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7. Eine schicksalhafte Begegnung

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Yas lief den ganzen nächsten Tag hindurch, hielt nur kurz an einem kleinen Bach an, um zu trinken, und aß einige Beeren. Sie hatte das Gefühl, es sei dringend, daher beeilte sie sich. Der Rabe flog immer ein Stück voraus, manchmal verschwand er eine Weile, aber dann lief sie einfach in der gleichen Richtung wie zuvor weiter. Die Gegend wirkte so hell und freundlich, fremd und doch vertraut auf das Mädchen. Es roch nach den verschiedenen Blumen, intensive Aromen kitzelten die junge Nase. So manches Mal blieb Yas kurz stehen, ließ ihre Hand über eine der Pflanzen gleiten und sog mit geschlossenen Augen den Duft in sich auf.

Die Pflanzen waren allesamt farbenfroh und sahen fantastisch aus. Eine davon wirkte auf den ersten Blick wie ein Papagei: an einem langen Stängel war eine weiß-rote Blüte, die seitlich wuchs, aus dieser ragten mehrere längliche Blütenblätter, die ersten drei waren leuchtend gelb und standen nach oben, wie die Flügel eines Papageis ausgebreitet, die anderen beiden waren gelb und blau und mehr nach der Seite gebogen. Sie roch zart und blumig, aber dennoch sehr intensiv. Es erinnerte Yas ein wenig an Maracujas, die sie im Waisenhaus ab und zu bekommen hatten.

Doch schnell riss sie sich wieder los, wissend, dass sie möglicherweise keine Zeit mehr hatte, und lief weiter. Erst, als es dunkel wurde, hielt sie an, um ein wenig zu schlafen. Ohne es zu wissen, lag sie unter der gleichen Tanne, deren Äste auch schon Gaagi geschützt hatten in der Nacht, nachdem T'iis und Doli gegangen waren. Sobald es am Morgen hell wurde, ging sie weiter, wieder geführt von dem Raben. Noch vor der Mittagszeit ahnte sie, dass sie in der Nähe des Häuptlings war. Etwas war anders um sie herum, die unmittelbare Umgebung war aufgewühlt. Es waren die Gefühle von Gaagi, die die Natur beeinflussten.

Die anderen Kinder im Waisenhaus hätten Kristina nun einmal mehr für verrückt erklärt, weil sie solche Dinge zu spüren schien, aber Steven hatte ihr immer geglaubt und bemerkt, dass sie Recht damit hatte. Ja, er hatte sie sogar ermutigt, ihren Gefühlen zu vertrauen. Daher folgte sie auch jetzt ihrem Gefühl und wandte sich ein wenig nach links, nach Osten hin. Die letzten Schritte legte sie bewusst langsam zurück und machte einige Geräusche dabei, um Gaagi, der mit dem Rücken zu ihr saß, nicht zu erschrecken. „Gaagi?“, fragte sie leise, als er dennoch nicht reagierte.

„Geh, Yas.“, kam es ruhig von dem Häuptling, doch er drehte sich nicht um.

„Nein.“, widersprach sie ihm. „Ich bin gekommen, weil du meine Hilfe brauchst, der Rabe hat mich zu dir gebracht.“

„Bitte, geh.“, hauchte Gaagi.

Sie trat die letzten Schritte auf ihn zu und ging um ihn herum. Gaagi saß im Schneidersitz unter der Eiche. Die ganze Nacht war er hier gewesen, hatte nichts mehr wahrgenommen. Am Morgen hatte er sich aufgesetzt und eine Entscheidung getroffen, sein Messer genommen. Doch er konnte es nicht tun, irgendetwas hatte ihn abgehalten. Yas sollte ihn nicht so sehen. Unerschrocken setzte sie sich zu ihm, kopierte seine Haltung, hielt seinen Blick mit ihren dunklen Augen fest. Langsam legte sie ihre linke Hand auf seinen Arm, griff dann mit der Rechten nach seinem Messer und nahm es aus den Fingern, die keinen Widerstand boten.

Gaagi schloss verzweifelt die Augen, er konnte mit dem Chaos seiner Gefühle nichts mehr anfangen. Er sank in sich zusammen, eine einzelne Träne entkam aus seinem Auge, bahnte sich ihren Weg über die rechte Wange. Kühle, kleine Finger strichen sie vorsichtig weg und verharrten anschließend an der Haut. Gaagi lehnte sich dieser Berührung entgegen, versuchte dabei, das Zittern seines Körpers zu unterbinden. Wenn er sich auf die Nähe zu diesem Mädchen einließ, würde es sicher nur noch schlimmer werden. Und doch konnte er sich ihr nicht entziehen, obwohl sie noch so ein junges Mädchen war.

