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Neelam Patel stellte die Rückenlehne ihres Bürosessels aufrecht, drückte den Einschaltknopf an ihrem Computer und setzte ihr Headset auf. Noch ein paar Minuten bis alle Programme gestartet waren, dann ginge es los. Zum Glück war heute Samstag. Obschon Neelam, wie alle ihre Kollegen, erst seit kurzem hier arbeitete, wusste sie, dass Samstag eine entspannte Schicht bedeutete. Die Firmenkunden der Bank arbeiteten heute nicht – ausser den paar Verrückten, die es auch übers Wochenende nicht sein lassen konnten. Ab und zu rief ein Kunde aus den Golfstaaten an, wo der Freitag oft frei war und am Samstag wieder gearbeitet wurde. Aber dieses Business war erst am Entstehen. Anrufe kamen selten, und alle komplizierteren Fälle aus dieser Region durften sie gleich an die Teams vor Ort durchstellen.

Das Kunden-Callcenter war als Teil des EVEREST-Projekts gebaut worden. Sie waren die Ersten, die Büros in dem achtstöckigen Gebäude bezogen, das die Bank in einer Campus-Anlage ausserhalb Bangalores errichtet hatte. Aber schon in ein paar Wochen würden sich hier weitere Gruppen einquartieren. Eine IT-Überwachung und ein IT-Helpdesk waren geplant. Dazu kämen Abteilungen, die kompliziertere Wertschriftentransaktionen abwickelten und eine, die die Buchhaltung für Private Equity Geschäfte führte. Wenn alles fertig war, würden hier fast zweitausend Mitarbeiter ihren Arbeitstag verbringen.

Heute jedoch war von dieser Zukunft noch nichts zu spüren. Das Kunden-Callcenter war spärlich besetzt. Von ihrem Platz aus konnte sie nur zwei Leute sehen. Das war einmal ihr behäbiger Chef, Mukesh Khurana, der in seinem Glaskasten sass und von dort aus die Samstagsschicht leitete. Es war bekannt, dass er die Samstage mochte, weil an diesem Tag nicht viel lief. So hatte er Zeit, seine administrativen Aufgaben zu erledigen. Böse Zungen hätten vielleicht behauptet, dass es Mukesh ganz grundsätzlich ein wenig ruhiger mochte. An Tagen an denen es hektisch zu werden drohte, überliess er die Aufsicht gerne einem seiner jungen Möchtegernnachfolger. „Die Jungen einem Stresstest unterwerfen“, nannte er das. Und danach hielt er ihnen ihre wirklichen und eingebildeten Verfehlungen vor, damit sie wussten, wie unendlich weit sie noch vom ersehnten Ziel entfernt waren, ihn zu beerben.

Neelam interessierte sich nicht für solche Spielchen. Sie kümmerte sich lieber um ihre eigenen Angelegenheiten. Und um die zweite, viel wichtigere Person, die noch im Raum war. Weiter drüben – sie konnte ihn diagonal über eine Reihe von Sitzlehnen sehen, wenn sie sich ein wenig vorbeugte – sass Sanjeev Jariwala, der bestaussehende und netteste Mitarbeiter, den es je in einem Callcenter gegeben hatte. Dieser Sanjeev interessierte sie tausendmal mehr als ihr eingebildeter Chef, dem sie sowieso nicht mehr als zwölf weitere Monate gab.

Neelam seufzte und zwang sich, auf ihren Bildschirm zu sehen. Im Moment warteten keine Anrufe in der Schlange. Üblicherweise nutzte sie die tote Zeit, um Dokumentationen zu studieren, damit sie den Anrufern schneller und besser antworten konnte. Damit holte sie mehr Punkte, wenn die Kundenzufriedenheit gemessen wurde. Am Ende des Jahres bekam sie für ihre Anstrengungen einen kleinen Bonus. Damit würde sie ihrer Mutter etwas Schönes kaufen, vielleicht ein paar Meter Seidenstoff aus dem neuen Laden in der Stadt, einem Ort, wo ihre Familie in hundert Jahren nie hinkäme.

