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ОглавлениеEin paar Flugstunden weiter westlich, auf der anderen Seite des Atlantiks, stand Oliver Schwab in der Sicherheitsschleuse und liess seinen biometrischen Ausweis vom Sicherheitsbeamten kontrollieren. Der Beamte trug eine paramilitärische Uniform mit Fantasieabzeichen, die ihn so aussehen liessen, als sei er soeben aus einem Kampfeinsatz im Irak zurückgekehrt. Er beherrschte diesen speziellen Blick: eine Mischung aus Langeweile, Aufmerksamkeit und Ungeduld. Zu alledem sass er einen Meter erhöht auf einem Podest, so dass er auf die Besucher hinunterschauen konnte. Oliver hasste das. Er hasste auch, dass sich der Beamte die Zeit nahm, die Sicherheitsprozedur Schritt für Schritt durchzuarbeiten, obschon sie sich schon seit Jahren kannten und obschon Oliver hier der oberste Chef war. Aber so war das nun mal. Der Beamte hatte sich in den Kopf gesetzt, Oliver immer wieder zu beweisen, dass er sich nicht von Rang und Namen beeindrucken liess. Die Vorschriften waren strikte einzuhalten. Schliesslich war das hier eines der grössten und wichtigsten Rechenzentren der Welt. Wenn hier die falschen Leute durchkämen, dann würde das für die ganze Welt böse Folgen haben. Peinlich berührt glaubte Oliver sich zu erinnern, dass er selbst exakt diese pompösen Worte benutzt hatte, als er am Tag der Eröffnung zum Sicherheitsteam gesprochen hatte. Die Botschaft war bei diesem Beamten wohl besser angekommen als erhofft.
Plötzlich lächelte der Wachmann und drückte den Knopf, der die Schiebetür öffnete. Unter dem Schnauben des pneumatischen Mechanismus wünschten sie sich ein schönes Wochenende. Oliver schritt durch den endlos langen Gang, den der holländische Architekt in einem hypermodernen Stil angelegt hatte. Die silbrige Farbe an den Wänden und der Decke glänzten dermassen, dass der Eindruck entstand, man ginge durch ein verspiegeltes Rohr. Die optische Täuschung liess den Raum ins Unendliche wachsen. Man sollte spüren, wie gross die Anlage war, obschon man vom Gang aus die Rechner gar nicht sehen konnte. Nur an einer einzigen Stelle erlaubte ein Band getönter Glasscheiben den Blick auf eine riesige Halle in der Hunderte von Grossrechnern aufgereiht waren. Mit ihren schwarz-glänzenden Gehäusen sahen sie für Oliver aus wie lange Barren eines geheimnisvollen Edelmetalls, das Ausserirdische hier hatten liegen lassen. Die geniale Optik der Anlage war nötig, denn ausser den Experten, die hier arbeiteten, hatte niemand auch nur einen Schimmer davon, was hinter diesen Mauern eigentlich ablief. Da der Betrieb aber jedes Jahr Hunderte Millionen verschlang, mussten die Gäste aus der obersten Etage der Bank gebührend beeindruckt sein, wenn sie von Oliver hier durchgeführt wurden. Die gelungene Architektur erfüllte diesen Zweck ganz ausgezeichnet.