„Hab keine Angst. Ich bin hier.“, versprach Yas leise. „Sprich darüber, es wird dir helfen.“

„Das kann ich nicht.“, widersprach er schwach.

„Warum?“, wollte sie wissen. „Weil ich ein Mädchen bin?“

„Du bist ihr so ähnlich, aber ich … es tut weh, an sie zu denken.“, wisperte Gaagi.

„Wer ist sie?“, hakte Kristina nach.

Gaagi lehnte sich noch ein wenig mehr an die kleine, jetzt angenehm warme Hand. Eine Weile schwieg er, doch dann begann er leise zu erzählen: „Es muss jetzt etwa elf oder zwölf Jahre her sein. Damals war es Sommer und ich war bei den Wasserfällen zum Fischen. Die Soldaten haben uns noch nicht gejagt und unser Lager war nicht einmal in der Nähe von Supai. Mein Vater und meine älteren Brüder lebten noch, waren im Lager oder auf der Jagd. Am Fluss traf ich auf ein Mädchen, oder besser eine junge Frau. Sie hatte eine große Ähnlichkeit mit dir, Yas. Ihre zarte, dabei aber große Statur, ihre helle Haut, die funkelnden Augen. Ihre Haare waren hell, aber sie hatten eine ähnliche Art zu fallen wie deine. Bei jeder Bewegung wirbelten sie um ihren Kopf, als wären sie lebendig. Zuerst setzte ich mich einfach nur in ihre Nähe und fischte. Als ich wieder aufsah, war sie verschwunden.“

Er seufzte auf und öffnete seine Augen, hielt Kristinas Blick gefangen. „Ich habe mein Herz an diesem Tag verloren. Sie ging und hat es mitgenommen. Aber sie kam wieder und ich habe ihr gesagt, was ich für sie empfinde. Sie sagte mir, dass sie mich liebte, und kam mit mir. Nicht immer blieb sie auch, sie kam und ging, wie sie es wollte. Sie wollte nie eingesperrt sein, wie du hat sie meist draußen geschlafen. Nach einem halben Jahr blieb sie dann bei mir, auch wenn sie nichts davon hielt, mich zu heiraten. Sie sprach davon, dass wir Seelengefährten waren, und auch, wenn ich nicht genau wusste, was das zu bedeuten hatte, so spürte ich doch eine tiefe innere Verbundenheit zwischen uns.

„Es war so schön, wir verstanden uns ohne Worte, konnten tagelang wortlos zusammen in der Natur sein, ein Blick und ich wusste, was sie wollte, oder umgekehrt. Sie zeigte mir die Schönheit der Natur, die ich bis dahin nicht wahrgenommen hatte. In dieser Zeit begann es, die Soldaten fingen an, uns zu sagen, wir müssten in die Reservate ziehen. Doch ich ignorierte die Soldaten, brauchte niemanden, nur diese junge Frau.“, lächelte Gaagi sanft vor sich hin. Seine Augen leuchteten bei der Erinnerung.

„Wie war ihr Name?“, wagte Kristina zu fragen.

„Alemie. Ihr Name war Alemie.“, wisperte Gaagi.

„Das ist ein wunderschöner Name, so einen habe ich noch nie gehört.“, gestand Kristina leise.

„Der Name ist schön, aber nicht so schön wie Alemie selbst es war. Ich wollte mein Leben mit ihr an meiner Seite verbringen. Aber als immer mehr Soldaten kamen, verschwand sie wieder. Meine zwei älteren Brüder starben, als sie sich gegen die Soldaten wehrten, die sie einfach in ein Reservat stecken wollten. Die Diné hätten ihre Zelte, ihre Frauen und Kinder zurücklassen sollen, die Kinder sollten bei Weißen aufwachsen. Das wollten meine Brüder nicht. Meine Mutter war schon früh gestorben, mein Vater hatte danach auch keinen Lebenswillen mehr. Gemeinsam mit meinen Brüdern kämpfte er für die Freiheit, einige Krieger brachten seine Leiche zurück.

