sich angewidert von seinem Mappenträger ab und fragte ätzend ins Mikrofon: „Oliver: Haben wir nicht EVEREST gebaut, damit genau so etwas nie vorkommen kann?“
„Ja, natürlich, das war die Idee des ganzen Projekts. Das Problem, das wir nun haben, kann eigentlich gar nicht vorkommen – ich weiss nicht was ich sagen soll …“
Während einer langen Pause waren nur das Knacken in den Leitungen und das Rascheln von Papier zu hören. Jeder wartete darauf, dass er sich rechtfertigte. Olivers öliger Konkurrent kaute lächelnd auf einem Zahnstocher rum. Aber nichts geschah – bis schliesslich von irgendwo ein leises „wie enttäuschend!“ zu hören war. Das war das Stichwort. Der Coo übernahm wieder das Kommando. Er liess einen Stapel Papiere auf den Tisch knallen und verkündete dann: „Ich habe entschieden. Die Maschinen werden bis auf weiteres laufen gelassen. Die Lage werden wir in knapp vier Stunden wieder beurteilen. Die nächste Sitzung findet um 18:00 statt. Kontinentaleuropäische Zeit.“
Über alle Leitungen war zustimmendes Gemurmel zu hören. Die Divisionen, bei denen bisher keine Probleme aufgetaucht waren, konnten weiter ihren Geschäften nachgehen. Und falls der Entscheid falsch war, trüge jemand anders die Verantwortung. Das Telekonferenzsystem meldete zahlreiche Teilnehmer, die sich ausgeklinkt hatten. Im Konferenzraum erhob sich die Hälfte der Teilnehmer und machte sich auf zur Tür. Doch die Konferenz war noch nicht zu Ende.
„Halt! Und was kommunizieren wir nun nach aussen?“ fragte jemand empört darüber, dass diese Frage beinahe vergessen worden war.
„Und nach innen?“ sagte eine andere Stimme.
„Ich hab’s nicht vergessen“, sprach der Coo. „Aber mir scheint, wir arbeiten im kleineren Kreis effizienter. Helen Grivas – “, er nickte ihr kurz zu, „wird mit mir zusammen ein entsprechendes Memorandum ausarbeiten. Gleich nach dieser Telefonkonferenz. Wir werden’s spätestens in zwei Stunden versenden.“
Helen Grivas beugte sich zum Mikrofon vor, aber der Coo kam ihr zuvor: „In Helens Namen fordere ich alle Bereichsleiter auf, die Regeln strikt durchzusetzen: Alle Anfragen von Medien sind an PR weiterzuleiten. Keine Ausnahmen! Die Bankmitarbeiter reden ausschliesslich mit ihren eigenen Kunden. Alle anderen Fragen gehen an Helen und ihr Team. Jeder Mitarbeiter oder Manager, der einem Journalisten eine Frage beantwortet, wird von mir persönlich gefeuert. Verstanden?“
Niemand opponierte. Der Coo wollte die Sitzung bereits schliessen, als sich doch noch eine Stimme meldete: „Sie sollten sich überlegen, ob Sie mich nicht auch dabei haben wollen.“
Grundgütiger! dachte der Coo beinahe laut. Die quengelige Stimme gehörte dem General Counsel, dem Chef der Rechtsabteilung. Er war Mitglied der Konzernleitung und in den Augen des Coo der grösste Feigling, Lavierer und Jammerlappen, den dieses Gremium je gesehen hat. Dass er überhaupt in die Geschäftsleitung rutschte, war das Resultat eines Betriebsunfalls. Die Bank hatte eine Firma übernommen, die aus nichts bestand als zwei Dutzend hoch bezahlter Rohstoffspezialisten. Wie in solchen Fällen üblich, hatte man allen wichtigen Mitarbeitern äusserst lukrative, langfristige Verträge offeriert, damit sie nach der Übernahme auch bleiben würden. Weil zu wenig Zeit vorhanden war, um die Spreu vom Weizen zu trennen, erhielt jeder auf Direktionsstufe einen solchen Vertrag. Unter diesen glücklichen Mitarbeitern war auch der Chefanwalt der Firma, welcher früher kurz Rechtsprofessor in Yale war, aber heute nur noch abstruse Theorien an irgendwelchen Fernuniversitäten lehrte, deren Namen sich fast wie Harvard, Oxford oder Cambridge schrieben. Der vormalige Eigentümer der übernommenen Firma hatte später dem Coo gestanden, dass sie sich einzig mit dem Renommee einer berühmten Universität haben schmücken wollen, und dies sei mit dem Professor am kostengünstigsten möglich gewesen. „Er war teuer, aber nicht so teuer wie ein Original. So haben wir ihn reingenommen.“ Entschuldigend ergänzte er, er habe damals nicht gewusst, dass es sich bei seinem Angestellten um einen solchen Idioten gehandelt habe. „Der Anstellungsprozess war – äh – nicht sehr eng geführt. Ich habe den Kerl zum ersten Mal getroffen als Sie uns bereits übernommen haben. Sie wissen ja wie so etwas läuft.“
Der Coo prüfte, ob man den Kaufpreis nachträglich senken könnte, da die Ware nicht der erwarteten Qualität entsprach. Doch der Boss winkte ab. Er verstand sehr gut, dass in der Hitze des Gefechts mal ein Detail übersehen werden konnte und er nahm dem ehemaligen Besitzer der Firma nichts übel.