Oliver war enorm stolz auf das, was sie hier erreicht hatten. Dadurch, dass es ihm und seinem Team gelungen war, die gesamte Rechenleistung der Bank an einem Ort zu zentralisieren, lief der Betrieb jetzt viel professioneller, sicherer und zuverlässiger ab als vorher. Zudem sparte die Bank jedes Jahr gegen achtzig Millionen an Ausgaben für Rechner und Personal. Vorher waren die Rechenzentren um den ganzen Globus verstreut gewesen: eines in London, eines in Luxemburg, eines nahe Genf. In Singapur und sogar in Sydney hatten sie eines gehabt, weit draussen, versteckt in einem Lagerhaus am Rande einer heruntergekommenen Hafenanlage, die von Immobilienspekulanten noch nicht entdeckt worden war. Die Folge dieser Nicht-Strategie – wie Oliver das nannte – waren unkoordinierte Investitionen und Doppelspurigkeiten zu Hauf. Singapur setzte auf Technologie A, London auf Technologie B. Drei Jahre später war‘s umgekehrt. Alles wurde ständig fortgeworfen und neu gebaut. Dann entwickelte Sydney ein System für den Handel von Währungsoptionen. Nur dumm, dass New York zur gleichen Zeit für viele Millionen ein Programm kaufte, das genau das Gleiche tat. Natürlich war diese Lösung viel besser als jene – oder war es umgekehrt? Je nachdem wem man zuhörte… Diese Streitereien hatten Oliver halb wahnsinnig gemacht. Kein Plan erkennbar! Kein Konzept! Man hätte das Geld auch gleich zum Fenster rauswerfen können!
Und ständig mangelte es an Fachleuten. Von denen, die man hatte, wusste die Hälfte nicht, was sie tat. An den meisten Orten, wo sich die grossen Banken niedergelassen hatten, gab es so etwas wie IT-Nomaden – eine Gruppe von Pseudoexperten aus aller Herren Länder, die im Jahresrhythmus von einer Bank zur nächsten zogen. Immer schön nachdem sie den Bonus für das abgelaufene Jahr kassiert hatten. Die Banken heuerten sie wider besseren Wissens an, denn das Management in den Zentralen hatte Ziele vorgegeben, die es zu erreichen galt. Zwanzig neue Leute hier, fünfzehn zusätzliche da. Schliesslich wollten die Banken wachsen! Man stand im globalen Wettbewerb. Sollte das Feld etwa kampflos den anderen überlassen werden? Den Amerikanern, den Schweizern, den Briten oder – Gott behüte – gar den Chinesen?
Wenn man so vorging, funktionierte natürlich nichts. Laufend gab es Pannen. Wenn man zu wenig gute Leute findet und die Technologie ständig wechselt, muss man sich nicht wundern, wenn’s immer mal wieder knallt. Oliver hatte schon lange genug davon. Und dann, vor ein paar Jahren, kam Oliver diese geniale Idee, wie er diese ständigen Ausfälle für seine Pläne nutzbar machen konnte: nämlich durch Visualisierung. Auf der internen Homepage der Bank liess er rechts oben eine kleine Weltkarte anbringen. Auf dieser Karte blinkte jeweils ein roter Punkt an dem Ort, wo gerade eines der lokalen IT-Systeme ausgefallen war. So konnte jeder einzelne Mitarbeiter der Bank jeden Tag live mitverfolgen, was in der IT gerade schief ging. Und bei einer solch komplexen Infrastruktur mit Tausenden von Systemen ging natürlich immer etwas daneben. Die allermeisten Störungen waren zwar unbedeutend und wurden rasch behoben. Aber durch die Visualisierung auf der Homepage entstand ein ganz anderer Eindruck: Die IT war ein verdammter Saftladen, der dringend aufgeräumt werden musste!
Rückblickend betrachtet war diese einfache Massnahme entscheidend dafür, dass man Oliver endlich ernst nahm. Denn er hatte die Missstände schon lange angeprangert und vergeblich eine neue Strategie propagiert. Er hatte beim höheren Management bei jeder Gelegenheit dafür lobbyiert, die IT endlich zu zentralisieren. Konzentration der Kräfte. Vermeidung von Redundanzen. Synergien. Kurze Entscheidungswege. Klare Verantwortlichkeiten. Kosten senken. Er deponierte diese Schlagworte bei jedem, der in der Bank etwas zu sagen hatte. Aber lange passierte nichts. „Interessant“ und „ich werde darüber nachdenken“ war alles, was er zu hören bekam. Die meisten Banker verstanden nichts von IT und beschäftigten sich höchst ungern mit der Materie. Doch die rot leuchtenden Pannenmeldungen liessen sich nicht mehr so einfach ignorieren. Sie waren schlecht fürs Image – und endlich kam Bewegung in die Sache.