„Ich ging aus dem Lager fort, auf die Suche nach Alemie. Ich habe sie Monate nicht gesehen, dann tauchte sie eines Nachts an meiner Seite auf. Sie warnte mich, dass sie verschwinden müsse, da sonst die Soldaten noch schlimmer Jagd auf mein Volk machen würden, denn sie würden eigentlich nach ihr suchen. Das habe ich nie verstanden, doch sie hat es mir auch nicht beantwortet, als ich sie danach fragte. Seither habe ich sie nicht wieder gesehen, aber ich bin immer auf der Suche nach ihr. Ich führe meine Männer an, die sich nach Freiheit sehnen, aber eigentlich habe ich nicht das gleiche Ziel wie sie. Und doch weiß ich aus irgendeinem Grund, dass ich sie nicht wiedersehen werde, so lange die Soldaten hinter uns her sind. Dieses letzte Verschwinden ist etwa neun Jahre her.“, erklärte Gaagi traurig.

„Hab keine Angst, die Soldaten werden uns nicht finden. Sie sind nicht durch den Wasserfall gekommen.“, versprach Yas.

„Das weiß ich. Ich weiß nicht, warum, aber ich bin sicher, dass du die Wahrheit sprichst. So wie Alemie scheinst du mehr zu sehen als Andere, Yas. Du bist ihr so sehr ähnlich, dass es mich schmerzt, dich anzusehen. Du erinnerst mich so sehr an Alemie, dass ich weglaufen will vor diesem Schmerz, und doch habe ich das Gefühl, bei dir bleiben zu müssen, als brauchte ich deine Nähe, um weiterhin leben zu können. Es zerreißt mich innerlich, weil ich nicht weiß, was ich tun soll.“, gestand der Häuptling beinahe lautlos. Erneut flossen Tränen aus seinen Augen, die er nicht aufhalten konnte.

Yas legte ihre Hand auf seinen Arm und schloss die Augen. Gaagi konnte eine unwahrscheinliche Wärme und Energie spüren, die von ihr ausging und ihm Kraft gab. Es schien, als würden seine Verletzungen heilen, nicht nur die seines Körpers, sondern vor allem die seiner Seele. Die Schmerzen, die er bis zu dem Zeitpunkt immer dumpf gespürt hatte, verschwanden, genau wie Alemie damals verschwunden war. Spurlos. Seit Jahren hatte sich Gaagi nicht mehr so wohl gefühlt. Er ließ zu, dass Yas ihre Arme um ihn legte und ihre Wange an seine Schulter schmiegte. Zaghaft schloss auch er sie in eine sanfte Umarmung und vergrub seine Nase in ihrem Haar. „Warum?“, flüsterte er kaum hörbar. „Warum ist sie gegangen?“

„Du sagtest, sie wollte dich schützen?“, antwortete Yas mit einer Gegenfrage. Sie wirkte so viel älter, als ihr Körper es war.

„Das hat Alemie gesagt, ja. Sie wirkte so verzweifelt, als ich sie das letzte Mal gesehen habe. Ich weiß nicht, warum, aber die Soldaten schienen wirklich hinter ihr her zu sein. Beim ersten Mal, als wir sie beobachtet haben, sind sie unserer Spur nicht gefolgt, obwohl die auch für Weiße deutlich erkennbar war. Nein, sie sind etwas Anderem gefolgt. Ich habe damals das Risiko auf mich genommen und bin hingegangen, um zu sehen, was sie gefunden hatten. Es waren Blütenblätter. Alemie hat immer Blumen in den Haaren getragen, Blumen, wie ich sie nie zuvor gesehen hatte. Hier finde ich immer wieder die gleichen Blumen. Und den Blütenblättern sind sie gefolgt. Die Soldaten wussten offenbar, dass Alemie diese Blüten gerne in ihren Haaren trug und konnten sie zuordnen.“, berichtete Gaagi.

„Immer wenn ich eine dieser Blumen hier sehe, dann tauchen Bilder in meinem Kopf auf und ich kann meine Gefühle nicht mehr kontrollieren. Ich weiß, Shadi und die beiden Ältesten haben bereits etwas bemerkt. Am Anfang, als Alemie verschwunden war, habe ich getrauert, aber mit der Zeit habe ich es geschafft, dass sie nichts mehr bemerkten. Ich habe eine Mauer um meine Gefühle gebaut, aber du und diese Welt, ihr habt die Mauer zerstört. Was soll ich nur tun?“ Verzweifelt wie er war, bemerkte er nicht einmal, dass er diese Frage laut aussprach, einer knapp Neunjährigen gegenüber.

