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2Gesellschaftliche und rechtliche Definitionen 2.1Gesellschaftliche Wahrnehmungen von Opfern, Tätern und Taten

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Die gesellschaftliche Wahrnehmung und damit auch die Definition dessen, was abweichendes oder „unmoralisches“ sexuelles Verhalten ist, unterliegt einem ständigen Wandel. Damit verschieben sich nicht nur stetig die Bewertungsmaßstäbe in der öffentlichen Diskussion; auch die Entwicklung des Sexualstrafrechts wird essenziell von der gesellschaftlichen und medialen Wahrnehmung und Beurteilung mitbestimmt.7

Seit jeher sind Sexualdelikte stark mit den Begriffen „Ehre“ bzw. „Scham“ verknüpft. Schon in der Antike war die Ehre einer Frau – anders als bei Männern, die sich auch im Krieg oder im Beruf unter Beweis stellen konnten – aus gesellschaftlicher Sicht eng mit ihrer gelebten Sexualität, d.h. mit ihrer Jungfräulichkeit bzw. ihrem Status als Ehefrau, verbunden. Hatte eine Frau (freiwilligen oder unfreiwilligen) Geschlechtsverkehr mit einem Mann, der nicht ihr Ehemann war, galt sie damit als „entehrt“ und in der Gefahr, alles gesellschaftliche Ansehen und damit auch ihre „Existenzgrundlage“8 zu verlieren.9 Wurde eine Frau gewaltsam zum Sexualverkehr gezwungen, wurde sie damit in der gesellschaftlichen Wahrnehmung ihrer Ehre beraubt. Dies zeigt auch die Herkunft des englischen Begriffs für Vergewaltigung „rape“, welcher vom lateinischen „rapere“ (auf Deutsch „Raub“) abstammt. Auch der heute veraltete deutsche Begriff „Notzucht“ hat sich aus dem althochdeutschen Begriff für Raub im Allgemeinen entwickelt. Bemerkenswert hieran ist, dass die Ehre nur einer solchen Frau geraubt werden konnte, die zuvor in der gesellschaftlichen Wahrnehmung im Besitz einer solchen war.10

Zeigte eine Frau noch im 18. und 19. Jahrhundert ein sexuelles Gewaltdelikt bei der Polizei an, wurde bei verheirateten oder verwitweten Frauen der unbescholtene gesellschaftliche Ruf überprüft, bei unverheirateten Frauen die Dehnbarkeit der Vagina, um (vermeintlich) festzustellen, ob Geschlechtsverkehr bereits vor dem angezeigten Delikt stattgefunden hatte oder nicht. Zum Nachweis der weiblichen „Ehre“ vor Gericht war es sogar bis in die 1970er Jahre hinein (siehe Abschnitt 2.2.1) nötig, den Verlust eben dieser durch ein entsprechendes Auftreten als Opfer glaubhaft zu machen und nachzuweisen, dass man sich der Vergewaltigung in ausreichendem Maße und während des gesamten Tatgeschehens widersetzt hatte. Nur dann war in der gesellschaftlichen und auch rechtlichen Wahrnehmung eine „echte“ Vergewaltigung gegeben.11

Seit dieser Zeit hat das Konzept der (verlorenen) „Ehre“ in der gesellschaftlichen Wahrnehmung an Bedeutung verloren und wurde durch die „Scham“, die Opfer sexueller Gewalt empfinden, weitestgehend ersetzt. Während eine erlebte Vergewaltigung heute weniger einen (existenziellen) gesellschaftlichen Ehrverlust bedeutet, wenden viele Frauen die Reaktion auf den Angriff in Form von Scham nach innen und damit gegen sich selbst. Diese Scham kann beschrieben werden als „eine hochkomplexe Emotion, die kulturell erlernt werden muss und sich keineswegs automatisch einstellt.“12