Nicht ohne Widerstände und Kämpfe natürlich. Als Oliver seine Ideen lancierte, war er nur einer von vielen regionalen IT-Managern. Mit der Zeit bekamen seine Kollegen Wind von seinen Plänen, und die meisten von ihnen verstanden sofort, was das bedeutete: das Ende ihrer Karriere! Sie begannen sich lautstark zu wehren. Heftige Diskussionen folgten, die allerdings ganz anders wirkten, als erwünscht. Dass so intensiv gestritten wurde, bewies der obersten Führung, dass an der Sache definitiv was dran war. Nach einer Reihe peinlicher Auftritte regionaler IT-Manager, die sich nicht gewohnt waren, auf den oberen Hierarchiestufen zu argumentieren, setzte sich die Erkenntnis durch, dass man hier tatsächlich ein Problem hatte: nämlich mit Leuten, die ihrer Aufgabe offensichtlich nicht gewachsen waren. Als dann Olivers Kollege in London umschwenkte und verkündete, die Idee sei im Prinzip ausgezeichnet, aber sie müsse selbstverständlich nicht unter Olivers Führung, sondern unter seiner eigenen umgesetzt werden, waren die Würfel gefallen. Jeder hatte nun verstanden, dass etwas geschehen musste. Olivers Konkurrent, ein magerer Glatzkopf, dessen Stimme gerne ins Weinerliche fiel, wenn er nicht sofort bekam, was er wollte, hatte zwar geholfen, die Bank zu einem Entscheid zu zwingen – den Job, auf den er aspirierte, bekam er allerdings nicht. Viel zu spät war er auf den Zug aufgesprungen. Niemand verband seinen Namen mit dem Projekt. Zwei Wochen später, an einem sonnigen Herbstmorgen, standen plötzlich zwei Sicherheitsbeamte in seinem Glasbüro und baten ihn freundlich aber bestimmt, ihnen zu folgen. Noch während sie ihn hinunter auf die Strasse begleiteten, sprach Oliver oben bereits zu seinen Leuten.
Schliesslich hatte die Gegenwehr nachgelassen. Die Manager, die Techniker, die Systemprogrammierer, die Datenbankadministratoren – sie alle verliessen die Bank mit einem hübschen Package unter dem Arm. Die, die etwas konnten, fanden rasch wieder einen Job. Unter dem Strich eine win-win Situation für die Meisten. Zwar gab es Unbelehrbare. Aber Oliver liess sich von ihnen nicht aufhalten. Er hatte noch nie verstehen können, wieso es Menschen gab, die sich mit Zähnen und Klauen gegen etwas wehrten, dass sie sowieso nicht verhindern konnten und von dem sie in vielen Fällen sogar profitierten! Oliver setzte sich mitleidlos durch, und nun war EVEREST – so hatten sie das Projekt passenderweise getauft – fertig gebaut. Zwei Jahre harte, herausfordernde Arbeit, die in einem triumphalen Erfolg resultierten!