Sie konnte ihm die Frage nicht beantworten, verstand nicht alles, was er ihr erzählt hatte, aber Yas war klar, dass er ihr gegenüber wohl zum ersten Mal über all das gesprochen hatte. Sie schlang ihre Arme noch fester um ihn und fühlte, wie sein Körper zitterte. Mit einer Hand griff sie nach der Decke, die sie mitgebracht hatte, und legte sie ihm um die Schultern. „Schlaf ein wenig, Gaagi.“, raunte sie ihm zu. Er sagte nichts darauf, aber sie spürte, wie er sich an sie schmiegte, sein Kopf lehnte an ihrer Schulter und er hatte die Augen geschlossen. Nach und nach wurden das Zittern weniger und seine Atmung tiefer und gleichmäßiger. Er war tatsächlich eingeschlafen.

Yas blieb einfach sitzen und strich weiter sacht über seinen Rücken. Es schien ihm gutzutun und ihr schadete es nicht, also konnte sie das machen. Ihre Gedanken verließen diesen Ort, wanderten zurück zu den Wasserfällen, durch die sie gekommen waren. Der Rabe hatte ihr den Weg gezeigt, genau wie er ihr gestern und heute gezeigt hatte, wohin sie gehen musste, sonst hätte sie Gaagi nie rechtzeitig gefunden. Und dann hätte der Mann sich etwas angetan.

Nein, das durfte sie nicht zulassen, dieser Mann bedeutete sehr viel für sie. Es kam ihr vor, als würde sie ihn schon viel länger kennen, als die paar Monate, seit sie ihn das erste Mal gesehen hatte. Er wirkte so … vertraut auf sie. Schon als sie ihn am Fluss getroffen hatte, als Eric und Jessica verletzt waren, hatte sie sofort Vertrauen zu ihm gehabt. Normalerweise misstraute sie erst einmal jedem, das hatte ihr sogar Mrs. Duncan erzählt. Sie erinnerte sich daran. Es war etwas über vier Jahre her, sie war gerade vier Jahre alt geworden. Zumindest ging Mrs. Duncan davon aus, dass der Tag, an dem sie sie gefunden hatte, wohl auch der Tag ihrer Geburt gewesen war. Es hatte Kuchen gegeben, etwas, dass es sonst im Waisenhaus nicht gab, außer eines der Kinder hatte Geburtstag. An diesem Tag waren auch die anderen Kinder nett zu ihr gewesen, auch das passierte sonst eher nicht, nur Steven war immer freundlich.

Die anderen Kinder fanden sie komisch, weil sie nie so reagierte, wie sie es erwarteten. Kristina lief vor keiner Spinne oder Schlange weg, nein, wenn sie verletzte Tiere fand, dann half sie ihnen sogar. Sie wusste immer sofort, wenn es jemandem nicht gut ging und war da, auch wenn die Kinder das eher mit gemischten Gefühlen sahen, denn keiner zeigte gerne, dass es ihm oder ihr nicht gut ging, das nutzten die Anderen gerne aus, holten sich dann den Nachtisch, wenn es denn mal einen gab, oder klauten das Spielzeug. Doch nichts davon tat Kristina, sie war einfach nur da und wollte helfen. Aber die anderen Kinder ließen sie nicht gerne an sich heran, da sie komisch war. Anders als sie es gewohnt waren. Das schien ihnen Angst zu machen und es machte Kristina immer wieder traurig. Nur Mrs. Duncan und die immer wechselnden Mädchen aus Supai, die zum Helfen kamen, beschäftigten sich mit ihr, doch auch bei ihnen hatte Kristina immer eine gewisse Unsicherheit gespürt.

Ja, sie wusste, sie war anders, aber genauer konnte sie es nicht bestimmen. An diesem Tag waren da einige Männer gekommen, die sich das Waisenhaus ansahen. Sie waren zu fünft gewesen und durch alle Zimmer geschritten, hatten immer wieder Notizen gemacht, was alles erledigt werden musste. Kristina war geflüchtet, als einer der Männer sie angesehen hatte. Mrs. Duncan hatte sie beruhigt, dass diese Männer nur sehen wollten, was am Haus alles repariert werden musste, denn die Dorfbewohner von Supai halfen, wo sie nur konnten. Da war Kristina zusammen mit der Heimleiterin mitgegangen, aber noch immer hatte sie sich vor den Blicken der Männer versteckt. Sie hatte die Männer beobachtet und sich schließlich auf einen konzentriert, der eigentlich ganz nett aussah, dunkelblonde Haare, blaue Augen, einen kleinen Schnauzbart und nicht einmal einen Hut hatte er aufgehabt. Die anderen Männer hatten ihre Hüte aufbehalten, obwohl sie im Haus waren, aber der Dunkelblonde hatte ihn abgenommen. Und doch hatte Kristina ein seltsames Gefühl bei ihm gehabt, als wäre da mehr, als man sehen konnte. Eine Stimme in ihrem Inneren hatte sie zur Vorsicht gemahnt. Sie hatte Mrs. Duncan das zugeflüstert, aber die hatte ihr nur befohlen, die Männer in Ruhe zu lassen, da sie ihnen doch helfen wollten.