Dass derartige Reaktionsweisen von Opfern erlernt werden, liegt sicherlich auch daran, dass die Gesellschaft bis heute Vergewaltigungsopfern, mehr oder minder bewusst, häufig eine gewisse Mitschuld am Erlebten zuschreibt. Beispielsweise in Form so genannter Vergewaltigungsmythen werden die althergebrachten Vorstellungen in die heutige Zeit übertragen. Vergewaltigungsmythen können definiert werden „als Meinungen über Opfer, Täter und Umstände einer Vergewaltigung, die durch vorliegendes Tatsachenwissen nicht gestützt bzw. widerlegt sind“13. Diese Mythen bieten vermeintliche Erklärungen für das Erleben sexueller Gewalt dahin gehend, dass nur bestimmte Frauen einem Risiko unterliegen, Opfer eines solchen Delikts zu werden: „Nice girls don’t get raped“14. Der Ursprung derartiger Mythen liegt nicht zuletzt in der gesellschaftlich lange verankerten Vorstellung der (vermeintlichen) Ungleichwertigkeit von Mann und Frau, die insbesondere von der feministischen Bewegung seit den 1970er Jahren angeprangert wird. Die damals gelebte Dominanz des Mannes über die Frau führte zu einem gesellschaftlichen Klima, in dem sexuelle Gewalt gegen Frauen verharmlost wurde und zum Teil auch heute noch wird.15

Vor diesem Hintergrund wird Opfern sexueller Gewalt häufig eine Mitverantwortung an ihren Viktimisierungserfahrungen zugeschrieben, beispielsweise durch ihre Kleidung, ihr Verhalten, ihre unzureichende Wehrhaftigkeit oder den unterstellten Wunsch, sie wollen „zum Sex überredet“ oder gar „insgeheim vergewaltigt“ werden. Schneider berichtet in diesem Kontext von einem lang gehegten „gesellschaftliche[n] Stereotyp, das bis heute nachwirkt: ‚Wirkliche’ Vergewaltigung besteht darin, dass ein psychisch abnormer, bewaffneter Fremder eine Frau aus dem Hinterhalt sexuell angreift und ihr erheblichen körperlichen Schaden zufügt. Das weibliche Opfer leistet vergeblich verzweifelten Widerstand“.16 Weicht eine Tat von diesem klischeehaften Bild ab, kann es für Opfer oftmals heute noch schwierig sein, für glaubwürdig gehalten zu werden. In den letzten Jahrzehnten haben sich diese Missstände gesellschaftlich und auch im behördlichen Umgang etwas abgeschwächt17, obwohl derartige Schuldzuweisungen auch heute noch durchaus vorzukommen scheinen.18

Doch nicht nur die gesellschaftliche Wahrnehmung der Opfer, sondern auch die der Täter ist im Bereich der Sexualdelikte besonders und wohl mit keinem anderen Delikt vergleichbar. So schreibt beispielsweise Sanyal, dass eine „unvoreingenommene Auseinandersetzung mit den Tätern ein noch größeres Tabu zu sein [scheint] als all die anderen Fragen um das hochaufgeladene Thema Vergewaltigung“; daraus resultiere eine „Entmenschlichung der Täter“19 seitens der Gesellschaft. So zeigen Studien, dass für Vergewaltigungstäter seitens der Bevölkerung im Vergleich zu anderen Straftätern höhere Strafen gefordert und deren Chancen auf Rehabilitation gleichzeitig deutlich niedriger eingeschätzt werden.20 Besonders bei Vergewaltigungstätern ist die Angst der Bevölkerung vor Wiederholungstaten groß und die gesellschaftliche Wiedereingliederung wird von vielen Bürgerinnen und Bürgern skeptisch gesehen.21 Die Täter eines derartig ablehnenswerten Verbrechens werden von der Gesellschaft daher als andersartig und bösartig, gar als nicht zur Gesellschaft gehörig definiert: „Vergewaltiger sind nicht wie wir. Oder anders ausgedrückt: Vergewaltiger sind nicht wir.“22

