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4. Flucht in eine neue Welt
ОглавлениеSeit dem Unfall am Fluss waren inzwischen schon zwei Monate vergangen. Weder Jessica noch Eric hatten ein Wort über ihren Retter verloren, daher atmeten Steven und Kristina langsam auf. Sie hatten Gaagi gern und wollten nicht, dass er eingesperrt würde. Jessica war seit dem Unfall deutlich freundlicher als früher zu Kristina, immer mal wieder verbrachten die beiden so unterschiedlichen Mädchen Zeit miteinander. Die Rothaarige brachte Kristina das Lesen bei, während Kristina ihr zeigte, wie man mit verletzten Tieren umging. Gemeinsam versorgten sie einen Hasen, den sie mit einem gebrochenen Bein in der Nähe des Flusses gefunden hatten. Er war noch sehr jung und es gelang ihnen, das Tier zu zähmen, sodass sie ihn in einem Gehege halten konnten, das von Steven gebaut wurde. Sie setzten ihn zu den anderen Hasen, die seit etwa acht Wochen bei ihnen lebten, so konnten sie züchten und immer wieder Fleisch bekommen. Hühner hatten sie bereits in einem eingezäunten Bereich im Garten, die lieferten Eier und ab und zu auch Fleisch. Nach und nach bemerkte die Heimleiterin, dass Kristina sich wohler fühlte als noch einige Wochen zuvor. Offensichtlich hatte sie eine Freundin wie Jessica gebraucht. Mrs. Duncan sorgte daher dafür, dass sie in nebeneinander stehenden Betten schliefen und freute sich darüber, dass Kristina nun mehr Zeit im Haus mit den anderen Kindern verbrachte, nicht mehr so oft im Garten oder gar im Wald schlief. Vielleicht lag es auch daran, dass einige der älteren Kinder nun weg waren und so wieder jedes Kind ein eigenes Bett hatte.
Kristina allerdings schlich sich immer wieder davon und verbrachte Zeit mit dem geheimnisvollen Indianer, der ihr Legenden seines Volkes erzählte. Dabei folgte ihr der schwarze Rabe stets. Steven hatte es ein paar Mal mitbekommen, dass sie dort war und ihr nur gesagt, sie solle Raven einen schönen Gruß ausrichten. Noch immer hatte sie das Messer, hatte es geschickt versteckt, damit niemand es sah. Oft verbrachte sie ganze Tage bei den Diné, wie die Navajo sich selbst nannten, was bei anderen Kindern zu Fragen geführt hätte, aber da Kristina häufiger ganze Tage mit irgendwelchen Tieren im Wald spielte, fiel es niemandem auf. Beim ersten Mal waren die Indianer erschrocken, hatten sich erst wieder beruhigt, als Stunden später noch immer niemand gekommen war. Sie hatten ihr Essen und Wasser gegeben, mit ihr gesprochen, zumindest einige von ihnen. Nicht alle konnten Englisch, daher hielt sich Kristina an Gaagi, Sáni, Ma’ee und Shadi. Sie erzählten ihr Geschichten aus ihrem Stamm.
Als sie jedoch, etwa drei Wochen, nachdem sie die Indianer zum ersten Mal getroffen hatte, eine erneute Vision hatte und sie in eine andere Richtung schicken wollte, protestierten einige der Männer, allen voran ein Mann Mitte 30 namens K’ai. Shadi übersetzte für Kristina, als er sich dem Häuptling widersetzte. „Wir Diné haben noch nie Frauen oder gar Mädchen mit auf die Jagd genommen.“, schimpfte er. „Warum sollen wir jetzt damit anfangen? Es bringt Unglück.“ Scheinbar stimmten zwei weitere Krieger ihm zu, jedenfalls standen sie an seiner Seite.
Ma‘ee mischte sich ein. „Lasst uns sehen, ob es stimmt.“, schlug er vor. „K’ai, du gehst mit Manaba und Gad zu unserem alten Jagdgebiet und siehst nach, ob Yas Recht hat. Gaagi führt die anderen Jäger dorthin, wo uns das Mädchen schickt und wir sehen, was passiert.“
„Gaagi, dort werdet ihr auf Soldaten treffen, aber wenn ihr in Richtung der Mooney-Falls geht, werdet ihr Jagdglück haben.“, hatte sie einige Minuten zuvor prophezeit.
