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„Hey, bist du verliebt?“ Schon als der Zug mit Getöse in den Vorortsbahnhof eingefahren kam, hatte Anna die geröteten Wangen ihrer Freundin Jenny hinter der Glasscheibe leuchten sehen. Kaum zugestiegen, wollte sie natürlich wissen, was lief. „Wie heisst er? Kenn ich ihn? Komm, sag schon!“

Jenny lachte verlegen. „Gib mir zuerst einen Kuss.“

Anna umarmte ihre Freundin kurz, aber Jenny weigerte sich immer noch, ihr Geheimnis preis zu geben.

Anna insistierte: „Na los“, und mit zusammengefalteten Händen, „bitte, bitte, bitte!“

Aber Jenny war noch nicht soweit. Sie wandte sich ab und schaute entschlossen zum Fenster hinaus. „Sieh, das Laub beginnt schon zu fallen.“

Anna verzog das Gesicht. Seit wann interessierte sich Jenny für fallende Blätter? Ausserdem lag das ganze Laub schon längst am Boden. Da sie aber wusste, dass man am besten schwieg, wenn man Jenny zum Sprechen bringen wollte, hielt sie den Mund.

Der Zug brachte Station für Station hinter sich. Und immer lief das gleiche Spiel: Der Lokführer bremste zu spät, dafür umso heftiger. Die Leute, die bereits aufgestanden waren, verloren das Gleichgewicht, griffen überrascht nach Haltern oder Stangen oder fielen gleich in ihre Nachbarn. Leise fluchend stiegen sie aus und eine neue Welle Passagiere schwappte herein. Je näher die Stadt kam, desto öfter stiegen mehr Leute ein als aus, und der Zug füllte sich rasch. Anna hielt sich demonstrativ die Nase zu, als sich eine ältere Frau so hinstellte, dass ihr üppiger Hintern kaum eine Handbreit neben Annas Gesicht zu stehen kam. Üblicherweise hätte Jenny jetzt gelacht, aber diesmal wandte sie den Blick nicht vom Fenster ab.

Erst als man schon die Türme der Kathedrale sehen konnte, stupste Jenny Anna an und zeigte auf ihre Handtasche, die sie unter den Arm geklemmt hatte. Anna verdrehte die Augen. Die Tasche war nach allen ästhetischen Massstäben eines der grässlichsten Exemplare, das je angefertigt worden war. Ohne erkennbare Form – dafür mit verdrehten Henkeln. Und auf das bereits abgeschossene schwarze Kunstleder war auf so ungeschickte Weise eine Blume gestickt, dass man nicht erkennen konnte, was sie hätte darstellen sollen. Eine Rose vielleicht?

„Nein, deine Tasche gefällt mir immer noch nicht“, sagte Anna und versuchte dabei nicht unhöflich zu sein. Doch Jenny ging’s nicht um die Tasche. Sie öffnete den Verschluss eine Handbreit und liess Anna hinein linsen.

„Halt mal still! Ich seh‘ ja nichts.“ Der Zug fuhr über Weichen und schwankte. Dann sah sie ein Bündel Papier. „Ah! Wusste ich’s doch. Liebesbriefe!“

„Bist du blöd? Schau doch richtig hin!“

Anna versuchte in die Tasche zu greifen, aber Jenny klappte sie blitzartig zu.

„Au! Sag mal, spinnst du?“

Jenny öffnete die Tasche erneut, griff diesmal aber selber hinein. Zwischen ihren Fingern liess sie Anna ein Stück bedrucktes Papier sehen. Es dauerte eine Ewigkeit bis Anna endlich begriff. „Was ist denn das? Ein Hunderter?!“

„Psst! Sei still. Das muss ja nicht gleich jeder hören!“ Jenny sah sich um. Aber zum Glück war der Zug mittlerweile so vollgestopft, dass sich niemand für ihre kleine Einlage interessierte. Anna hatte mit grossen Augen endlich begriffen, dass das Bündel Papier in der Tasche keineswegs ein Stapel pikanter Briefe war, sondern ein Haufen Geld. Ein verdammter Riesenhaufen sogar. Mehr als sie je gesehen hatte. Mehr als sie sich vorstellen konnte. Denn wie alle ihre Freundinnen litt sie an chronischer Geldnot. Wenn der Monat langsam zu Ende ging musste sie sich regelmässig Geld für den Döner am Mittag zusammenbetteln. Und warum? Nicht etwa, weil sie keine Taschengeld erhielte, nein, sondern weil sie jedes Mal, wenn das Geld eintraf, die Billigläden stürmte und für fast nichts T-Shirts, Tops, Hotpants, Sandalen, Strings und Panties in Mengen kaufte. Und diesen Monat besonders schlimm: ein Designerröckchen, im Ausverkauf. Und schon in dem Moment, als die hochnäsige Verkäuferin beim Einpacken abschätzig auf ihre Beine herunterschaute, wusste sie, dass sie’s nie anziehen würde. Sie biss sich auf die Lippen. Dazu noch Lippenstift, Mascara, Puder und diesen fantastischen Eyeliner, den man diese Saison einfach haben musste! Sie wusste, ihr Verhalten war dumm – aber machten es nicht alle ihre Freundinnen so?