Dabei zeigt die Forschung, dass zahlreiche Vergewaltigungstaten durch Täter mit einer breiten Palette krimineller Aktivität begangen werden, die nur gelegentlich durch psychologische oder psychiatrische Störungsbilder auffallen (siehe hierzu genauer Abschnitte 3.2 und 5.2.5) und dass sich sexuelle Gewalt nicht selten situativ entwickelt. Damit zeichnen sich die Täter von Vergewaltigungen in vielen Fällen nicht durch wesentlich andere Merkmale aus, als die Täter anderweitiger Delikte. Dennoch werden in der gesellschaftlichen Wahrnehmung „vollkommen bösartige Täter“ „gute[n] unschuldige[n] Opfer[n]“23 (sofern diese als „unbescholten“ gelten und das Delikt dem oben geschilderten Stereotyp entspricht) gegenübergestellt. Dieses durch eine Vergewaltigungstat anhaftende gesellschaftliche Etikett ist für die Täter kaum wieder abzustreifen. Wie drastisch die Folgen einer solchen Etikettierung sein können, wird besonders an unschuldig bezichtigten Tatverdächtigen sexueller Gewalt deutlich. Jedoch auch die gesellschaftlichen, beruflichen und existenziellen Folgen für einige Täter, die im Kontext der #MeToo-Debatte24 als solche bekannt wurden, können hierfür als Beispiele herangezogen werden, ohne dabei die Tragweite der von ihnen begangenen Delikte schmälern zu wollen.

Die gesellschaftliche Funktion dieses Schwarz-Weiß-Denkens besteht womöglich – ähnlich wie bei der gesellschaftlichen Sicht auf die Opfer – darin, das Kontinuum und die Graubereiche der Ursachen von sexueller Gewalt nicht anzuerkennen. Auf diesem Weg kann vermieden werden, gesellschaftlich akzeptieren zu müssen, dass auch „normale“ Männer zu Vergewaltigungstätern werden können und dass auch das gesellschaftliche Klima eine Mitverantwortung für die Entstehung derartiger Übergriffe trägt.25 Diese Sichtweise hat einigen Autorinnen und Autoren zufolge auch auf gesetzliche Änderungen der jüngsten Zeit (siehe genauer Abschnitt 2.2.2) Einfluss genommen: Das höhere Strafbedürfnis und das gesellschaftliche Abgrenzungsbedürfnis gegenüber Vergewaltigungstätern spiegle sich auch im heutigen Sexualstrafrecht und den anhaltenden Diskussionen um dessen Ausweitung wider.26

Insgesamt zeigt sich, dass die Einstellungen zu Opfern und Tätern sexueller Gewalt sehr eng mit den vorherrschenden gesellschaftlichen Normen, Werten und Moralvorstellungen zusammenhängen. Selbiges gilt auch für die Taten selbst: Welche Arten sexueller Handlungen aus Sicht der Gesellschaft gegen die gültige Moral verstoßen oder sogar unter Strafe gestellt werden, hat sich im Laufe der Zeit verändert und wird stets einem Wandel unterworfen bleiben. Ein Beispiel hierfür ist die Homosexualität, die bis weit in das 20. Jahrhundert hinein gesellschaftlich abgelehnt und auch bis 1994 unter Strafe (ehemals § 175 StGB) gestellt war.27 Erst langsam hat sich in dieser Hinsicht die gesellschaftliche Wahrnehmung dessen, was als moralisch „akzeptabel“ gilt, gewandelt und führte zu einer Entkriminalisierung gleichgeschlechtlicher Sexualität. Beispiel für einen Wandel in eine umgekehrte Richtung ist die Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe ab dem Jahr 1998 (siehe genauer Abschnitt 2.2.1), die bis dahin straflos war und gesellschaftlich lange Zeit als moralisch bedenkenlos akzeptiert wurde. Diese Beispiele zeigen, wie eng die sich stetig wandelnde gesellschaftliche Wahrnehmung und Definition sexueller Gewalt mit der Gesetzgebung verbunden ist.

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