Im Aufzug blickte Oliver in den Spiegel und betrachtete sich unter dem fahlen Licht zweier Leuchtstoffröhren: ein Mann, dem man den Erfolg und die Macht ansah! Sauber geschnittenes, grau-meliertes Haar, blaue Augen, die keine Brille benötigten und ein fast perfekter Mund – wenn da nur nicht die leicht hängenden Mundwinkel gewesen wären, die ihn unzufriedener aussehen liessen, als er hätte sein sollen. Sein Blick fuhr weiter nach unten, registrierte zufrieden das kräftige Kinn, übersprang den nicht mehr ganz so straffen Hals, und ruhte dann auf der handgenähten neapolitanischen Krawatte, die er sorgsam zurecht rückte. Auch sein grauer Massanzug sass perfekt. Die Ärmel hatten genau die richtige Länge, so dass am Ende zwei Zentimeter weisse Manschetten hervorschauten. Die Manschettenköpfe waren dezente Exemplare aus Silber, aber nichtsdestotrotz auffällig, da er weit und breit der Einzige war, der solche benutzte. Oliver sammelte Uhren und heute trug er ein besonders schönes Exemplar aus einer Schweizerischen Manufaktur. Weissgold, zwei Zeitzonen, dickes schwarzes Armband aus Echsenleder mit weissgoldener Schnalle. Die Manschette des linken Ärmels war absichtlich zwei Zentimeter weiter geschneidert, damit der Klotz darunter Platz hatte. Halb fünf zeigte die Uhr. Früh für ihn, aber schliesslich hatte er es sich verdient. Er liess die Uhr unter der Manschette verschwinden, während er sich peinlich berührt an eine Begegnung mit seinem Chef, dem Chief Operating Officer der Bank, erinnerte. Anlässlich eines grässlich langweiligen Dinners hatte Oliver ihm nämlich die Uhr und die extra weit geschneiderte Manschette vorgeführt. Er hätte es eigentlich besser wissen müssen, denn sein Vorgesetzter war ein gänzlich unprätentiöser Mann, der wenig Verständnis für solche Eitelkeiten zeigte. Aber Oliver hatte dem Drang nicht widerstehen können. Und so kam es zu dieser Peinlichkeit, die ihm noch immer schwer zu schaffen machte. Nach seiner stolzer Erklärung nämlich, blickte ihn sein Vorgesetzter lange an und sagte dann in einem Anflug tiefer Einsicht: „Jeder muss selber einen Weg finden, um mit seiner Midlife Crisis fertig zu werden. Aber sind Sie sicher, dass Sie noch die richtigen Ziele im Leben haben? Ich mein’s nicht böse. Aber sie haben die letzten zwei Jahre sehr, sehr viel gearbeitet. Vielleicht ist es Zeit, ein wenig Abstand zu gewinnen. Zeit für eine Pause. Gehen Sie in sich, und finden Sie heraus, was Sie im Leben wirklich wollen. Warten Sie damit nicht zu lange!“
Oliver war wie geschlagen. Solche Rede war bei harmlosen Geschäftsessen nicht vorgesehen. Ausserdem: Woher wusste er es? Er fühlte sich durchschaut, denn trotz des riesigen Erfolgs seines Projekts, spürte er tatsächlich so etwas wie eine persönliche Krise und eine Niedergeschlagenheit, die er längst überwunden zu haben glaubte. Oliver hatte so etwas nicht mehr gespürt, seit er als hochbegabter, aber einsamer Teenager, an depressiven Verstimmungen gelitten hatte.
Diesmal hatte es ihn nach einer Sitzung des EVEREST-Steuerungsausschusses erwischt. Zwei Jahre zuvor, als sie das Projekt gestartet hatten, war ihnen das Vorhaben gewaltig komplex und riskant erschienen. Entgegen dem, was sie nach aussen beteuerten, waren sie im Team keineswegs sicher, dass sie erfolgreich sein würden. Zeitweise sahen sie nur noch Probleme und unüberwindbare Schwierigkeiten. Aber am letzten Meeting des Steuerungsausschusses, nach über zwanzig Monaten Arbeit, wurde klar, dass sie alle ernsthaften Schwierigkeiten gemeistert hatten. Sie waren auf die Zielgerade eingebogen, wie sie das in ihrem Slang nannten. Man diskutierte zwar noch dieses und jenes Problem, aber plötzlich war allen Teilnehmern bewusst, dass sie nun nichts mehr würde aufhalten können. Sie würden das Ziel erreichen. Sie würden siegen! Für alle wesentlichen Probleme waren Lösungen gefunden. Gegen Ende der Sitzung begannen sich die Manager und Techniker zu entspannen, machten Witze und lachten leise. Man schüttelte Hände und Oliver hörte mehrmals das Wort „Gratulation.“