Unter diesen Zwängen und Realitäten war der Anblick eines Stapels Banknoten natürlich etwas ganz und gar Aussergewöhnliches. „Wieviel ist das? Bestimmt Tausend, oder? Oahh, sooo viel Geld!“

Jenny schwieg. Ihr wurde ganz heiss, ob der Ungeheuerlichkeit des Ganzen. Der Zug hatte das Ziel erreicht. Die Leute drängelten bereits zu den Ausgängen, als Jenny sich zu Anna hinüberbeugte. „Fünfundzwanzigtausend“, flüsterte sie ihr ins Ohr.

Ein paar Stunden später liessen sie sich erschöpft in zwei Fauteuils fallen. Sie sassen im Adamovic, der teuersten Bar der Stadt, unten am Quai, umringt von Einkaufstaschen, auf denen all die wichtigen Labels prangten. Auch Anna hatte zugreifen dürfen. Jenny hatte sich grosszügig gezeigt und eigentlich hätten sie beide glücklich sein müssen, denn schliesslich lebten sie heute Abend wie die Reichen in den Realityshows, die sie manchmal zusammen schauten. Aber Anna spürte keine Freude. Statt eines ausgelassenen Vergnügens war die Shoppingtour eine einzige Demütigung gewesen. Sie besass feine Antennen für den zwischenmenschlichen Umgang. Und jede der mageren blondierten Ziegen, die Verkäuferin spielten, liess sie spüren, dass die beiden jungen Frauen in ihren Augen nichts als verirrter Abschaum waren. Eine eklige Anomalie, die in der distinguierten Welt des High-End-Shoppings nichts zu suchen hatte. Eine der blonden Vogelscheuchen hatte die ganze Zeit die Augen nach oben verdreht, so als bete sie ständig zu Gott, er möge ja verhindern, dass ausgerechnet jetzt eine ihrer guten Kundinnen den Laden beträte. Bei einer anderen hatte sie das sichere Gefühl, sie würde sich zum Händewaschen ins Badezimmer stürzen, noch bevor die Tür hinter den beiden Freundinnen ins Schloss gefallen war. Und bei der letzten, einer Schwarzhaarigen, waren sie mehr oder weniger geflüchtet, weil sie befürchten mussten, diese würde die Polizei rufen. Denn Jenny hatte sie ungeschickterweise ein Bündel Scheine sehen lassen, und der Gesichtsausdruck der Verkäuferin zeigte klar, dass sie die beiden jungen Frauen für Diebinnen hielt, die wahrscheinlich eine alte Frau überfallen hatten, um an das Geld zu kommen. Also ab durch die Mitte!

Jenny schien das alles egal gewesen zu sein, aber Anna war empört. „Was für ein verlogener Haufen! So widerlich!“

Das sagte sie als die beiden in dem teuren Lokal Platz genommen hatten. Anna schaute sich um. Gelbgoldenes Licht funkelte in den Kronleuchtern, am Piano sass ein trauriger Kerl, der mit flinken Fingern Songs spielte, die die Mädchen nicht kannten. Ab und zu hörte man über all dem Gebrabbel ein lautes Lachen. Man war bereits vom Kaffee zu Schärferem übergegangen und der Alkohol begann Wirkung zu zeigen. Die Leute bestellten Cocktails mit Namen, die entweder peinlich waren oder von denen man nicht wusste, wie man sie aussprechen sollte.

Jenny las sich mit grossen Augen durch die Karte. Der Name des Lokals war in goldenen Lettern in dickes Papier eingeprägt und die Seiten des Büchleins wurden von einer Kordel in derselben Farbe zusammengehalten. Anna sah ihrer Freundin beim Lesen zu. Ihr wurde schmerzlich bewusst, dass sie beide keine Ahnung hatten, was man an einem solchen Ort bestellen sollte. Aber als der Ober kam, um zu fragen, was die beiden jungen Damen wünschten, plapperte Jenny munter drauf los und es störte sie nicht im Geringsten, dass weder Anna noch der Ober verstanden, was sie soeben bestellt hatte. Da zeigte Jenny mit dem Finger auf eine Zeile. „Das hier wollen wir haben“, sagte sie fröhlich.