Ungläubig starrten die Männer sie an, bis auch Sáni entschied, das Risiko einzugehen, es könnte sicher nicht schaden. Der Häuptling stimmte den beiden Ältesten zu. Gaagi schickte zwei erfahrene Krieger mit K’ai zusammen in die ursprünglich geplante Richtung. Tatsächlich fanden sie dort Spuren von Soldaten und hörten sie sogar. Danach folgten sie ihren Ratschlägen etwas weniger skeptisch, vor allem, da die anderen Männer tatsächlich reiche Beute mitbrachten, zwei Rehe und mehrere Hasen. Kristina mochte die Männer und Frauen, auch wenn sie nicht alle verstand.
In den letzten Tagen war sie wieder da gewesen und hatte die Unruhe des Stammes gespürt. Die Männer hatten in ihrer Sprache diskutiert, aber niemand hatte ihr dieses Mal übersetzt. Alle waren immer wieder aufgesprungen, wo sie sonst ruhig und abwartend am Feuer saßen. Die Frauen hatten viel gearbeitet an den Häuten, neue Kleidung und Schuhe hergestellt, außerdem die Zelte ausgebessert und Decken gewebt. Die Männer hatten auf verschiedenen Wegen Wolle besorgt, von anderen Stämmen oder gar aus dem Reservat. Kaum jemand hatte auf sie geachtet. Was nur war los? Auch sie selber fühlte, dass eine Änderung bevorstand. Immer wieder hatte sie so seltsame Ahnungen, und meistens passierte hinterher etwas. Aber sie konnte es selten genauer bestimmen. Heute drängte sie alles dazu, zu Gaagi und seinen Freunden zu gehen. Dort würde heute etwas passieren und sie musste ihnen einfach helfen.
Leise schlich Kristina nach dem Frühstück nach draußen. Eigentlich sollte sie heute mit den anderen Mädchen im Garten helfen, das erste Obst und Gemüse zu ernten. Jetzt im Sommer war immer viel zu tun, das Waisenhaus versuchte, so weit wie möglich auf eigenen Beinen zu stehen, unabhängig zu sein. Der Garten vor dem Haus war voll mit Tomatensträuchern, Bohnen, Erbsen, Mais, Kartoffeln, Zwiebeln, Gurken und Karotten. Auf der anderen Seite des Hauses wuchsen verschiedene Obstbäume. Sogar einige Felder mit Getreide und weiterem Gemüse waren angelegt. Doch an diesem Tag würde Kristina nicht helfen. Ungesehen kam die Achtjährige aus dem Haus und verschwand im Wald. Wie immer trug sie keine Schuhe, nur eine Leggins und eine Tunika. Das Messer steckte in ihrem Gürtel, der nur aus einem Stoffstreifen bestand. Ihre langen Haare flatterten hinter ihr her, als sie zwischen den Bäumen hindurch in Richtung Wasserfall rannte.
Sie brauchte nicht lange, um die Zelte der Indianer zu erreichen. Gaagi, der Wache hielt, sah sie als Erster und freute sich über ihren Besuch. Sie hatte das Eis gebrochen, das er um sich herum aufgebaut hatte. Seit Jahren hatte er niemanden mehr an sich heran gelassen, dieses kleine Mädchen schaffte es spielend, die Mauern einzureißen, die ihn von den anderen Menschen getrennt hatten. Mit denen er sich selber von den anderen Menschen getrennt hatte.
Wie immer begrüßte sie ihn mit einer kurzen Umarmung. Bei den meisten Menschen konnte er so eine Berührung nicht ertragen, nur Shadi durfte ihm noch so nahe kommen. Die Kleine war besonders. Doch heute war sie unruhig, konnte nicht stillsitzen, hörte nicht einmal zu, als er erzählte, obwohl sie sonst nicht genug davon bekommen konnte. „Yas, was ist los?“, fragte er daher nach einer Weile.
„Gaagi, ich weiß es nicht. Etwas passiert heute. Ich kann es spüren, aber nicht mehr.“, antwortete das Mädchen leise.
„Wenn dein Gespür dir das sagt, dann wird es stimmen.“, wandte Sáni ein. Er kannte das Mädchen nun seit einigen Wochen und wusste, dass sie eine besondere Gabe hatte. Auch er selber hatte manchmal Ahnungen, die weit über das jahrelang angesammelte Wissen hinausgingen, aber so konkret wie bei diesem jungen Mädchen war es bei ihm nie.