Wie auch immer: Durch die Übernahme war der Professor bei der Bank gelandet. Dann passierte das Unglück. Der damalige Chefjurist der Bank musste in grosser Eile seine Sachen packen, da er sich zu nächtlicher Stunde vor einer seiner beiden Assistentinnen entblösst hatte. Die zweite Assistentin, die den Vorfall mitbekommen hatte, meldete die Sache. Böse Zungen behaupteten zwar, sie hätte ihn nur aus Eifersucht verpfiffen, und nicht etwa weil sie sich in ihrer Integrität verletzt sah. Aber das spielte keine Rolle. Der Übeltäter wurde in die Wüste geschickt und es musste dringend ein Nachfolger her. Unglücklicherweise hatte sich aber derjenige, der dafür vorgesehen war, kurz zuvor mit dem Boss überworfen, weil er sich in einem Geschäft, das dieser mit malaysischen Investoren abschliessen wollte, als zu wenig geschmeidig erwiesen hatte. Und weil der Professor mangels konkreter Aufgaben als einziger noch keine Gelegenheit gehabt hatte, dem Boss auf die Nerven zu gehen und weil sein überrissen dotierter Arbeitsvertrag ihm die Aura eines Stars verlieh, war er plötzlich der einzige Kandidat, der übrigblieb. Plötzlich war er – Pseudoakademiker mit null Managementerfahrung – Chefjurist und Herr über eine Abteilung von fünfhundert Mitarbeitern. Als die Pressemitteilung bereits rausgegangen war und der Boss nicht mehr zurückkonnte, gestand der Professor dem Coo in schockierender Naivität, dass er diesen Job komplett verabscheue. „Mehr als alles zuvor in meinem Leben, glauben Sie mir. Ich mach‘s nur für die Kohle.“
Der Coo hatte mit dem Boss über die Situation geredet. „Der Kerl ist ein Sicherheitsrisiko. Der kann uns Milliarden kosten, wenn’s dumm geht. Ausserdem werden uns alle guten Leute verlassen. Niemand will für einen solchen Knilch arbeiten.“
„Regen Sie sich nicht so auf. Er ist ja sowieso nie da.“ Aber der Coo hatte kein Gehör für solche Beschwichtigungen und starrte den Boss so lange an, bis dieser versprach, das Problem zu beseitigen. Doch der Boss war wie üblich besser im Versprechen gewesen, als im Einhalten des Versprochenen. Der Professor war immer noch hier und ging allen auf die Nerven.
Der Coo riss sich zusammen und flötete ins Telefon: „Professor, selbstverständlich, wie könnten wir auf Ihren Hilfe verzichten? Helen und ich werden sie in einer halben Stunde anrufen.“
„Gut, ich bin in Shanghai, mit dem Boss unterwegs.“ Selbst über die schlechte Verbindung war zu hören wie der Kerl fast platzte vor Stolz darüber, zur Delegation zu gehören.