„Sie haben den Preis gesehen?“ erkundigte sich der Ober vorsichtig, aber höflich.

„Ja klar. Wir haben was zu feiern!“

Sie griff nach ihrer Tasche und wollte sie schon öffnen, als sich der Ober mit einem „sehr wohl“ entfernte.

Anna war das alles so peinlich, dass sie vor Scham am Liebsten im Fauteuil versunken wäre. Sie hatte eh keine Ahnung wie sie auf dem viel zu weichen und tiefen Sessel anständig sitzen sollte. Sie bemerkte nur, dass sie und ihre Freundin auffielen. Alles an ihnen war irgendwie falsch. Die dilettantisch geschnittenen Haare mit der scheckigen Färbung, der zu grelle Lippenstift, die abgelatschten Schuhe, die Jacken, die zwar unter ihresgleichen bewundert wurden, aber hier einfach nur schäbig aussahen.

Anna riss sich zusammen. Sie wollte jetzt endlich wissen, woher das Geld kam. Denn eigentlich war sie sich sicher, dass es gestohlen sein musste.

„Ich hab’s gefunden“, lüftete Jenny das Geheimnis.

„Gefunden? Wo? Auf der Strasse?“

„Bist du blöd? So ein Bündel, auf der Strasse?“

„Ja wo denn dann? Los, verdammt, sag schon!“

„Auf meinem Bankkonto.“

„Auf deinem Bankkonto? Willst du mich verarschen?“

„Nein. Wirklich! Auf meinem Bankkonto!“ Sie lachte laut auf. „Ich hab mir am Automaten bei der Filiale einen Hunderter fürs Wochenende rausgelassen. Sonst schau ich ja nie auf den Zettel. Aber diesmal hab ich’s getan und als ich dann mein Guthaben gesehen habe, bin ich fast umgekippt. Wie sechs Richtige im Lotto! Da bin ich zur Filiale zurückgerannt, an den Schalter gestanden und hab mir einen schönen Stapel auszahlen lassen.“

„Aber …. Aber das ist sicher ein Fehler. Woher solltest du plötzlich so viel Geld haben?“

„Natürlich ist’s ein Fehler. Ich bin ja nicht dumm. Aber es ist nicht mein Fehler. Und bevor die was merken, hab ich’s schon verputzt. Ich bin ein süsses, unschuldiges Mädchen und ich werde Krawall schlagen, wenn sie sich’s zurückholen wollen. Und sowieso: Für die sind das doch nur Peanuts. Und die wollen sicher nicht, dass jemand erfährt, dass ihre Konten nicht stimmen!“

Anna verschlug’s ab so viel Naivität die Sprache. Viele, viele Dinge gingen ihr gleichzeitig durch den Kopf. Sie hatte eine Vision von Jennys Mutter, die sich vor einem mitleidslosen Pfändungsbeamten auf die Knie warf und bitterlich weinte: „Bitte, bitte, sie ist doch noch ein Kind! Sie wusste doch nicht was sie tat!“ Eine gute Frau, Jennys Mutter, die immer ein nettes Wort für Anna hatte, wenn sie auf einen Besuch vorbei ging. Sie ahnte nichts von der Katastrophe, die ihr unbekümmertes Töchterchen gerade anrichtete. Es würde sie umso härter treffen und ihr lautes Wehklagen würde endlos zwischen den Wänden der engen Wohnblocks hin und her hallen.

Anna hatte plötzlich das Gefühl, sie hätte in ihrem Leben alles falsch gemacht. Zum ersten Mal bereute sie, dass sie sich in der Schule nicht mehr angestrengt hatte. Sie würde eine ewige Gefangene in dieser tristen Verliererwelt bleiben. Das alles machte sie so niedergeschlagen und traurig. Sie fühlte sich von Jenny und ihrer sorglosen Dummheit in einen Abgrund gerissen, aus dem es kein Zurück mehr gab.

Der Knall des Korken schreckte sie aus ihren Träumen auf. Es schäumte aus der schweren Flasche und der Kellner goss den teuren Saft mit einer eleganten Geste in zwei Kelche. Jenny gönnte sich einen kleinen Freudenschrei. Die umstehende Meute in Anzügen und Business-Kostümen schaute amüsiert oder indigniert zu, wie sich die beiden verirrten jungen Frauen zuprosteten. Beide tranken einen Schluck und verzogen das Gesicht ab dem bittersauren Getränk.

„Wusste gar nicht, dass reich sein so anstrengend ist“, sagte Jenny. Sie blickte prüfend auf ihre abgekauten Nägel von denen der Lack abblätterte. „Aber Morgen gehen wir in den Spa und lassen uns so richtig aufpolieren!“

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