Und dann war sie nachts wach geworden. Irgendetwas hatte sie geweckt und sie war zur Heimleiterin gelaufen, die dachte, Kristina hätte schlecht geträumt, aber als sie von ihr wieder ins Bett gebracht wurde, hatten beide es gehört, jemand machte sich am Haus zu schaffen. Mrs. Duncan hatte ihren Finger auf die Lippen gelegt und sich mit einem Besen bewaffnet. Nachdem sie ihre Schuhe ausgezogen hatte – Kristina war wie immer barfuß unterwegs – schlichen sie nach unten, dorthin, wo das Geräusch war.

In der Küche trafen sie dann auf einen Mann. Es war der Dunkelblonde vom Nachmittag und er hatte gerade angefangen, Feuer zu legen. Vorher hatte er den restlichen Kuchen und eine Menge Obst gegessen, was die Kinder eigentlich zum Frühstück bekommen sollten. Mrs. Duncan hatte ihm mit dem Besen einen Schlag verpasst, sodass er bewusstlos geworden war, und dann den Sheriff alarmiert, der den Mann verhaftet hatte. Er war schon lange gesucht worden, aber vorher hatten sie ihn nie auch nur verdächtigt. Kristina war gelobt worden, aber außer Mrs. Duncan und dem Sheriff hatte nie jemand davon erfahren. Sie hatten Kristina nicht als Freak abstempeln wollen, denn es war eindeutig gewesen, dass sie mehr geahnt hatte als alle anderen. Und da sie von den Kindern sowieso schon gemieden wurde, weil sie so seltsam war, hatten sie es nicht noch schlimmer machen wollen für sie.

Plötzlich zuckte Gaagi zusammen und riss Kristina aus ihren Gedanken. Sie fing wieder an, über seinen Rücken zu streicheln und zu singen, so wie sie es in der einen Nacht an seinem Zelt gemacht hatte. Sie war nicht mehr Kristina, das verrückte Mädchen, sie war Yas, eine von den Indianern, die ihr eine neue Familie gegeben hatten. Sie gehörte zu ihnen, das ließen die Navajo sie immer wieder spüren. Sáni und Ma’ee waren wie Großväter für sie, erzählten ihr Geschichten, wenn die Männer weg waren und die Arbeit erledigt. Sie hatte viel von ihnen gelernt.

Zum ersten Mal in ihrem kurzen Leben war sie nicht ungewollt, sondern sogar gern gesehen. Und jetzt konnte sie wirklich etwas tun und helfen. Gaagi schien sich wieder zu beruhigen und erneut in einen tiefen Schlaf zu gleiten. Wie lange hatte der Mann nicht mehr geschlafen? Zumindest nicht mehr richtig? Jetzt war sie da und konnte ihm helfen, da sollte er weiterschlafen dürfen, sich endlich einmal ausruhen. Den Rest dieses Tages und die Nacht konnte er schlafen, danach sollten sie zurück zum Lager gehen.

Die Anderen, vor allem Mósí, Shadi, Sáni und Ma’ee würden sich Sorgen machen. Vielleicht hätte sie ihnen eine Nachricht hinterlassen sollen, fiel dem Mädchen nun ein, doch dazu war es jetzt zu spät. Sie schob den Gedanken beiseite und legte sich dann vorsichtig ins Gras, sodass sie es bequem hatte, Gaagi aber nicht aufwachte. Eine Weile kreisten ihre Gedanken noch um ihre neue Familie, die Diné, aber dann schlief auch sie ein, in die Arme des Mannes geschmiegt, der sonst so unnahbar, aber doch so anziehend auf sie wirkte.

Gaagi erwachte am frühen Morgen des nächsten Tages. Er fühlte sich so erholt wie schon seit Monaten nicht mehr. Yas schlief noch immer und schmiegte sich in seine Arme. In seinem Inneren stritten zwei Stimmen, die eine, die seinem Kopf gehörte, sagte ihm, dass es falsch war, das Mädchen in seinen Armen liegen zu lassen, die andere, die gehörte seinem Bauch, hielt dagegen, dass es genau richtig war. Er war nicht sicher, welche der beiden Stimmen Recht hatte, aber er entschied, dass sie so friedlich aussah, und ließ sie weiterschlafen. Wahrscheinlich hatte auch sie länger nicht mehr gut geschlafen, jedenfalls schien es so.