„Was sagt dir dein Gefühl?“, fragte Ma’ee. Auch er kannte die Kleine nun schon eine Weile und wusste, dass man sich auf ihr Gespür verlassen konnte. Die beiden Männer, die Ältesten der letzten freien Navajo, saßen zusammen mit Gaagi und Yas am Feuer. Normalerweise wäre es undenkbar für sie, eine Frau oder gar ein Mädchen an ihrem Feuer sitzen zu lassen, aber bei Yas war es anders. Alle Männer, die mit ihnen unterwegs waren, wussten es, auch wenn es nicht alle zugaben und teilweise sogar Streit deshalb entstand. Doch da Gaagi, Sáni und Ma‘ee es so entschieden hatten, saß das Mädchen nun mit ihnen am Feuer. Kristina, oder Yas, wie sie von den Navajo genannt wurde, war anders und wichtig für sie.
„Ihr müsst gehen.“, antwortete Yas schlicht. „Ich zeige euch den Weg, damit sie euch nicht mehr finden.“ Wieder sprach sie so abwesend, wie sie es oft tat, wenn sie ihre ‚Prophezeiungen‘ sprach. Meist betrafen diese das Wetter oder die Jagd, aber immer war es richtig, was sie sagte. Die drei Männer am Feuer tauschten einen kurzen Blick, dann standen sie auf. Innerhalb von nur wenigen Minuten hatten sie ihre Leute zusammengerufen und begannen, den Platz zu räumen. Die Zelte wurden abgebaut und auf den Wagen gelegt, die Feuer gelöscht und die Stellen getarnt, indem die zuvor ausgehobene Erde wieder vorsichtig an die alten Plätze gelegt wurde. Eine halbe Stunde später zeugte nur das niedergetretene Gras noch davon, dass hier eine Gruppe Menschen über zwei Monate gelebt hatte. Nur K’ai protestierte erneut, doch die Gefahr war auch für die Männer spürbar, daher packte er, genau wie alle anderen, mit an.
Kristina hatte sich so gut es ging an den Arbeiten beteiligt, schien schnell zu erkennen, was zu tun war und was sie schaffte oder nicht. Sie hielt sich dabei immer in der Nähe von Gaagi auf, diese beiden verband eine seltsame Freundschaft. Beide waren immer ein wenig abseits von Anderen, hielten ihre Mitmenschen mehr oder weniger bewusst auf Abstand. Und doch zog es sie immer wieder zueinander hin. Als würde etwas sie verbinden, von dem sie keine Ahnung hatten. Gaagi war nicht immer so gewesen. Früher war er offen und fast immer fröhlich auf seine Mitmenschen zugegangen, doch dann hatte das Schicksal ihn hart getroffen und er hatte sich zurückgezogen. Kristina hingegen war schon immer eine Einzelgängerin, auch wenn sie es lieber anders gehabt hätte. Doch die anderen Kinder im Waisenhaus schnitten sie, bei gemeinsamen Spielen war sie meist ausgeschlossen oder nur dabei, wenn die Erwachsenen die anderen Kinder dazu zwangen, sie mitmachen zu lassen.
Shadi beobachtete die beiden, so oft sie die Gelegenheit dazu hatte. Yas erinnerte sie ein wenig an SIE. Da Shadi fast sechzehn Sommer älter als ihr Bruder war – sie hatte noch zwei weitere Brüder gehabt, die in den Krieg gegen die Soldaten gezogen und nie wieder zurückgekommen waren – hatte sie ihn mehr oder weniger aufgezogen, denn ihre Mutter hatte damals die schwere Geburt nur mit viel Können ihres Medizinmannes überlebt, war aber dann ein Jahr später doch gestorben. Shadi hatte es übernommen, ihren Bruder großzuziehen. Die beiden anderen Brüder waren zu der Zeit schon fast Männer gewesen, um die hatte sie sich nicht kümmern müssen. Und jetzt gab es nur noch sie beide. Eine Zeitlang war es anders gewesen, Gaagi hatte jemanden an seiner Seite gehabt, doch das Schicksal hatte es anders gewollt. Vielleicht hatte das Schicksal nun ein Einsehen mit ihrem Bruder und schenkte ihm Yas. Nicht als Partnerin, aber vielleicht als Familienmitglied.