Handbücher studieren hatte noch einen anderen Vorteil. Wenn sie konzentriert in ihren Dokumenten las, dann schaute sie nicht hinüber zu Sanjeev. Sie schmachtete ihn nicht an und träumte auch nicht von einer Hochzeit, die nach allen Regeln der Kunst abliefe, über drei Tage und mit dreihundert Gästen. Sie schüttelte verärgert den Kopf und rief sich in Erinnerung, dass eine solche Hochzeit selbst unter glücklichsten Umständen nie stattfinden würde. Ihre Familien stammten aus Regionen, die zwei Tagesreisen voneinander entfernt lagen. Die Dörfer gehörten verschiedenen Universen an. Die beiden Familien hätten nicht ein einziges Wort miteinander wechseln können. Ihre Sprachen hatten etwa so viel miteinander zu tun wie baskisch und koreanisch. Weder Neelams Vater, noch ihre Mutter sprachen Hindi oder gar Englisch und seine Eltern natürlich auch nicht. Beide Familien hatten ihre Kinder zwar ziehen lassen und sperrten sich nicht kategorisch gegen alles Moderne – aber sie lebten doch in einer sehr isolierten Welt. Neelams Grossmutter war in ihrem ganzen Leben ein einziges Mal in der Stadt gewesen. Und die lag weniger als zwanzig Kilometer vom Dorf entfernt.

Neelam öffnete ein Dokument mit dem Titel NTFMS – New Trade Finance Management System. Sie begann zu lesen, aber von Handelsfinanzierung verstand sie kein Wort. Was um Himmels Willen war denn ein Letter of Credit? Sie schaute im Glossar nach, verlor den Faden aber gleich wieder. Das war definitiv nicht ihr Gebiet – und überhaupt: Das alles brauchte sie gar nicht zu wissen. All die abstrakten Begriffe … Um wieviel handfester war doch da ihre geheime Liebe zu Sanjeev. Sie sah sich zusammen mit Sanjeev beim Einkaufen, und sie sah sich, wie sie glücklich ihren gemeinsamen Sohn in den Armen hielt. Weiter und weiter phantasierte sie, bis Bilder in ihrem Kopf aufstiegen, die so angenehm wie unanständig waren und die ihre Wangen erglühen liessen. Sie musste sich dringend zusammenreissen. Wenn jetzt jemand anrief, dann könnte sie nur dumm vor sich hinstammeln, und wenn Mukesh per Zufall ihre Leitung überwachte, dann wäre sie geliefert. Sie würde den Job verlieren und in Schande in ihr Dorf zurückkehren müssen. Dort würde man sie mit einem Dorfjockel verheiraten und das wär‘s dann gewesen. Sie würde nicht aufhören können von Sanjeev zu träumen, während sie der Jockel rumkommandierte, und ihr bliebe nichts anderes übrig, als alleine in die Berge zu laufen, um da im Schnee zu erfrieren. Dann doch lieber Handbücher studieren …

Plötzlich nahm sie etwas wahr, was nicht stimmte! Ihr sanfter Sanjeev, der liebenswürdigste Mensch, den sie kannte, der Sanjeev, der ihr schon zweimal in der Pausenzone beim Tee gute Tipps gegeben hatte, war ausser sich. Er schien einen sehr schwierigen Kunden am Apparat zu haben, denn er war beim Telefonieren aufgestanden und hob die Hände abwehrend vor die Brust, so als erwarte er gleich geschlagen zu werden. Neelam wollte ihm zu Hilfe eilen, doch sie sah, dass auch Mukesh in seinem Glaskasten aufgestanden war und bereits zornig zu Sanjeev hinüberblickte. Mukesh drückte einen Knopf, um in das Gespräch hineinzuhören. Das schien jedoch eine Sekunde später bereits zu Ende zu sein, denn Sanjeev setzte sich zitternd, während Mukesh wütend aus seinem Büro gestürmt kam und Sanjeev zu sich winkte.