Gaagi konnte sich erinnern, dass sie eigentlich immer im Morgengrauen aufgestanden war und Shadi und Mósí geholfen hatte, das Feuer zu schüren und das Frühstück zu richten. Und jeden Abend war sie mit ihnen am Feuer gewesen und hatte den Geschichten gelauscht. Die Sprache der Diné, wie sie sich selbst nannten, hatte sie sehr schnell gelernt. Nach nur wenigen Tagen hatte sie angefangen, einfache Dinge in dieser Sprache auszudrücken, und nach vielleicht drei Wochen hatte sie keinerlei Schwierigkeiten mehr damit. Seither hatte sie kaum noch Englisch gesprochen. Sie hatte sich erstaunlich schnell an das ihr eigentlich fremde Leben gewöhnt. Wobei, wenn man überlegte, was sie aus ihrem bisherigen Leben erzählt hatte, dann war sie ebenfalls ein Naturmensch. So wie sein Volk und so wie Alemie.

Erstaunlicherweise schmerzte es nicht wie sonst, an seine Gefährtin von früher zu denken. Es wirkte, als würde Yas den Schmerz lindern oder einfach verschwinden lassen. So wie Alemie damals. Das Mädchen war ein Geschenk, aber er selbst hatte lange gebraucht, um das zu verstehen. Zuerst hatte er sich gewehrt gegen die Erinnerungen, weil sie immer so schmerzhaft waren, aber dabei hatte es so viele schöne Momente mit Alemie gegeben und es war ihr gegenüber nicht fair, diese einfach zu leugnen. Alemie hat ihn nicht freiwillig alleine gelassen. Sie hatte es ihm erklärt, hatte ihn und seine Leute schützen wollen. Er hatte es in ihren Augen sehen können, dass es sie genauso schmerzte, ihn zu verlassen. Aber bis heute hatte er nicht richtig verstanden, warum die Soldaten hinter ihr her gewesen sein sollten. Alemie hatte es ihm nie erklärt, aber er hatte es ihr geglaubt, sie hatte nie eine Lüge gesagt, nicht in all der Zeit, die er sie kannte. Auch wenn sie nicht sehr viel Zeit miteinander gehabt hatten, doch so weit kannte er sie einfach.

Langsam ging die Sonne auf und die ersten Strahlen trafen sie. Das weckte Yas und sie öffnete die Augen, schenkte Gaagi ein strahlendes Lächeln. So wie Alemie es immer gemacht hatte. Ein Stich durchfuhr Gaagi, doch dann gab er sich einen Ruck und erwiderte das Lächeln. Yas konnte nichts dafür; auch wenn sie ihn an Alemie erinnerte, so war sie doch eine eigene Persönlichkeit und hatte es nicht verdient, unter seiner Laune zu leiden. Er drückte sie noch einmal dankbar an sich, dann erhob er sich und zog sie mit hoch. „Wir sollten etwas essen und dann zurück zum Lager gehen.“, entschied er.

Sie nickte und stand auf, sah sich um. Einen Moment später lief sie los, nur um zwei Minuten danach mit einem Arm voller Früchte zurückzukommen. Yas legte sie auf die Decke und bedeutete Gaagi, anzufangen. Das Mädchen kannte die Gepflogenheiten der Diné inzwischen mehr als gut, so schien es. Er erwiderte das Lächeln, und griff zu, dann mahnte er sie, auch zuzugreifen, damit sie baldmöglichst aufbrechen konnten. Nicht einmal eine Stunde später waren sie unterwegs. Diesmal in aller Ruhe und langsam. „Wie geht es Doli?“, erkundigte sich Gaagi.

„Er ist mit T'iis gut angekommen. Shadi und ich haben ihn versorgt, sein Knöchel ist gebrochen. Wir haben ihm etwas gegen die Schmerzen gegeben und er war wohlauf, als ich gegangen bin. Der Rabe hat mir gezeigt, dass du mich brauchst und Doli ist in guten Händen.“, beruhigte Yas.