„Wir müssen proaktiv informieren“, belehrte Helen Grivas den Coo und den Professor als sie dreissig Minuten später konferierten. „Studien zeigen, dass diejenigen, die in einer Krise aktiv führen, ihren Markenwert sogar erhöhen können, selbst wenn sie etwas Schlimmes angestellt haben.“
„Sollten wir uns nicht zuerst darüber unterhalten, was wir inhaltlich zur eigentlichen Sache sagen wollen?“, fragte der Coo.
„Das spielt gar keine Rolle, solange wir uns selber als starke, aktive Kraft darstellen, die alles im Griff hat.“ Helen war ganz in ihrem Element. Sie sah schon die Schlagzeilen und sich selber im Interview mit der PR-Fachpresse, wo sie im Detail darlegen würde, wie sie aus einer Krise einen Triumph gemacht hatte.
„Helen, bitte!“ Der Coo klang leicht verärgert. „Wir brauchen etwas, was wir an unsere Frontmitarbeiter verteilen können. Da rufen Kunden an, verstehen Sie? Und diese Kunden stellen unangenehme Fragen. Wir müssen unsere Leute instruieren! Sie waren doch an der Sitzung dabei. Ich kann doch von Ihnen erwarten, dass sie daraus ein entsprechendes Memo kreieren, oder?“
„Ich geb‘s zu“, sagte sie fröhlich und mit den Gedanken bereits woanders, „ich habe vorhin kein Wort verstanden. Aber wie gesagt, das spielt alles gar keine Rolle, die Verpackung ist in diesem Fall alles und die werde ich liefern!“
Bevor der Coo ihr an die Gurgel springen konnte, mischte sich der Professor ein: „Der Inhalt spielt sehr wohl eine Rolle. Wir müssen um jeden Preis verhindern, dass wir angreifbar werden. Also auf keinen Fall einen Fehler zugeben.“
Der Coo schaute überrascht auf sein Konferenztelefon. Hatte der Professor soeben eine definitive Meinung zu einem Thema abgegeben? Das wäre das erste Mal gewesen, seit sie sich kannten. Doch zu früh gefreut. Der Professor fuhr in grüblerischem Ton fort:
„Andererseits, falls wir wissen, dass wir einen Fehler gemacht haben, aber etwas anderes behaupten, dann könnten wir wegen Irreführung verklagt werden.“ Er unterbrach sich erschrocken, brabbelte dann aber weiter: „Ich frage mich gerade, ob ich bei diesen Sitzungen überhaupt noch dabei sein sollte. Schliesslich könnte ich vorgeladen werden und dann müsste ich die Wahrheit sagen. Besser ist es, nichts zu wissen.“ Er hielt wieder erschrocken inne, nur um dann anzufügen: „Bitte vergessen Sie was ich soeben gesagt habe, es könne falsch ausgelegt werden – nein, vergessen Sie auch das, ich will Sie nicht beeinflussen, Ui, Ui, Ui, wo habe ich mich hier bloss hineinmanövriert ...“
„Halten Sie die Klappe, Professor, und verlieren Sie nicht die Nerven. Lassen Sie mich paraphrasieren – “
„Kann ich nicht empfehlen. Paraphrasieren ist immer gefährlich, weil am Schluss nicht mehr klar ist, wer jetzt genau was ges- “
„Klappe! habe ich gesagt. Also ich fasse zusammen: Wegen möglicher Klagen dürfen wir nicht sagen, dass unsere Kontostände falsch sind. Und: Wegen möglicher Klagen müssen wir sagen, dass unsere Kontostände falsch sind.“
Der Professor atmete auf: „Ja, genau, das ist etwa die Lage aus rechtlicher Sicht. Endlich haben Sie’s begriffen. Sie sind ja gar nicht so hoffnungslos, wie ich immer gedacht habe.“
Damit war das Fass überlaufen. Der Coo hieb zornig die Faust auf den Tisch. Dann kappte er die Telefonleitung, stand auf, liess sich den Stuhl vom Hintern fallen und flüchtete unter einem gezischten „ich glaub‘ ich bin im Irrenhaus“ aus seinem Büro. Helen sah ihm verwirrt nach und fragte sich, worauf sich diese Bemerkung wohl bezogen haben mochte.