In diesem Moment erklang das Anrufsignal. Neelam meldete sich und fragte, wie sie helfen könne. Auf dem Bildschirm erschienen die Daten des Kunden. Wenn das Callcenter-System die eingehende Telefonnummer erkennen konnte, versuchte es, den Kunden zu identifizieren und den Mitarbeitern die wichtigsten Informationen einzublenden. Das gab dem ganzen einen persönlichen Touch. „Der Kunde steht bei uns im Zentrum“, war schliesslich einer der zwanzig goldenen Leitsätze der Bank. Das System hatte offensichtlich einen Treffer gefunden. Eine Handelsgesellschaft in Singapur mit mehreren Namen von Personen, die handlungsbevollmächtigt waren. Chinesen oder Malaien vielleicht – sie kannte sich da nicht so gut aus. Drei Kontokorrentkonten, Britische Pfund, Singapur- und US-Dollar. Kontostände zwischen dreissig- und hunderttausend. Sie war erleichtert. Manchmal riefen am Wochenende auch wirklich reiche Kunden an, wenn sie ihre Berater nicht direkt erreichen konnten. Manche von denen hatten völlig überzogene Vorstellungen davon, was die Agenten im Callcenter überhaupt für sie tun durften. Diese Kunden konnten sehr unangenehm werden, wenn man ihre Probleme nicht auf der Stelle lösen konnte. Ihr Anrufer schien jedoch höflich und sprach ein gewähltes Englisch. Ausbildung in England, vermutete Neelam. Glück gehabt.

„Entschuldigen Sie, dass ich an einem Samstag anrufe. Ich konnte meinen Kundenberater leider nicht erreichen.“

„Keine Ursache, Sir, wir sind gerne für Sie da.“

„Wir haben da ein kleines Problem. Der Saldo auf unserem US-Dollarkonto stimmt nicht.“

Wieder einmal so einer, dachte Neelam. Sie ging die Szenarien durch: Jemand anderes hatte Geld transferiert, ohne den Anrufer zu informieren; oder ein Transfer war automatisch durch ein Computerprogramm ausgelöst worden. Bei Firmen gab es dafür ein Dutzend Möglichkeiten. Oder der Anrufer zählte falsch zusammen. Man würde es nicht glauben, aber das kam häufiger vor, als man meinte. Oder – und das waren die schlimmsten Fälle – der Anrufer konnte der Wahrheit nicht ins Auge sehen. Der Wahrheit nämlich, dass da einfach nicht so viel auf dem Konto lag, wie man vielleicht gerade dringend benötigt hätte. In ihrer Verzweiflung riefen manche die Bank an, und behaupteten etwas Unsinniges, nur um Dampf abzulassen oder einfach, um jemand anderem die Schuld zu geben. Am Schluss brüllten oder weinten sie hysterisch, je nach Temperament. Aber zum Glück kam solches nur selten vor. Wahrscheinlich war alles nur ein Missverständnis. Also immer ruhig und höflich bleiben. „Einen Moment bitte, Sir, ich muss sie zuerst identifizieren.“

Sie musste sich nochmals nach seinem Namen erkundigen, da sie nicht richtig hingehört hatte, als er ihn zum ersten Mal genannt hatte. Die Namen der Bevollmächtigten, die auf dem Bildschirm geschrieben standen, tönten für ihre Ohren zu ähnlich, als dass sie sich hätte sicher sein können. Anfängerfehler. Sanjeevs romantischer Einfluss. Reiss dich zusammen!

Der Anrufer wiederholte seinen Namen, immer noch mit britischem Akzent, aber schon mit einer Spur weniger Freundlichkeit im Ton. Sie fand den Namen in der Liste und klickte ihn an. Eine Uhr erschien auf dem Bildschirm. Sie zeigte an, dass das System etwas gefunden hatte, dass es aber eine Weile dauern würde, bis die Daten angezeigt werden konnten.