Schweigend gingen sie weiter in Richtung Norden, wo das Lager war. Yas lief einen halben Schritt hinter ihm und wirkte abwesend. Gaagi ließ sich ein wenig zurückfallen und bewunderte die Leichtigkeit, mit der sich Yas ihren Weg bahnte. Obwohl der Untergrund weich und uneben war, trat sie nicht einmal fehl, sie hatte eine unheimliche Sicherheit beim Laufen. Wie immer trug sie keine Schuhe, aber das tat sie nie. Das Mädchen faszinierte ihn, er wollte mehr über sie erfahren. Irgendwann fragte er sie einfach.

„Ich weiß nicht viel über mich. Mrs. Duncan, die Heimleiterin, hat mir erzählt, dass ich kurz vor Weihnachten auf der Treppe vor dem Waisenhaus abgelegt worden bin, da war ich gerade geboren. Ich war in eine Decke eingewickelt und es lag ein Zettel dabei, dass mein Name Kristina ist und Mrs. Duncan sich um mich kümmern solle. Sie hat nie etwas über meine Herkunft herausgefunden.“, berichtete Yas. „Ich bin in dem Waisenhaus aufgewachsen, Mrs. Duncan hat sich immer um mich gekümmert. Die Kinder fanden mich immer seltsam, weil ich viel lieber draußen war und weil ich mit Tieren so gut umgehen konnte. Meistens durfte ich nicht mitspielen, aber das wollte ich auch nicht. Sie waren mir immer zu laut und zu wild. Nur Steven hat mir immer geholfen. Er war der Junge am Fluss, der die Anderen rausgeholt hat.“

„Ich erinnere mich, groß, kurze braune Haare und braune Augen.“, warf Gaagi ein.

„Ja, und das schönste Lächeln!“, schwärmte Yas strahlend. „Er war der Einzige, der mich so genommen hat, wie ich bin. Er war irgendwie auch immer da, weil seine Eltern im Krieg starben, als er vier Jahre alt war. Wir hatten nie viel, das brauche ich auch nicht, aber Mrs. Duncan hat immer versucht, uns jeden Tag mindestens einmal in den Arm zu nehmen. Sie war immer so traurig, weil ihr Sohn im Krieg gestorben ist. Ich konnte das spüren und wollte ihr helfen, aber sie wollte nie. Sie meinte immer, dass alle Kinder ihre Liebe brauchen und nicht nur ich. Manchmal waren auch die anderen Kinder traurig, aber sie wollten sich nie helfen lassen, weil sie dachten, ich nehme ihnen dann etwas weg. Jeden Morgen vor dem Frühstück mussten wir den Tisch decken, danach abräumen. Manchmal mussten wir in der Küche helfen oder bei der Arbeit im Garten. Die Gartenarbeit hat mir Spaß gemacht, da ich dann nach draußen konnte, aber in der Küche, das war nicht so toll. Ich war schon immer am liebsten draußen, egal wie das Wetter war.“

Wieder etwas, das Gaagi an Alemie erinnerte. Doch die Erinnerung schmerzte ihn nicht mehr. Es schien, als könnte er sich nun an die schöne Zeit erinnern, ohne handlungsunfähig zu werden. Er musterte das Mädchen, um objektiv ihre Ähnlichkeit mit Alemie zu vergleichen. Sie war ebenso feingliedrig und extrem schlank gebaut, wenn auch deutlich kleiner, dadurch dass sie erst etwa acht oder neun Jahre alt war. Wahrscheinlich hatte sie bald Geburtstag und er wusste, dass das bei den Weißen gefeiert wurde. Weiße Kinder bekamen an so einem Tag Geschenke, auch das war ihm bekannt. Vielleicht konnte er sich etwas einfallen lassen. Ihre Haut war ebenso hell und durchscheinend wie Alemies, und das, obwohl sie die meiste Zeit im Freien verbrachte. Er hatte noch nie gesehen, dass sie einen Sonnenbrand bekam und sie wurde auch nicht braun, ebenfalls etwas, das sie mit Alemie gemeinsam hatte. Diese Tatsache hatte ihn dazu inspiriert, sie Yas, also Schnee, zu nennen. Die Augen waren dunkel, während die von Alemie von einem strahlenden hellblau gewesen waren. Das Mädchen vor ihm hatte sehr dunkelblaue, fast schwarze Augen, die allerdings goldene Pünktchen aufwiesen, vor allem, wenn sie lächelte. Ihre Haare waren schwarz, aber ebenfalls lang und fielen ihr in sanften Wellen bis über die Taille, schienen aber nie zu verfilzen, obwohl sie momentan nur mit ihren Fingern durchfuhr. Auch Alemie hatte so seidig-weiche Haare gehabt, auch wenn sie rotblond gewesen waren, doch ihre Haare waren genauso lockig über ihren Rücken gefallen, hatten fast bis zu ihren Knöcheln gereicht. Beide waren ruhig und gingen überlegt vor, hatten ein gutes Verhältnis zur Natur. Sie schienen in diese Welt hier zu gehören, auch wenn er das nicht genauer erklären konnte. Es war ein Gefühl, nicht mehr.