„Gehen wir.“, entschied in diesem Moment Sáni, der als Ältester das Sagen hatte. Sie wollten in Richtung Norden ziehen, da es dort die meisten Versteckmöglichkeiten gab. Außerdem war es nahe ihrer alten Heimat, dort kannten sie sich relativ gut aus, auch wenn sie nicht nahe genug an ihr Heimatdorf herankonnten, da dort immer noch die Soldaten waren. Eigentlich wollten sie ihren Weg am liebsten frei kämpfen, aber dafür waren sie zu wenige, die Soldaten in der Überzahl. Nicht einmal wenn es jemand schaffen könnte, die Indianer alle zu einen, wären sie den weißen Soldaten gewachsen, die waren einfach zu viele.
„Bitte, nicht dahin!“, widersprach Yas. „Folgt mir, dort werden eure Feinde nicht suchen!“
„Yas, der Weg, den du gehen willst, führt genau in den Ort!“, warnte Sáni, als sie losging. Auch wenn er ihr vertraute, diese Entscheidung war schwerwiegender als eine Jagd. „Dort werden uns die Soldaten am schnellsten finden.“
„Gehen wir nach Norden, wie zuerst geplant!“, appellierte K’ai. Die Männer schienen gespalten, blickten abwechselnd auf Gaagi, der nachdenklich wirkte, und auf K’ai, dem man den Widerwillen richtiggehend ansah.
„Ich will nicht in den Ort. Mein Gefühl sagt mir, wir müssen ein Stück in diese Richtung. Ich weiß nicht, was uns da erwartet, aber ich spüre, dass wir dorthin müssen. Der Rabe zeigt mir den Weg.“, erwiderte Kristina und deutete auf den schwarzen Raben, der weit oben am Himmel flatterte.
In diesem Moment verfinsterte sich der Tag. Obwohl der Himmel wolkenlos war, lag ein Schatten auf der Sonne. Gaagi wurde blass. „Wenn der Lauf der Sonne unterbrochen wird, dann solltest du die Deinen in Sicherheit bringen. Wenn die Mooney Falls golden sich färben, dann schreiten wir in eine andere Welt.“, zitierte er leise die Aussage von Yas, die sie bei ihrem ersten Treffen gemacht hatte. Er straffte sich und traf eine Entscheidung. „Gehen wir zu den Wasserfällen. Wenn sie sich golden färben, dann folgen wir Yas.“ Da Gaagi der Sohn des früheren Häuptlings war, ordneten sich die Anderen seiner Anweisung nun unter, wenn auch einige von ihnen nur widerwillig. Obwohl er noch sehr jung war, erst neunundzwanzig Sommer, so hatte er sie doch bisher sehr gut und wohlüberlegt geführt. Ma’ee und Sáni ordneten sich ihm unter, daher folgte ihm dann auch der Rest der Männer, wenn auch mehr als skeptisch. Shadi würde ihm immer folgen, auch ihr Mann war unter den Kriegstoten gewesen und Kinder hatten sie keine gehabt. Gaagi war ihre einzige noch lebende Familie, nie würde sie ihn im Stich lassen.
Es dauerte nicht lange, den hohen, rauschenden Wasserfall zu erreichen, der tatsächlich und zum Erstaunen aller golden schimmerte. Die Sonne war inzwischen nur noch eine kleine Sichel, verdunkelte sich immer weiter. Der Rabe flog tiefer und tiefer, bis er durch den Wasserfall glitt. Kristina ging ohne zu zögern auf den Wasserfall zu und durchschritt ihn, dicht gefolgt von Gaagi, der sie mittendrin aufhielt. „Yas, sei vorsichtig!“, warnte er.
„Wir müssen uns beeilen, die Soldaten haben das Lager gefunden und folgen den Wagenspuren!“, wisperte Kristina. „Hinter diesem Wasserfall ist es sicher!“ Sie hatte offenbar Recht, durchfuhr es Gaagi, als er auf ihren Weg zurückblickte und die ersten Soldaten am Waldrand auftauchten. Mit ihren schnellen Pferden waren sie noch ein oder zwei Minuten entfernt, bis sie in Schussweite herankamen, aber es würde sehr knapp.