Der Anrufer mochte nicht so lange warten: „Hören Sie, ich habe keine Zeit hier lange mit Ihnen rumzutrödeln. Ich will nur, dass Sie den Fehler korrigieren und zwar rasch!“

Auf dem Bildschirm erschienen die verschwommene Kopie eines Passfotos und eine ganze Reihe von Daten, die Neelam zuerst überblicken musste. Der Anrufer war nicht nur Firmen- sondern auch Privatkunde der Bank.

„Sir, darf ich sie bitten, mir zu sagen, wie viele Kinder Sie haben? Und wieviel Geld Sie in Aktienfonds angelegt haben?“

„Bitte?“ fragte der Anrufer indigniert. „Das geht Sie gar nichts an! Meine privaten Daten haben Sie nicht zu interessieren. Warum sehen Sie die überhaupt? Ich erwarte von meiner Bank höchste Diskretion. Ich werde mich beschweren!“

„Reine Routine, Sir“, versuchte Neelam zu beschwichtigen. „Ich will nur sicherstellen, dass Sie auch der sind, als den Sie sich ausgeben.“

Fehler! Um Himmels Willen, dachte sie, lief denn heute alles schief? Sie hätte sagen müssen, dass sie sicherstellen wollte, dass niemand anders unter seinem Namen anrief. Inhaltlich war das das gleiche, aber die Kunden reagierten ganz anders auf diese Formulierung.

„Drei Kinder! Das ist alles, was Sie von mir erfahren.“ In dem Moment, als er antwortete, sah sie auf dem Bildschirm den Betrag, den er als Privatperson in verschiedene Aktienfonds investiert hatte. Sie schluckte. Sie verstand nun, wieso der Anrufer darauf bestand, ohne dumme Fragen erkannt zu werden. Sie knickte ein und verzichtete auf weitere Prüfungen.

„Danke für ihre Geduld, Sir. Der Kontostand ist 43‘969 Dollar und 55 Cent.“

„Danke, das habe ich selber sehen können. Aber der Kontostand stimmt nicht. Haben sie mich denn nicht verstanden?“

Neelam versuchte sich zu erinnern, ob es Anweisungen für Kontodiskrepanzen gab, aber sie konnte auf die Schnelle nichts finden. Sie wusste nur, dass man ihr eingeschärft hatte, dass die Bank immer Recht hatte. Erstens, weil Computer keine Fehler machten und zweitens, weil die Kunden in ihren Verträgen akzeptiert hatten, dass die Bank immer recht hatte. Die Kunden waren entweder nicht auf dem richtigen Stand, oder sie wollten die Bank bescheissen. Auf keinen Fall durfte man den Eindruck erwecken, dass die Bank etwas falsch gemacht haben könnte.

„Welcher Betrag wäre denn Ihrer Meinung nach der richtige, Sir?“ Sie biss sich auf die Lippen. Wieder eine unglückliche Formulierung, die den Kunden provozieren könnte.

„Meiner Meinung nach? Hier geht es nicht um Meinungen, meine Liebe, hier geht es um Fakten. Der richtige Saldo lautet 82‘826 Dollar und 21 Cent.“

„Einen Augenblick bitte, Sir.“ Neelam öffnete rasch ein Taschenrechnerprogramm. „Die Differenz beträgt 38‘856 Dollar und 66 Cent.“

„Danke. Rechnen kann ich selber. Immerhin schön, dass Sie auf das gleiche Resultat kommen.“ Er sprach jetzt mit schneidendem Sarkasmus. Sie wusste, er würde nächstens explodieren. Neelam spürte, wie ihr Schweiss in die Augen lief. „Dann brauchen wir nur noch die Buchungen zu finden, die zusammen diesen Betrag ergeben.“

„Es gibt keine solchen Buchungen, Sie Schnepfe! Verstehen Sie? Glauben Sie, Sie haben es mit einem Idioten zu tun? Ich wiederhole mich: Der Kontostand ist falsch. Sie haben falsch gerechnet, oder jemand bei Ihnen klaut mein Geld. Und wenn jemand mein hart verdientes Geld klaut, werde ich sehr, sehr ungehalten. Verstehen Sie?“

Der Kunde war jetzt laut. Neelam wäre am liebsten davon gerannt. Sie konnte nicht damit umgehen, wenn sie angebrüllt wurde. Sie wusste auch, dass entgegen dem was das Management sagte, immer etwas am Mitarbeiter hängen blieb, wenn ein Anruf eskalierte. Sie fürchtete um ihre gute Qualifikation. Sie musste das Gespräch unbedingt wieder auf eine gute Bahn bringen.