Nachdem sich die Versammlung spätabends aufgelöst hatte, schlich sich Oliver in eine verlassene Pausenzone, wo er sich am Automaten einen Kaffee rauslassen wollte. Doch er stand nur da und vergass sogar, die Münze einzuwerfen. Stattdessen starrte er durch ein grosses Fenster nach draussen in die Dunkelheit. Ein müdes Gesicht spiegelte sich im Glas. Er vergass die Zeit und wusste schliesslich nicht mehr, wie lange er dort gestanden hatte. Aus dem Nichts hatte ihn ein Gefühl tiefer Schwermut erfasst. Er versuchte das Gefühl zu verscheuchen, aber es verging viel Zeit bis er wieder klar denken konnte und bis er verstand, was die Ursache seines Anfalls war. Dabei war die Sache klar: Er hatte von jetzt an kein Ziel mehr. Keinen Grund mehr, jeden Morgen mit Energie aufzustehen und zwölf, vierzehn oder sechzehn Stunden hart zu arbeiten. Die Sache war gelaufen. Es brauchte ihn nicht mehr. Dieser Gedanke, den er bis jetzt immer verdrängt hatte, stieg diesmal unbezähmbar in ihm hoch. Er war auf dem Gipfel angekommen. Oder genauer: Er sah den Gipfel vor sich, das Wetter war gut, der Weg klar und nichts konnte ihn daran hindern oben anzukommen. Aber was kam danach? Er sah keinen Weg, der ihn noch weiter nach oben führen würde. Von nun an ginge es nur noch hinunter. Der Sinkflug seiner Karriere würde bald beginnen. Dafür war er jedoch in keiner Weise bereit! Er fühlte sich stark und voller Energie – sein Aufstieg konnte und durfte noch nicht zu Ende sein! Er versuchte an etwas anderes zu denken, aber es misslang. Oliver fluchte über sich selber. Er glaubte, der einzige Mensch auf der Erde zu sein, der in der Lage war, an einer Art antizipierter postkoitaler Depression zu leiden. Er hätte damit wenigstens warten können, bis das Ziel tatsächlich erreicht war und EVEREST den Betrieb aufgenommen hatte. Und das Allerschlimmste war, dass sein Chef seine Gefühlswallungen offenbar mitbekommen hatte. Es gab wenig, das er mehr hasste, als wenn andere Menschen seine Schwächen durchschauten!
Endlich war der Aufzug oben angekommen. Mit raschen Schritten durchquerte Oliver die grosse Eingangshalle.
Draussen blinzelte er in das grelle Licht der Abendsonne und ignorierte die eisige Kälte, die den kommenden Winter ankündigte. Als er zu seinem Auto lief, blickte er kurz zurück und sah wie sich die letzten Strahlen der Sonne in der spektakulären Glasfassade des Rechenzentrums reflektierten. Das Gebäude sah aus wie ein gewaltig grosser Bergkristall, den ein gigantischer Gletscher vor einer Million Jahren hier abgelegt hatte. Auch das ein Meisterstück des Architekten, das Sicherheit und Beständigkeit suggerierte. Wieder fühlte er sich stolz wie ein kleiner Junge – doch als er sich von der grossartigen Kulisse abwandte, kippte seine Stimmung zurück ins Negative. Auf der anderen Seite, am entfernten Ende des Parkfeldes, sah er ein schändlich verwahrlostes Auto stehen, dass sein Besitzer bestimmt nur zum Zweck dahin gestellt hatte, ihn zu ärgern. Die rostbraune Klapperkiste gehörte Moses Finkelstein. Ausgerechnet Moses, dachte Oliver. Vor dem Wochenende! Das