Читать книгу Sexuelle Gewalt gegen Frauen - Daniela Pollich - Страница 9
2.3Grenzen strafrechtlicher Einordnung und wissenschaftliche Definitionen
ОглавлениеIn Bezug auf die strafrechtliche Begriffseingrenzung muss einschränkend angemerkt werden, dass die „Realität“ im Bereich der Sexualdelikte sich manchmal einer eindeutigen rechtlichen Einordnung entzieht: Die Beschreibung von Michaelis-Arntzen65 aus dem Blickwinkel der Aussagepsychologie und Glaubwürdigkeitsbegutachtung macht deutlich, dass es sich bei Vergewaltigungsdelikten nicht immer um so eindeutige Handlungen handelt, wie die oben genannten Definitionen und Gesetzestexte nahe legen. Regelmäßig bewegen sich Sexualdelikte in einem rechtlichen Graubereich, der beispielsweise durch „Teileinwilligung“66 des Opfers in niedrigschwelligere sexuelle Handlungen, nachträgliche Rücknahme der Einwilligung zum Geschlechtsverkehr, Ablehnung des Geschlechtsverkehrs erst zum Zeitpunkt der Durchführung67 oder „[s]prachliche Missverständnisse“68 bedingt wird. Taten, die sich in solchen Graubereichen bewegen, sind jedoch nicht direkt als Vortäuschungen zu bewerten. Begrifflichkeiten wie die einer „provozierte[n] Vergewaltigung“69, auch wenn die Provokation dabei nicht bewusst erfolgt sein muss70, sollten bei aller notwendigen Differenziertheit der Betrachtung hingegen vermieden werden, um nicht eine Mitschuld des Opfers an der Tat zu implizieren (siehe auch Abschnitte 6.1.2.1 und 7.3).
Trotz der Schwierigkeiten, die rechtliche Definitionen mit sich bringen, stützen sich auch zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen zu Sexualdelikten aus verschiedenen Disziplinen bei der Festlegung des Untersuchungsgegenstandes in erster Linie auf strafrechtliche Deliktseinordnungen. Insbesondere Arbeiten, die auf Hellfelddaten – beispielsweise in Form von Aktenanalysen – basieren, sind schon aus Gründen der Fallauswahl stark an die rechtliche Einordnung der untersuchten Delikte gebunden. Daher nutzen zahlreiche Untersuchungen Definitionen von sexueller Gewalt, die mehr oder weniger stark an das jeweils gültige Sexualstrafrecht und/oder die Erfassung des konkreten Untersuchungsgegenstandes (z.B. Vergewaltigung durch fremde Täter) in der Polizeilichen Kriminalstatistik angelehnt sind und ggf. durch weitere Festlegungen konkretisiert werden.71
Niemeczek weist jedoch darauf hin, dass sexuelle Deviation beispielsweise auch auf Basis klinischer und zivilrechtlicher (beispielsweise § 825 BGB, Gewaltschutzgesetz) Kriterien definiert werden kann. Den Unterschied zwischen klinischen und strafrechtlichen Definitionen macht sie klar, indem sie betont, dass beispielsweise nicht jede klinisch diagnostizierte Paraphilie strafrechtlich relevant ist.72
Als einer der wenigen Autoren polizeinaher Hellfeldstudien schlägt beispielsweise Dern eine vom Strafrecht unabhängige Definition von sexueller Gewalt im Allgemeinen vor: „Grundsätzlich ist kriminelle Sexualität dadurch gekennzeichnet, dass sexuell assoziierte Grenzen ohne Zustimmung einer beteiligten Person überschritten werden“.73
Insbesondere in Studien, die sexuelle Gewalt (auch) im Dunkelfeld untersuchen, sind weiter gefasste Definitionen zu finden. Oftmals ist es genau das Ziel dieser Studien, Dimensionen von sexuellen Übergriffen zu untersuchen, die das Strafrecht (zum Untersuchungszeitpunkt) nicht abdeckt, die aber für die Betroffenen dennoch sehr belastend sein können. Beispielsweise in einer Studie von Müller und Schröttle finden sich deshalb, neben der stark am (damals gültigen) Strafrecht orientierten Festlegung „erzwungene sexuelle Handlungen, zu denen die Befragte gegen ihren Willen durch körperlichen Zwang oder Drohungen gezwungen wurde“, auch weiter gefasste Definitionen sexueller Gewalt. Diese beinhalten sexuelle Übergriffe, bei denen die Frauen „gedrängt oder psychischmoralisch unter Druck gesetzt“ werden und verschiedene Spielarten sexueller Belästigung, um die „fließenden Übergänge“74 und Grauzonen zwischen nicht strafbaren, sexuell konnotierten Handlungen und Straftatbeständen detailliert zu erfassen.75
Anzumerken bleibt letztlich, dass die Vorgehensweise, sexuelle Gewalt zu Beginn der Durchführung einer Studie bereits zu definieren, von einigen Autorinnen und Autoren generell kritisch bewertet wird. Die schwierige Definierbarkeit des Begriffes führe zwangsläufig zu vielen unterschiedlichen Festlegungen und damit automatisch zu unterschiedlichen Forschungsergebnissen. Vielmehr müssten die (gesellschaftliche) Definition von sexueller Gewalt selbst und deren zugrunde liegende gesellschaftliche Normen erst einer Analyse unterzogen werden.76
7Hoven, 2017.
8Sanyal, 2017, S. 54.
9Sanyal, 2017, S. 54–55.
10Sanyal, 2017, S. 58, 138.