„Sir, bitte, ich bin überzeugt, wir werden das gleich geklärt haben.“

Der Anrufer schwieg. Endlich erschienen die Buchungen der letzten drei Monate auf Neelams Schirm. Sie atmete auf. Aber was sie las, ergab keinen Sinn. Ein Kloss bildete sich in ihrem Hals. Sie wusste nicht mehr wie sie die Situation unter Kontrolle bringen konnte. Voller Panik drückte sie den Knopf, der Mukesh darauf Aufmerksam machte, dass sie ein Problem hatte. So könnte er sich einschalten und sie vielleicht retten. Mukesh reagierte aber nicht. Als sie das Warten nicht mehr aushielt, krächzte sie schliesslich ins Mikrofon: „Ich sehe jetzt zwei Buchungen. Die letzte vor fünf Wochen, wenn ich mich nicht täusche.“

Der Anrufer unterbrach sie wieder: „Das sieht ja jeder Depp. Lesen kann ich selber. Wir haben Internet-Banking, falls Sie das noch nicht gemerkt haben. Sie bestätigen mir nur, was ich schon gewusst habe. Ich will mit jemandem reden, der hier verantwortlich ist. Bande von dreckigen Verbrechern!“

„Sir, ich weise Sie darauf hin, dass dieses Gespräch aufgezeichnet wird“, versuchte sie ihn zu warnen.

„Aufgezeichnet“, schrie er, „umso besser! Die ganze Welt soll es wissen. Ihr wollt mich ficken? Dann fick ich euch vorher, und dich zuallererst, du dumme indische Schlampe. Gib mir deinen Manager, sofort!“

Aber Mukesh hatte soeben einem anderen Mitarbeiter das Headset vom Kopf gezogen und sprach jetzt selbst hinein. Sein Gesicht hatte einen gräulichen Ton angenommen. Er sah aus als bekäme er gleich einen Herzinfarkt.

„Sir, ich werde Ihrem Kundenbetreuer eine Nachricht hinterlassen“, fuhr Neelam tapfer fort. Er wird Sie am Montag kontaktieren.“

„Ich will jetzt den Chef, verstehst du? Jetzt! Du unfähige –“

Neelam schlug mit der Hand auf die Tastatur und brach die Verbindung ab. Sie stand auf. Der Luftzug der Klimaanlage liess ihren schweissnassen Rücken einfrieren. Sie sah flehend zu Mukesh rüber. Tu was, bat sie in stillem Entsetzten.

Und der sonst so phlegmatische Mukesh tat tatsächlich etwas. In einem Schritt, den sie ihm nicht zugetraut hätte, entschied er, alle Leitungen zu kappen und damit seine Mitarbeiter zu schützen. Er stellte den Betrieb auf technische Störung, was bedeutete, dass alle Anrufer ein Band zu hören bekamen, welches sie informierte, dass wegen einer Unterbrechung der internationalen Leitung im Moment niemand erreichbar sei. Mukesh winkte alle Agenten zu sich und fragte sie einzeln ab. Auf einer Tafel listete er die Vorfälle auf. Danach war das Bild klar. Irgendjemand hatte Konten abgeräumt. Oder war immer noch daran. Jemand hatte die Bank gehackt! Mukesh interessierte sich für Computerkriminalität und las alles zum Thema, was er auf dem Netz finden konnte. Für ihn war der Fall klar: Jemand war eingedrungen und hatte Geld gestohlen und ausgerechnet bei ihm und seinem Team schlugen die Folgen durch. Was für ein verdammtes Pech!