„Eilt euch, folgt Yas durch den Wasserfall!“, ordnete er an, dem jungen Mädchen aus irgendeinem Grund vollkommen vertrauend. Er konnte es sich selbst kaum erklären, spürte aber, dass es so sein sollte. Alleine der Wasserfall, der sie nicht durchnässte, wie es eigentlich sein sollte, überzeugte ihn. Etwas war anders, es knisterte richtiggehend in der Luft. Yas schien diese Schwingungen deuten zu können, wenn auch nur instinktiv. Auch sein eigener Befehl war mehr auf Intuition gegründet als auf Tatsachen. Verwundert blickten seine Männer ihn an, sie konnten nicht glauben, dass er so einen seltsamen Befehl gab. Warum sollten sie unter dem Wasserfall hindurchgehen? Dahinter war eine Höhle, das wussten sie, aber darin konnte man sich nicht verstecken, vor allem, wenn die Soldaten sie bereits sehen konnten. Dennoch folgten sie seinem Befehl, aber auch nur, weil er sie noch nie falsch geführt hatte und es keine andere Möglichkeit gab, wie K’ai wütend feststellte. Kannte Gaagi einen Ausweg aus der Höhle? Aber weshalb nahm er den Wagen mit? Die Höhle war viel zu klein, nicht einmal alle zwanzig Menschen würden darin Platz haben, wie sollten der Wagen und die beiden Ponys darin unterkommen?
Doch als sie durch das Wasser schritten, das von oben auf sie herabfiel, wunderten sie sich darüber, dass sie nicht nass wurden. Nicht einmal das Wasser von unten durchnässte sie. Es war wie ein kühler Hauch, der sie berührte, aber ganz anders als das Wasser, das sonst auf sie herab prasselte, wenn sie in diese Höhle geflüchtet waren. Sie war schon mehrmals Zufluchtsort gewesen, wenn einer von ihnen sich vor den Soldaten verstecken musste, daher kannten sie sie alle. Nun allerdings wussten auch die Soldaten davon.
Aber kaum waren sie in der Höhle, stockten die Männer erneut. Das war nicht die Höhle, die sie kannten, die war eng, dunkel und feucht gewesen. Jetzt standen sie in einer Art Durchgang, der hell, freundlich und herrlich warm war. Wo waren sie nur gelandet? Kaum, dass sie alle in der Höhle standen, verdunkelte sich der Wasserfall hinter ihnen, der goldene Schimmer war weg. Und nicht nur das, auch der Wasserfall verschwand immer weiter aus ihrer Sicht. Wie durch blindes Glas sahen sie, dass einer der Soldaten in den Wasserfall hineinging, dann noch ein zweiter und ein dritter, doch keiner von ihnen kam in diese Höhle, in der die Navajo standen. Sie konnten aber hören, was die Soldaten sprachen. „Lieutenant, hier ist niemand!“, rief einer von ihnen.
„Durchsuchen!“, befahl eine andere Stimme, die leiser klang. „Drehen sie jeden Stein um und finden sie die Rothäute! Die können sich ja nicht in Luft aufgelöst haben!“ Mit angehaltenem Atem und ohne eine nennenswerte Bewegung verfolgten die Navajo, was sich dort abspielte, sie konnten alles sehen, wenn auch etwas unscharf. Die Soldaten waren inzwischen zu fünft und schwer bewaffnet, sie drehten jeden einzelnen Stein um, wie es schien. Aber sie konnten sie ganz offenbar nicht sehen.