Als es Abend wurde, hielten sie an einer kleinen Quelle auf einer Lichtung an, es war eine, an die Gaagi sich erinnern konnte. Das Wasser aus dem kleinen Sprudel erfrischte und belebte sie, es wirkte, als wäre es mehr als einfach nur Wasser. Es machte sie lebendig, ja, das schien es zu sein, überlegte Gaagi. Sie machten ein kleines Feuer und grillten einen Fisch, den sie in der Nähe der Quelle gefangen hatten. Dazu gab es einige Früchte und Wurzeln, die Yas unterwegs ausgegraben hatte.

Auch in dieser Nacht legten sie sich zueinander, um die Wärme miteinander zu teilen. Es war absolut unüblich für sein Volk, aber Gaagi konnte nicht anders, diese Verbundenheit zu dem Mädchen zwang ihn regelrecht dazu, sie an sich zu ziehen. Erneut schlief er ohne Alpträume. Es verwirrte ihn, seit Jahren konnte er nicht schlafen, weil ihn die Vergangenheit verfolgte, und kaum war dieses Mädchen in seiner Nähe, war es wie früher. Bevor Alemie in sein Leben getreten war. Gaagi fühlte sich seltsam erleichtert, seit er von seiner Vergangenheit berichtet hatte. Langsam glitt er in einen ruhigen und traumlosen Schlaf und war erstaunt, am nächsten Morgen absolut erholt aufzuwachen, ohne auch nur eine Erinnerung an einen Traum zu haben. Unbemerkt schlich sich ein Lächeln in sein Gesicht, als er die Augen aufschlug.

Beschwingt machte sich Gaagi daran, Beeren und andere Früchte für ihr Frühstück zu sammeln. Eigentlich wäre das die Aufgabe einer Frau, aber er war so dankbar, dass er ruhig hatte schlafen können, daher ließ er Yas schlafen und weckte sie erst, als er genug für beide zum Essen hatte. Nur eine halbe Stunde später machten sie sich gesättigt und gut erholt auf den Weg. Das Lager würden sie wohl gegen späten Nachmittag erreichen, da Gaagi nicht so schnell ging wegen dem Mädchen an seiner Seite. Auch wenn Yas sich nichts anmerken ließ, er ahnte doch, dass sie nicht so leicht mithalten konnte, wenn er sein normales Tempo beim Gehen nutzte. Sie reichte ihm gerade bis zur Taille, ihre Beine brauchten fast drei Schritte, wenn er einen machte. Lief er normal, rannte sie beinahe. Gestern hatte er es nicht sofort bemerkt, dass sie hinter ihm her rannte, erst nach zwei oder drei Stunden war es ihm aufgefallen. Da hatte er sein Tempo dann deutlich reduziert, damit sie nicht außer Atem geriet. Wobei, sie hatte sich gut gehalten, das hätte er dem Mädchen nicht zugetraut. Sie hatte nicht einmal angestrengt gewirkt. Als wäre sie es gewohnt. Ein weiteres von vielen Geheimnissen, die das Kind umgaben und so anders wirken ließen. Gaagi nahm sich vor, wenigstens einige dieser Geheimnisse zu ergründen und Yas näher kennen zu lernen.

So liefen sie in ruhigen, aber gleichmäßigen Schritten in Richtung ihres Lagers. Unterwegs nutzte Gaagi die Gelegenheit, die Umgebung genauer in Augenschein zu nehmen, als er es auf dem Hinweg gemacht hatte. Wieder fiel ihm auf, dass die Bäume anders wirkten, als er es kannte. Lebendiger, belebt. Die Kronen waren so gleichmäßig gewachsen und schienen manchmal fast wie Dächer über den starken unteren Ästen zu sein. Dort wirkten die starken Äste auch so gerade, als könnte man gemütlich darauf sitzen oder sogar liegen. Gaagi fühlte sich erneut beobachtet, sah aber niemanden. Kurz vor der Dämmerung erblickten sie dann endlich den Fluss, an dem ihr Lager aufgebaut war. Sie beschleunigten ihre Schritte, bis sie das erste Zelt erreichten, dann erstarrten Beide.

Elfenkind

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