Mukesh tupfte sich mit einem Taschentuch die Stirn trocken, liess sich in seinen Sessel fallen und winkte dann seine Mitarbeiter mit einer müden Handbewegung zum Büro hinaus. Dann wählte er die Mobilnummer seines Chefs. Niemand meldete sich. Er hinterliess eine Nachricht auf dem Band, wobei er sich grösste Mühe gab, den richtigen Ton zu treffen: Sein Chef musste erkennen, dass es wirklich wichtig war, aber auch, dass Mukesh die Ruhe bewahrte und alles im Griff hatte. Wieder wischte er sich den Schweiss von der Stirn. Mukesh fühlte sich plötzlich sehr alleine, denn ihm war bewusst geworden, dass er ausser seinem Chef und seinen eigenen Mitarbeitern keinen Menschen in der Bank kannte. Als sie das Callcenter aufbauten, waren zwar viele Experten vor Ort gewesen, die geholfen hatten, alles zu installieren und einzurichten. Aber das waren alles externe Berater gewesen, die längst schon weitergezogen waren. Er konnte nicht einmal einen Stock rauf oder runter laufen, in das nächste Managerbüro treten und herumfragen. Denn die Hallen standen alle noch leer. Auf den anderen Stockwerken waren noch nicht einmal die Fenster eingebaut. Nichts war da zu sehen, ausser nackten Betonsäulen und endlosen Flächen, über die der Wind pfiff.

Plötzlich kam ihm eine Idee. Er griff erleichtert in eine Schublade und zog einen dünnen roten Ordner hervor. Notfallpläne und Notfallnummern. Man musste zugeben, dass die Berater einen guten Job gemacht hatten. Sie hatten an alles gedacht und ihm diese lebenswichtigen Informationen bereitgestellt. Er schlug den Ordner auf und begann zu lesen. Alles war sauber erklärt: Stäbe und ihre Verantwortlichkeiten, pro Division und pro Region; wer wen zu informieren hatte; wer welche Entscheide fällte. Es gab Listen mit Notfallarbeitsplätzen, falls Büros geräumt werden mussten und vieles mehr. Schliesslich fand er das Wichtigste: die Nummer der Krisen-Konferenzschaltung. Mit zittriger Hand griff er zum Telefon und wählte die Nummer seiner Region. Eine Automatenstimme forderte ihn auf, Name, Arbeitsort, Division und Abteilung zu nennen, damit man ihn der Konferenz hinzuschalten konnte. Die Nummer funktionierte tatsächlich, und Mukesh blies erleichtert Luft durch die Lippen. Er lieferte die verlangten Informationen und die Automatenstimme kündigte ihn an: „Mukesh Khurana is now joining the conference.“

Mukesh wünschte vorsichtig einen guten Tag. Er war nervös. Die Bank war schliesslich riesig, und man konnte nicht wissen, wer alles in die Konferenz eingewählt war. Mukesh hatte ein Leben lang fast panische Angst davor gehabt, vor höhergestellten Personen das Falsche zu sagen und sich lächerlich zu machen. Vorerst hörte er aber keine furchteinflössenden Direktoren mit autoritären Stimmen, sondern nur ein Knacken in der Leitung und etwas, dass sich anhörte wie Papier, das auf einem Tisch herumgeschoben wurden. Ganz entfernt hörte er Stimmen, unverständlich zwar, aber eindeutig Stimmen. Ein leises Lachen. Mukesh wartete, bis jemand zu sprechen begänne. Er wollte sich auf keinen Fall vordrängen.

Nach endlosen zehn Minuten begann er mit den Fingern vorsichtig auf das Mikrofon zu trommeln, gerade so laut, dass die anderen Teilnehmer etwas hören mussten. Mukesh lauschte konzentriert. Aber da war nichts. Selbst die entfernten Stimmen waren verschwunden.

Seine eigenen Mitarbeiter strichen vor dem Glaskasten herum und spähten scheu herein. Sie lechzten nach Instruktionen, wagten aber nicht zu stören. Schliesslich hauchte Mukesh ein zaghaftes „Hallo“ in den Hörer. Ein schwaches Echo – sonst nichts. Der Schweiss perlte wieder auf seiner Stirn. Sie mussten jetzt etwas tun! Die Bank war bedroht! Merkte denn niemand etwas?!