„Lieutenant, in der Höhle ist niemand!“, meldete schließlich einer der Soldaten seinem Vorgesetzten. Dann verschwamm langsam das Bild vor ihren Augen und machte einer Felswand Platz, die nun dort war, wo vorher der Wasserfall geplätschert hatte. Die Männer sahen verwundert und ein wenig unsicher auf ihren Anführer. Wie würde Gaagi darauf reagieren? Sie konnten offensichtlich nicht zurück hinter den Wasserfall, waren nun auf eine andere Art gefangen. Was hatte sie hierher gebracht? Es schien so unwirklich zu sein, vor allem die Temperatur. Bevor sie in den Wasserfall gegangen waren, hatte es ihnen nichts ausgemacht, da sie die Temperatur im Sommer in Arizona kannten, die tagsüber noch meist sehr heiß war, aber in der Nacht doch ein wenig abkühlte, vor allem in den letzten Tagen, in denen es sehr stark geregnet hatte. Da sie zumeist keine Schuhe sondern Mokassins trugen, merkten sie, wie kalt der Boden dadurch geworden war. Hier war der Boden angenehm temperiert, wie an einem Frühsommertag, auch die Luft war anders. Es fühlte sich nach einem milden Sommertag an, in oder kurz nach der Blütezeit der ganzen Pflanzen. Die Luft war klar und rein, frisch und sauber, nicht von den Industrien verdreckt, die sich etwa eine Tagesreise von Supai entfernt niedergelassen hatten. Unter ihren nackten Füßen spürten sie sattes Gras, weich und saftig. Die Ponys nutzten es aus, dass die Menschen sie nicht weitergehen ließen, und zupften mit den Lippen an den Halmen, ließen sich das leckere Futter schmecken. Der schwarze Rabe war aus der Sicht verschwunden.
Sie machten sich daran, ihre nähere Umgebung zu erkunden. Da sie nun offenbar hierbleiben mussten, war es notwendig, Wasser zu finden, und einen Platz, an dem sie ihr Lager aufschlagen konnten, sie brauchten auch Holz, um Feuer machen zu können, und ihre Lebensmittel reichten auch nicht besonders weit. Die Umgebung wirkte sowohl vertraut als auch fremd. Es war wie in einem Wald in ihrer Heimat, einige Meilen nordöstlich von Supai, doch die Farben waren strahlender, leuchtender, wärmer, wie nach einem klärenden Frühlingsregen, der die Natur mit neuem Leben versorgte, wenn dann die Sonne wieder schien. Yas sah sich auf der Stelle stehend um, entdeckte Blumen in den fantastischsten Farben, so leuchtend und einladend. Als ihr Blick nach oben wanderte, stellte sie fest, dass es gerade Mittag sein musste, denn die Sonne schien vom Zenit. Weit oben konnten ihre scharfen Augen den Umriss des Raben erkennen, der scheinbar Ausschau hielt. Intuitiv folgte sie der Richtung, die er einschlug. Dieser Rabe war irgendwie immer in ihrer Nähe, aber sie hatte ihn noch nie berühren können. Die meisten Tiere schienen ihr instinktiv zu vertrauen und ließen sich von ihr anfassen, wenn sie verletzt waren oder sonst Hilfe brauchten, aber der Rabe war einfach immer nur da. Er bot ihr eine gewisse Sicherheit, sie fühlte sich ihm vertraut, konnte aber nicht sagen, was es war.
Gaagi, der sie beobachtet hatte, folgte ihr nun leise, er vertraute den Instinkten des kleinen Mädchens. Bisher hatte sie immer Recht behalten. Während er hinter ihr lief, konnte er sie beobachten. Sie strahlte eine unheimliche Sicherheit aus, trat nie fehl oder auch nur auf einen spitzen Stein. Obwohl sie immer draußen war, blieb ihre Haut doch so hell wie Schnee. Die dunklen Haare und Augen dazu gaben ihr eine unheimliche Aura, die ihn aber immer wieder an SIE erinnerte. Müde strich er sich mit der Hand über die Augen. Er wollte sich nicht erinnern, wenn die Erinnerung so schmerzhaft war. Und doch konnte er sich nicht von Yas fernhalten, fühlte sich angezogen von ihr und ihrer Art, die ihm so vertraut und fremd zugleich war. Wie dieser Ort, fiel es ihm gerade auf. Auch er wirkte fremd und vertraut zugleich, alles hier erinnerte ihn an etwas, auch wenn er nicht sagen konnte, was es war.