11Reiter, 2003, S. 22-24; Sanyal, 2017, S. 69–70.
12Sanyal, 2017, S. 76.
13Krahé, 1989, S. 102; siehe auch Brownmiller, 1978, S. 226–227; Sanyal, 2017, S. 40–41; Süßenbach, 2017; Krahé, 2018, S. 46.
14Scully/Marolla, 1985, S. 305.
15Deming/Eppy, 1981, S. 358-359; 363; Scully/Marolla, 1985, S. 295; Krahé, 1989, S. 103; Sanyal, 2017, S. 39–40.
16Schneider, 1999, S. 234, siehe auch Krahé, 1989, S. 103.
17Rauch et al., 2002, S. 96.
18Krahé, 2018, S. 46–47.
19Beide Sanyal, 2017, S. 148.
20Beispielsweise Rogers/Ferguson, 2011, S. 397–399, 406–409.
21Sanyal, 2017, S. 150.
22Sanyal, 2017, S. 150 (Hervorhebung im Original).
23Beide Klimke/Lautmann, 2018, S. 26; siehe auch Dern, 2011, S. 23–24, 27; Sanyal, 2017, S. 12.
24Bei der „#MeToo-Debatte“ handelt es sich um eine öffentliche Diskussion, die ihre Verbreitung in den sozialen Netzwerken fand. Betroffene Frauen wurden auf diesem Wege ermutigt, auf sexuelle Belästigung und sexuelle Übergriffe zu ihrem Nachteil aufmerksam zu machen.
25Sanyal, 2017, S. 153–154.
26Klimke/Lautmann, 2018, S. 28–29; siehe auch Sack/Schlepper, 2011, S. 249–250.
27Sigusch, 2010, S. 5.
28Brüggemann, 2013, S. 30–31.
29Reiter, 2003, S. 23.
30Brüggemann, 2013, S. 31–33.
31Brüggemann, 2013, S. 247.
32Sack/Schlepper, 2011, S. 248.
33BT-Drs., 18/8210, S. 7.
34Kieler, 2003, S. 1.
35Brüggemann, 2013, S. 254.
36Rabe, 2017, S. 28.
37Beispielhaft ist hier der Sexualmord an der 7-jährigen Natalie Astner (1996) und der 10-jährigen Kim Kerkow (1997) zu nennen (siehe hierzu Elsner/Steffen, 2005, S. 11).
38Brüggemann, 2013, S. 97.
39Kieler, 2003, S. 2.
40BT-Drs., 13/8586, S. 1.
41BGH, 4 StR 319/00, Urteil v. 26.10.2000.
42BGH, 4 StR 146/00, Urteil v. 23.05.2000.
43Brüggemann, 2013, S. 283.
44Rabe, 2017, S. 28 f.
45BT-Drs., 14/2812, S. 7.
46Brüggemann, 2013, S. 119.
47Sack/Schlepper, 2011, S. 257.
48Brüggemann, 2013, S. 111.
49Europarat, 2011.
50Siehe hierzu: Sanyal, 2017, S. 108–110, 161–165.
51Hoven, 2017, S. 161.
52BGBl. 2017, Teil II, Nr. 19, S. 1026.
53Rabe, 2017, S. 31.
54BT-Drs., 18/9097, S. 22–23; siehe auch Nolden, 2017.
55BT-Drs., 18/9097, S. 24.
56Die Strafrahmen der im Folgenden aufgeführten Qualifikationen gem. Abs. 4 bis 8 wurden durch den Gesetzgeber in der neuen Fassung nicht verändert. Lediglich die Strafrahmen der in Abs. 9 (n.F.) aufgeführten minder schweren Fälle wurden entsprechend angepasst. Auf eine explizite Beschreibung dieser Änderungen wird an dieser Stelle verzichtet.
57Papathanasiou, 2016, S. 136.
58BT-Drs., 18/9097, S. 27–28.
59Beispielhaft hierzu Freudenberg, 2017, S. 48–49.
60Papathanasiou, 2016, S. 136.
61BT-Drs., 18/9097, S. 26.
62BGH, Urt. v. 25.09.1959 – 4 StR 332/59.
63BT-Drs., 18/9097, S. 31.
64Bei einer Personengruppe im Sinne des § 184j StGB handelt es sich um eine Mehrheit von mindestens drei Personen, die eine andere Person bedrängt. Vgl. BT-Drs., 18/9097, S. 32.
65Michaelis-Arntzen, 1994, S. 5–19.
66Michaelis-Arntzen, 1994, S. 7, 12–13.
67Michaelis-Arntzen, 1994, S. 8–10.
68Michaelis-Arntzen 1994, S. 17; siehe hierzu auch Schorsch, 1971, S. 214; Bock, 2013, S. 371.
69Michaelis-Arntzen, 1994, S. 5.
70Michaelis-Arntzen, 1994, S. 5–7.
71Elsner/Steffen, 2005, S. 15–16, 19; Mokros, 2007, S. 1; Goedelt, 2010, S. 3–10; Elz, 2011, S. 85–88; Niemeczek, 2015, S. 17, 20–22; Uhlig, 2015, S. 32–33.
72Niemeczek, 2015, 17–19.
73Dern, 2011, S. 39; ähnlich auch Litzcke/Horn/Schinke, 2015, S. 12–14; 123–124; Elsner/Steffen, 2005, 59.
74Alle Müller/Schröttle, 2004, S. 64.
75Müller/Schröttle, 2004, S. 64, 67–71.
76Menzel/Peters, 2003, S. 15–17.