Читать книгу Kartellrecht und Ökonomie - Dirk Uwer, Daniel Zimmer - Страница 58
ι) Zweiseitige Märkte
ОглавлениеWendet man den hypothetischen Monopolistentest auf zweiseitige Märkte an, so ist zu berücksichtigen, dass sowohl die absolute Preishöhe als auch die Preisstruktur, d.h. die Preise, die von den jeweiligen Marktseiten erhoben werden, bei der Beurteilung einer profitablen Preiserhöhung von zentraler Bedeutung sind. Es stellt sich die Frage, was bei einem zweiseitigen Markt unter einer kleinen, aber signifikanten und nicht nur vorübergehenden Preiserhöhung verstanden werden soll. In diesem Zusammenhang sind mehrere Möglichkeiten denkbar: Eine Preiserhöhung des Gesamtpreises ohne Änderung der Preisstruktur oder eine optimale Erhöhung des Gesamtpreises mit oder ohne Anpassung des anderen Preises.124
In diesem Zusammenhang wurde vorgeschlagen, zwischen zweiseitigen Märkten mit beobachtbaren Transaktionen (wie z.B. bei Zahlungen mit Kreditkarten oder anderen Zahlungssystemen) und solchen mit nicht beobachtbaren Transaktionen (wie z.B. werbefinanzierten Medien) zu unterscheiden. Im ersten Fall ist es sinnvoll, den Gesamtpreis zu erhöhen und gleichzeitig die Preisstruktur optimal anzupassen. Im zweiten Fall wäre die Erhöhung eines Preises bei Anpassung des anderen vorzuziehen, da bei einer solchen sequentiellen Vorgehensweise die Substitutionsmöglichkeiten der Konsumenten besser berücksichtigt werden können.125 Ungeachtet der beiden unterschiedlichen Markttypen wird eine Preiserhöhung zu Wechselwirkungen zwischen den Nachfragergruppen führen, die eine solche Maßnahme unprofitabel machen können. Diese Effekte müssen bei der Anwendung des hypothetischen Monopolistentests berücksichtigt werden. Weiterhin muss in Rechnung gestellt werden, dass Konsumenten auf Substitute ausweichen werden, die entweder von anderen Plattformen oder von „einseitigen“ Unternehmen angeboten werden.126 In diesem Zusammenhang ist es von entscheidender Bedeutung, dass beide Marktseiten berücksichtigt werden. Die Wechselwirkungen zwischen den beiden Nachfragergruppen können so erheblich sein, dass das Substitutionsverhalten einer dieser Gruppen bereits ausreicht, um eine solche Preiserhöhung unprofitabel zu machen. Es kann jedoch auch der Fall eintreten, dass eine Preiserhöhung sich erst dann als unprofitabel erweist, wenn das Substitutionsverhalten beider Nachfragergruppen in Rechnung gestellt wird.
Noch problematischer ist eine Marktabgrenzung in Situationen, in denen die Nutzer auf einer Marktseite die Leistungen unentgeltlich, d.h. zu einem Preis von Null, erhalten, wie das beispielsweise bei Suchmaschinen oder sozialen Netzwerken der Fall ist.127 Hier ist nicht klar, wie der hypothetische Monopolistentest sinnvoll angewandt werden kann – eine Preiserhöhung von 5 % bis 10 % eines Preises von Null ist ebenfalls Null. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass eine Marktabgrenzung mittels des hypothetischen Monopolistentests preisbasiert ist – dadurch bleiben andere Dimensionen des Wettbewerbs, wie z.B. die Qualität, die Breite des Angebots oder die Innovationstätigkeit, unberücksichtigt. Alternative Vorschläge zur Marktabgrenzung in zweiseitigen Märkten mit unentgeltlichen Leistungen stellen allerdings auch keine überzeugenden Lösungen dar. Hier ist beispielsweise der SSNIC-Test (Small but Significant Nontransitory Increase in Cost) zu nennen, bei dem nicht der Preis erhöht wird, sondern andere Kosten für den Nutzer, wie z.B. eine größere Werbefläche oder eine längere Darstellung der Werbung.128 Alternativ wurde der SSNDQ-Test (Small but Significant Non-transitory Decrease in Quality) vorgeschlagen, bei dem die Qualität des Angebots reduziert wird.129 Allerdings ist Qualität nur schwer zu messen und ist häufig subjektiv. Außerdem ist nicht klar, wie eine Veränderung in der Qualität des Ergebnisses einer Suchanfrage quantifiziert werden könnte. Zudem stellt sich bei allen genannten Tests das Problem der Datenverfügbarkeit. Diese Vorschläge, auch wenn sie auf konzeptioneller Ebene ökonomisch sinnvoll sein mögen, sind daher in der Praxis äußerst schwierig umzusetzen.