Yas schien jetzt angekommen zu sein, wo auch immer sie hinwollte. Hinter ihr konnte Gaagi einen Fluss erkennen. Sie drehte sich lächelnd zu ihm um und winkte ihn zu sich heran. Wie immer schien sie gewusst zu haben, dass er hinter ihr war, obwohl sie sich nicht einmal umgedreht hatte. Auch das erinnerte ihn an SIE. SIE hatte ein unheimliches Gespür gehabt für andere Menschen, aber vor allem für Tiere. An keinem Tier war SIE vorbeigekommen, hatte sich gerade um kranke oder verletzte Tiere immer wieder gekümmert. Jetzt aber sah er sich um, wohin hatte Yas sie geführt? Sie waren über eine Wiese gelaufen, die die Ponys gut versorgen könnte, jedenfalls eine Zeitlang. Doch es wirkte, als wäre das nur eine Lichtung im Wald. Vielleicht gab es noch mehr Platz? Dieser Ort war ideal, die Ponys gingen nicht alleine in den Wald, waren da eher ängstlich veranlagt, und durch den Fluss kämen sie auch nicht, so wie es aussah, denn der war breit und führte ziemlich schnell fließendes Wasser. Hinter ihnen lagen die Felsen, durch die sie gekommen waren und die nun undurchdringlich erschienen. Rechts und links war Wald. Die Ponys konnten sie hier laufen lassen, ohne Angst haben zu müssen, dass sie verschwanden.
Gaagi sah sich weiter um, seine Augen erkannten viele Details und sein Geist versuchte, die Vor- und Nachteile gegeneinander aufzuwiegen, um eine Entscheidung treffen zu können, ob sie hierbleiben oder weitersuchen sollten. Die Ältesten hatten dabei auch noch ein Wort mitzureden, aber er war der Anführer ihrer Gruppe, er hatte die Entscheidung zu treffen. Yas deutete ihm an, er solle ihr folgen. Sie führte ihn noch ein Stück bis zum Waldrand. Sofort wurde ihm klar, was sie ihm hier zeigte. Es war ein optimaler Platz zum Lagern für sie. Das Ufer fiel flach ab und war unten sandig, aber oben mit Gras bewachsen. Der Wald bildete einen natürlichen Schutzwall vor Sturm und Regen, die Äste schienen ein Dach zu formen. Darunter konnten sie ihre Zelte aufbauen. Im Wald lag genug trockenes Holz, um damit ein Feuer entzünden zu können. Am Waldrand entlang erkannte er Büsche und Bäume, deren Früchte sie essen konnten, auch Pilze und Wurzeln würden sie im Wald finden können, wenn der Geruch stimmte. Das Wasser hatte an dieser Stelle das Ufer ein wenig ausgeschwemmt, ein optimaler Platz um sich zu waschen oder die Wäsche zu machen. Und nicht zu weit vom Lagerplatz entfernt, sodass sie immer Zugriff auf frisches Wasser hatten. Er entschied, seine Leute hierher zu holen und das Lager aufschlagen zu lassen.
Ein Pfiff alarmierte seine Männer und sie sahen auf. Er winkte ihnen, zu ihm zu kommen, und blieb stehen, sodass sie genau wussten, wohin er sie haben wollte. Schnell waren sie bei ihm. Die Ältesten sahen sich kurz um und nickten ihm dann anerkennend zu, der Platz war wirklich optimal. Das Lager war zügig aufgebaut, alle griffen zu und jeder wusste, wann er welchen Handgriff machen musste. Kristina sah nur einige Minuten aufmerksam zu, dann hatte sie scheinbar das Prinzip verstanden und griff ebenfalls zu. Keiner hatte geglaubt, dass sie eine Hilfe sein könnte, aber sie überzeugte die Indianer schnell vom Gegenteil. Sie stand nicht einmal im Weg und wusste genau, was sie schaffte oder auch nicht. So kam es, dass nach etwas über einer Stunde das Lager komplett aufgebaut war. Die beiden Frauen teilten sich ein kleines Zelt, ebenso die beiden Ältesten. Drei Zelte waren von jeweils fünf Kriegern bewohnt, nur Gaagi als Häuptling hatte ein eigenes Zelt, in dem auch Besprechungen stattfanden. Wenn sie sie nicht im Freien abhielten, was sie vorzogen.