„Hallo?“ Diesmal lauter. Dann kam ihm eine Idee: „Bitte schalten sie alle die Stummschaltung aus, ich kann Sie nicht hören.“ Aber wieder nichts ausser Knacken und eine Art Schaben. Mukesh begriff auf einmal, dass er nichts als Störgeräusche hörte. Er legte den Hörer, den er bis jetzt ans Ohr gepresst hatte, auf den Tisch und stellte das Telefon auf Lautsprecher. Dann griff er wieder zum Ordner und blätterte jede Seite einzeln durch – doch er fand nichts. Er wollte den Ordner schon zornig in den Papierkorb werfen, da sah er endlich, dass auf der Innenseite des hinteren Deckels eine Karte klebte. Sie war in durchsichtiges Plastik eingeschweisst. „Geheim“ und „Nur im Notfall zu öffnen“ konnte er durch die Folie lesen. Er riss die Verpackung auf und zog die Karte heraus. Auf der Rückseite standen fein säuberlich aufgelistet die Namen all der Manager, die in den Krisenstäben sassen und dahinter ihre mobilen und privaten Telefonnummern. Vorhin hatte Mukesh noch erleichtert aufgeatmet, doch nun sah er fassungslos auf die Karte. Ihm wurde schwindlig. Auf seinem Exemplar waren statt rettender Nummern nur schwarze Balken zu sehen! Irgendein Idiot schien vergessen zu haben, das Vorabexemplar mit der richtigen Liste zu ersetzen!

Aufstehen, durchatmen, ein paar Schritte gehen. Seine Leute sahen besorgt zu ihm hinüber. Okay, sagte er sich, jetzt nur nicht die Nerven verlieren! Wieder ein paar Schritte gehen. Überlegen, die Ruhe bewahren, keine Panik aufsteigen lassen, wieder ein paar Schritte gehen...

So ging das ein paar Minuten, bis er schliesslich zu Sanjeev ans Pult trat. „Wir müssen das melden. Ich kann aber niemanden erreichen. Kennen Sie jemanden?“ Mukesh redete so leise, dass ihn niemand sonst hören konnte. Es machte sich nicht gut, wenn der Chef nicht mehr weiter wusste.

„Ich habe einen Freund bei der IT“, flüsterte Sanjeev zurück, „vielleicht kann der uns helfen. Ich habe gehört, es gäbe ein Team von Spezialisten, das rund um die Uhr arbeitet und Virenattacken abwehrt.“

Nach einer halben Stunde herumtelefonieren hatten Sanjeev seinen Freund endlich erreicht. Der konnte ihnen die Nummer der Eingreiftruppe tatsächlich geben. Mukesh rief sofort an und schilderte sein Problem. Der Dienstleiter, ein Mann namens Raj, zeigte sich zwar skeptisch, aber er versprach, sich der Sache anzunehmen. Mukesh fiel eine enorme Last von den Schultern. Er hatte das Problem weitergegeben. Ab jetzt trug jemand anders die Verantwortung. Die Hacker würden in Kürze gefasst sein, und ihr schändliches Tun wäre unterbunden!

Der guten Form halber wies er seine Mitarbeiter an, bis zum Ende der Schicht zu bleiben. Die Leitungen würde er aber nicht mehr öffnen, bevor er nicht Instruktionen von höherer Stelle erhielte. Morgen Sonntag waren er und seine Leute nicht im Dienst. Die Kunden konnten zwar anrufen, sie bekamen aber nur technische Unterstützung. Vergessene Passwörter, verlorene Karten. Der Dienst war an eine Firma in Osteuropa ausgelagert. Für Mukesh und sein Team ging’s erst am Montag wieder los. Bis dahin wäre dieses Problem längst gelöst, da war sich Mukesh sicher. Und wer weiss, vielleicht erhielte er sogar ein Sonderlob, weil er so kaltblütig und rasch reagiert hatte.

HYBRIS

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