Insbesondere in der digitalen Ökonomie ist seit einigen Jahren eine Entwicklung zu verzeichnen, die es schwer macht, klar definierte traditionelle Märkte zu identifizieren, auf denen mehr oder weniger homogene Güter wie Zement, Glas oder Stahl gehandelt werden. Digitale Unternehmen haben ihre Angebote zu ganzen „Ökosystemen“ ausgebaut, die eine Vielzahl von komplementären Produkten umfassen. Diese Unternehmen haben ein Interesse daran, Kunden in ihrem Ökosystem zu halten und zu verhindern, dass sie zu einem anderen System wechseln. Häufig gibt es verschiedene Ökosysteme, in denen Plattformen mit Produktbündeln konkurrieren, wie z.B. bei den Betriebssystemen für intelligente mobile Geräte und den jeweiligen App-Stores. A priori ist dies nicht notwendigerweise problematisch, denn es lässt sich zeigen, dass unter bestimmten Bedingungen der Wettbewerb zwischen Unternehmen, die mit Produktbündeln konkurrieren, intensiver sein kann, als wenn die Unternehmen ihre Produkte jeweils separat anbieten würden.130 Es kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass unter anderen Bedingungen der Wettbewerb durch solche Bündelungs- und Kopplungsstrategien verringert würde und dass dadurch auch erhebliche Marktzutrittsschranken entstehen.
Im wissenschaftlichen Schrifttum ist vorgeschlagen worden, in der digitalen Ökonomie statt sachlich und räumlich relevanter Märkte im üblichen Sinne einen Markt für die knappe Ressource der Aufmerksamkeit der Nutzer zu definieren.131 In einem solchen Markt konkurrieren alle Arten von Medien um die Aufmerksamkeit der Nutzer und Plattformen agieren dort als „Aufmerksamkeitsbroker“. In Fusionsfällen könnte sich ein solches Marktkonzept als hilfreich erweisen, da viele Zusammenschlüsse als horizontal aufgefasst werden müssen, da sie im gleichen relevanten Markt, dem für Aufmerksamkeit, stattfinden. Andererseits dürfte die Verwendung eines so weit gefassten Konzepts eines relevanten Marktes zu so geringen Marktanteilen der Unternehmen führen, dass selbst Plattformen wie Facebook oder Google auf diesem Markt vermutlich nur vergleichsweise geringe Marktanteile hätten, denn sie konkurrieren ja mit allen anderen Medien. Damit die Fusionskontrolle in diesen Fällen also überhaupt wirksam werden kann, müssten innerhalb eines großen „Aufmerksamkeitsmarktes“ Teilmärkte für bestimmte Arten von Aufmerksamkeit definiert werden – ein Streaming-Dienst wie Netflix würde dann nicht mehr direkt mit sozialen Netzwerken konkurrieren, sondern mit anderen Anbietern visueller Unterhaltung wie Filmen und Serien wie Amazon Prime, AppleTV oder Magenta. Dann wäre man jedoch im Grunde wieder in der gleichen Situation wie ohne das Konzept eines Aufmerksamkeitsmarkts.
Bei der Abgrenzung von zwei- und mehrseitigen Märkten treten also zahlreiche Probleme auf, die in der Praxis nur schwer und zumeist nur mithilfe heroischer Annahmen zu lösen sind. Es könnte sich daher, ähnlich wie bei Märkten mit differenzierten Produkten, als sinnvoll erweisen, auf eine Marktabgrenzung als ersten Schritt einer wettbewerblichen Untersuchung zu verzichten und sich stattdessen auf eine ökonomisch fundierte Abschätzung der Auswirkungen eines Zusammenschlusses zu konzentrieren. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass die Marktabgrenzung kein Selbstzweck ist, sondern lediglich ein Instrument und Werkzeug zur Feststellung von Marktmacht. Wenn dieses Instrument sich in bestimmten Situationen als wenig geeignet erweist, wie z.B. bei der Analyse von Märkten mit differenzierten Gütern oder von zwei- oder mehrseitigen Märkten, in denen Unternehmen mit ganzen Ökosystemen von Produkten und Dienstleistungen miteinander konkurrieren, dann ist zu überlegen, ob nicht auf eine Abgrenzung des relevanten Marktes verzichtet werden kann und das Augenmerk auf die Frage gerichtet wird, ob durch einen Zusammenschluss eine marktbeherrschende Stellung entsteht oder verstärkt wird.
Dieser Vorschlag ist bereits seit längerer Zeit im Schwange, hat aber insbesondere in Bezug auf zweiseitige Märkte an Bedeutung gewonnen, da sich hier die Abgrenzung des relevanten Marktes häufig als komplex und schwierig erweist. Dabei könnte zumindest rechtlich die Möglichkeit eröffnet werden, eine Fusion einer näheren Prüfung unterziehen zu können, bevor in einem ersten Schritt ein Markt abgegrenzt und die Marktanteile bestimmt worden sind.132 Dies steht im Einklang mit den Empfehlungen, die in einigen neueren Untersuchungen zur Wettbewerbspolitik in der digitalen Ökonomie geäußert wurden. Im Bericht von Crémer et al. (2019) für die europäische Kommission heißt es: „Therefore, we argue, that in digital markets we should put less emphasis on analysis of market definition, and more emphasis on theories of harm and identification of anticompetitive strategies.“133 Der als Stigler-Report bekannte Bericht ist noch expliziter: „Where there is direct evidence of harm to competition, antitrust law should not require circumstantial evidence via a defined relevant market.“134 Eine Untersuchung braucht daher nicht mit der Definition des relevanten Marktes zu beginnen, sondern mit dem Nachweis, dass aufgrund des Zusammenschlusses mit einer erheblichen Beschränkungen des wirksamen Wettbewerbs gerechnet werden muss.