Kristina sollte erst einmal zu den beiden Frauen ziehen, hatten sie stillschweigend bestimmt. Auch wenn Gaagi selbst eine nicht nachvollziehbare Anziehung zu ihr verspürte. Und doch gehörte es sich für einen Mann nicht, ein Mädchen in seinem Zelt zu haben. Das gab es nur unter einer Bedingung: sie war seine Tochter und weder die Mutter noch die Tanten waren da. Aber darüber brauchte er sich keine Gedanken zu machen, das Mädchen wuchs in einem Waisenhaus auf, sie hatte offenbar keine Verwandten mehr. Und doch tat es Gaagi in der Seele weh, ihre enttäuschte Miene zu sehen, als er das verkündete. Shadi nahm sie in die Arme und zog sie sanft zu dem kleinen Zelt, das am nächsten zum Ufer stand. Es war spät, sie sollten nun ein wenig ruhen. Mósí, die zweite Frau in ihrem Lager, hatte sich bereits daran gemacht, Feuer zu schüren. Wenn es brannte, würden sie die Fische, die einige der Männer gerade fingen, zubereiten, damit sie noch etwas essen konnten, bevor sie schlafen gingen. Der Tag war lang gewesen und von Flucht gezeichnet, keiner von ihnen hatte seit dem Morgen etwas gegessen. Es dauerte nicht lange, bis die Fische ausgenommen waren und über dem kleinen Feuer garten. Mósí, Shadi und Kristina saßen dabei, während die Männer im Zelt des Häuptlings versammelt waren und ihr weiteres Vorgehen besprachen.
„Was bedeutet der Name Mósí?“, wollte Kristina schließlich wissen. Shadi übersetzte, da Mósí kaum Englisch konnte.
„Es bedeutet Katze.“, erklärte die angesprochene junge Frau. „Meine Eltern haben mich so genannt, weil ich lange wie eine Katze immer auf allen Vieren durch die Welt gelaufen bin.“
„Ein schöner Name!“, lächelte Kristina. Mósí erwiderte das Lächeln und zeigte dabei strahlend weiße Zähne.
Schweigend kümmerten sich die beiden Frauen und das Mädchen anschließend um das Essen für ihre Truppe. Leise erklärte Shadi, was ihre Aufgaben innerhalb ihrer Gruppe waren. Wasser, Brennholz und Nahrung in Form von Wurzeln und Beeren zu beschaffen, waren ihre momentan wichtigsten Aufgaben. Die Männer fischten oder gingen auf die Jagd. Wenn sie Jagderfolg hatten, dann war es an den beiden Frauen, das erlegte Tier weiterzuverarbeiten, aus dem Fell und dem gegerbten Leder Kleidung herzustellen, die Knochen wurden zu Gebrauchsgegenständen und Schmuck verarbeitet, das Tierfett verflüssigt und zu Kerzen gemacht. Außerdem kümmerten sie sich darum, dass die Zelte immer ordentlich und sauber waren. Kristina kannte ähnliche Aufgaben aus dem Kinderheim, auch dort mussten sie selbst für Ordnung und Sauberkeit sorgen, auch bei der Zubereitung des Essens hatten sie gewisse Aufgaben. Daher nahm sie sich vor, hier ebenfalls zu helfen.
Als die Fische gar waren, bedienten sich die Männer zunächst, deuteten dann aber direkt den Frauen an, sich ebenfalls etwas zu nehmen. Unüblich für ihr Volk, saßen sie in dieser kleinen Gruppe gemeinsam beim Essen. Für Kristina nichts Ungewöhnliches, im Kinderheim waren alle gemeinsam am Tisch gesessen. Einige Minuten dachte sie an Mrs. Duncan und Steven. War ihnen bereits aufgefallen, dass sie fehlte? Sicherlich, aber sie hatten wohl keine Möglichkeit, ihnen eine Nachricht zukommen zu lassen, dass sie sicher war.
Dem leisen, von vielen ruhigen Phasen unterbrochenen, Gespräch der Männer konnte sie nicht folgen, da sie in ihrer eigenen Sprache redeten. Gaagi sah es dem Mädchen an, dass sie neugierig war, aber sie fragte nicht. Sie redete insgesamt nicht viel, überlegte er bei sich. Er hatte die Kinder bei seinem Stamm erlebt, bevor sie alle gezwungen worden waren, zu fliehen. Diese redeten fast ununterbrochen und meist ziemlich sinnloses Zeugs, so lange sie in diesem Alter waren. Gut, die Kleine verstand nichts, weil sie die Sprache nicht konnte, aber die meisten seiner Männer sprachen nur wenige Brocken Englisch, konnten sich daher nicht mit ihr verständigen. Er würde seine Schwester bitten, ihr die Sprache beizubringen. Sie würden nun wohl eine Weile einen gemeinsamen Weg gehen, so wie es aussah. Doch auch Kristina erkannte dieses Problem und bat die beiden Frauen, als sie in ihrem Zelt lagen, ihr beizubringen, sie zu verstehen.