Bild eines zornigen alten Mannes stieg vor ihm auf, eines Mannes, der aussah wie Gott Vater auf einem spanischen Barockgemälde. Silbrig-graue Löwenmähne, weisser Bart, kräftige Schultern und eine aufrechte Haltung, die sein Alter leugnete. Der Name Moses beschrieb ihn ziemlich treffend. In der Bank war er eine Legende, ein Mann, der ein Jahrzehnt lang die Gesetze der IT diktiert hatte. Er war der Architekt der Kernsysteme, auf denen die wichtigsten Geschäfte der Bank abgewickelt wurden. Moses hatte festgelegt, auf welchen Maschinen welche Programme liefen, wo die Schnittstellen lagen, welche Datenbanken zu verwenden waren und wie die Systeme miteinander zu kommunizieren hatten. Er wachte darüber, dass die Programmierer keine Abkürzungen wählten, die zwar schnell realisierbar waren, dafür aber später zu Problemen in der Wartung führen würden. Er wurde bewundert und gefürchtet. Seine Urteile waren von schneidender Präzision, und er fällte sie ohne Rücksicht auf die Befindlichkeit einzelner, wo auch immer diese auf der Hierarchieleiter stehen mochten. Doch Moses‘ beste Zeiten lagen weit hinter ihm. Als die Bank beschloss zu expandieren und damit begann, auf der ganzen Welt andere Banken aufzukaufen, verlor er immer mehr an Einfluss. Die IT-Systeme der gekauften Banken mussten übernommen werden – typischerweise unter grösstem Zeitdruck. Ob dabei alles bis ins letzte Detail durchdacht wurde, war dabei nebensächlich. Aber Moses wollte die geforderten Kompromisse nicht eingehen. Man machte es entweder richtig oder gar nicht. Er warnte, er verhinderte und er verzögerte. Man schätzte zwar die Qualität seiner Arbeit, aber wenn Moses das Sagen hatte, schien alles plötzlich in einem Morast von Details festzustecken. Nichts ging vorwärts. Und plötzlich hiess es überall: „Der Mann hat keine Visionen! Es fehlt die Perspektive!“
Damit war er erledigt. Die Bank war ehrgeizig und wollte wachsen. Dabei waren Leute mit der falschen Perspektive nicht zu gebrauchen. Moses kam aufs Abstellgleis. Andere wurden befördert, zuerst auf die gleiche Stufe, dann überholten sie ihn. Moses hielt sich zurück, schaute nach seinem eigenen kleinen Reich und liess die anderen machen. Das Kämpfen lag ihm nicht besonders, obschon seine Löwenmähne und sein gelegentlich zorniger Blick etwas anderes suggerierten.
Erst als Oliver damit begann, dafür zu werben, die ganze IT zu zentralisieren, stand Moses – für alle überraschend – plötzlich auf und protestierte. Er liess es nicht an Klarheit fehlen. Er sprach von Wahn und von einem Monster, das man hier bauen würde. Alles schön und gut, solange die Dinge liefen wie geplant, aber wehe, es ginge mal etwas schief! Kein Mensch würde mehr verstehen, was hier eigentlich ablief. Hunderttausende Programme würden sich die Hardware teilen und die Programme hätten Zehntausende von Abhängigkeiten untereinander. Wo sollte man eingreifen, falls es ein Problem gäbe? Man würde hier an einer Schraube drehen und drüben würde es krachen. Niemand würde das Gesamte verstehen, niemand würde die Bestie noch zähmen können.
In zahllosen Sitzungen versuchte Oliver Moses geduldig zu bearbeiten und seinen Widerstand sanft zu brechen. Für ihn war Moses schlicht ein Ungläubiger, den es mit positiven Botschaften zu bekehren galt. Er hatte nur das Licht noch nicht gesehen! Denn Oliver sah nicht nur das finanzielle Potential und den Schub für die eigene Karriere, nein, er glaubte wirklich daran, dass das neue zentrale Rechenzentrum sicherer, besser und zuverlässiger sein würde, als alles was sie vorher hatten.
„Moses, hör zu! Da wird nichts passieren! Alles ist doppelt und dreifach ausgelegt. Die neuste und beste Technologie. Die besten Leute. Genug Geld. Da kannst du eine Bombe drauf werfen und das Ding wird fröhlich weiter drehen!“
Doch Moses blieb unbeeindruckt. Oliver begann zornig zu werden. Manchmal hatte er das Gefühl, Moses ginge es gar nicht mehr um die Sache. Der grosse, überlegene Moses bewies sich, indem er der Mode nicht folgte. Er wollte der ganzen Welt zeigen, dass er resistent gegen den Trend war. Und mit der Zeit setzte sich diese Sicht auf Moses Wesen durch. Kollegen in seinem direkten Umfeld rieten ihm, es auch einmal gut sein zu lassen. „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.“ Aber es nützte nichts. Also befahl man ihm die Klappe zu halten. Moses jedoch weigerte sich und mobilisierte seine Beziehungen aus den Tagen, als die Bank noch viel kleiner war und beinahe jeder jeden kannte. Seine Freunde versuchten zu vermitteln, einen Kompromiss zu finden. Aber den konnte es natürlich nicht geben. Entweder dezentral oder zentral. Eine Mischung war das schlechteste aus beiden Welten, da war man sich bald einig. Die Diskussionen zogen sich hin, doch dann ging alles ganz schnell. Es kam zu einem unerfreulichen Showdown vor der versammelten Führung. Oliver fuhr eine Armee von Beratern und Experten auf, Moses war alleine. Er wurde zwar angehört, aber natürlich ging er unter. Und zwar ohne die sprichwörtlichen fliegenden Fahnen. Still und leise. Die Meinungen waren gemacht. Kein Mensch mochte auf die gesparten Millionen verzichten. Schliesslich war jeder gesparte Dollar ein Dollar mehr Gewinn. Diejenigen, die die Zeichen der Zeit nicht erkannt und Moses die Stange gehalten hatten, wurden zu einem spontanen Treffen mit einem höheren Personalverantwortlichen eingeladen, an dem ihnen dieser strahlend mitteilte, dass man dem dringenden Wunsch des Mitarbeiters, mehr Zeit mit der Familie zu verbringen, nun endlich nachkommen könne.
Auch Olivers direkter Vorgesetzter zu dieser Zeit, der immer darauf gepocht hatte, dass man einen Kompromiss finden müsse, kam in den Genuss eines solchen Gesprächs. Oliver wurde noch am selben Tag zu seinem Nachfolger ernannt.
„Wissen Sie was Ihr Problem ist, Oliver?“ fragte sein Vorgänger, als er ihm das Büro übergab. Oliver sah ihn höflich an. „Sie sind in ihrem Leben nie auf die Schnauze gefallen – passen Sie nur auf, dass Sie’s jetzt nicht tun!“
Bei diesen Worten war er unangenehm nah an Oliver herangetreten. Nach einem Moment aggressiven Schweigens drückte er Oliver schliesslich die Schlüssel zum Büro in die Hand und verliess die Bank für immer.
Moses hingegen, der nicht gewillt war, die grosszügige Entschädigung anzunehmen, die man ihm anbot, wurde in einer ruhigen Ecke kalt gestellt. Er korrespondierte mit Universitäten, er entwarf Systeme, die nie gebaut wurden, und er produzierte tiefschürfende Papiere, die niemand las. Und jeden Freitag parkte er seine verdammte Dreckskarre so, dass sie Oliver sehen musste, bevor er ins Wochenende fuhr.
Oliver schüttelte sich. Als er endlich vor seinem Audi stand, atmete er tief durch. Solche Projekte sind wie Krieg. Da durfte man nicht zimperlich sein. Er würde lernen müssen, seine Wunden mit Stolz zu tragen. Dann stieg er ins Auto. Seine Stimmung hellte sich auf. Seine schöne junge Freundin hatte bestimmt Pläne. Wahrscheinlich würden sie in die Stadt fahren, ins Kino oder Museum gehen oder irgendwelchen Unsinn machen, so wie vor einer Woche, als sie zu einem einsamen Strand gefahren waren, wo sie sich auszogen und sich in den eisigen Atlantik stürzten. Sie lachten und schrien wie kleine Kinder. Dann rannten sie den Strand entlang und spielten Fangen. Schliesslich stiegen sie erschöpft in den Wagen, die Kleider notdürftig um sich geschlungen und fuhren schlotternd nach Hause. Dort verbrachten sie den Rest des Tages im Bett, wo sie mit allerlei Methoden versuchten, sich wieder aufzuwärmen.
Er startete den Motor, lauschte einen Augenblick dem Blubbern der acht Zylinder und brauste dann den Hügel hinunter in einen entspannten Abend.