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2.2Rechtliche Definitionen und Straftatbestände 2.2.1Rechtshistorie

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Der dreizehnte Abschnitt des Strafgesetzbuches des Deutschen Reiches vom 15. Mai 1871 regelte unter der Überschrift „Verbrechen und Vergehen wider die Sittlichkeit“ u.a. strafbare Handlungen wie Doppelehe, Ehebruch und Blutschande. Im Mittelpunkt des Sexualstrafrechts standen zur damaligen Zeit die Begriffe Unzucht und unzüchtige Handlung. Als Unzucht galt jedes gegen Zucht und Sitte verstoßende Handeln im Bereich des geschlechtlichen Umgangs zwischen mindestens zwei Personen. Unzüchtige Handlungen waren solche, die objektiv das allgemeine Scham- und Sittlichkeitsgefühl in geschlechtlicher Beziehung verletzten und subjektiv von sexueller Begierde getragen wurden. Fand die Handlung innerhalb einer Ehe und nicht öffentlich statt, war die Sittlichkeit nicht berührt und es lag entsprechend keine Unzucht vor.28 Ebenfalls als Voraussetzung einer Strafbarkeit galt lange Zeit der moralisch einwandfreie Ruf der betroffenen Frauen sowie das „Brechen eines ernsthaften Widerstands“29.

Nach allgemeiner Auffassung bedurfte es für die Strafbarkeit von Sittlichkeitsdelikten zur damaligen Zeit nicht der Verletzung eines Rechtsguts. Entscheidend war vielmehr die gesellschaftliche Einordnung dessen, was als unzüchtige Handlung anzusehen ist. Erst mit Ende des neunzehnten und dem Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts setzte sich die Rechtsgutslehre in der Strafrechtswissenschaft durch. Nach dem Zweiten Weltkrieg, insbesondere ab Ende der fünfziger Jahre bis in die siebziger Jahre hinein, kam es zu tiefgehenden Diskussionen über das Strafrecht, an deren Ende die noch heute herrschende Auffassung stand, dass das Strafrecht durch den Schutz von Rechtsgütern der Verwirklichung des Gemeinwohls und des Rechtsfriedens dient. Dementsprechend darf der Staat seine Strafgewalt nur zum Schutze von Freiheiten und Rechten ausüben. Dieser Auffassung folgend darf unsittliches Verhalten nicht um seiner selbst willen mit Strafe bedroht werden, vielmehr ist die Verletzung eines Rechtsguts erforderlich. Ein solches ist die Sittlichkeit nach heutigem Verständnis nicht.30

Mit dem 4. Strafrechtsreformgesetz (StrRG) vom 23. November 1973 wurde der Übergang des Strafrechts vom so genannten Sittenstrafrecht hin zu einem am Freiheitsschutz orientierten Sexualstrafrecht geebnet. Nachdem die Vorschriften zum Sexualstrafrecht rund einhundert Jahre nahezu unverändert Bestand hatten, wurde das System der Vorschriften gegen unfreiwillige Sexualkontakte neu geordnet.31

Die Abkehr von den Begriffen der Unzucht und Sittlichkeit sowie die erneuerte Überschrift des dreizehnten Abschnitts „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ verdeutlichen die Hinwendung zum echten Rechtsgüterschutz. Im Zentrum stand nun der Schutz des bzw. der Einzelnen vor Beeinträchtigung seiner oder ihrer sexuellen Selbstbestimmung.32 Als Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts wurde die sexuelle Selbstbestimmung von nun an aus der in Art. 1 Abs. 1 GG garantierten Menschenwürde und dem Grundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG auf freie Entfaltung der Persönlichkeit abgeleitet.33 Gleichzeitig bewirkte die Reform eine Humanisierung, Liberalisierung und Entkriminalisierung im Bereich der gewaltlosen Sexualdelikte.34

Bereits in den frühen achtziger Jahren geriet die Rechtsprechung des BGH zu Vergewaltigungen und sexuellen Nötigungen in die Kritik von Frauenrechtlerinnen und Teilen der strafrechtlichen Wissenschaft.35 Insbesondere wurde der Begriff der Vergewaltigung im StGB in dieser Zeit als zu eng gefasst beanstandet. Ausschließlich sexuelle Handlungen, die durch körperliche Gewalt oder Drohungen mit erheblicher Gefahr für Leib oder Leben erzwungen wurden, waren strafbar. Damit blieben zum Beispiel Handlungen straflos, die die Betroffenen aus massiver Angst vor dem Täter wehrlos über sich ergehen ließen.36 Schwere Sexualstraftaten dieser Zeit, begangen durch rückfällige Sexualstraftäter37, führten zu einer weitergehenden Sensibilisierung der Bevölkerung und Emotionalisierung der Diskussion (siehe hierzu Abschnitt 2.1). Auch blieb das zu erwartende Absinken der registrierten Sexualdelinquenz aufgrund der beschriebenen Entkriminalisierung in der Polizeilichen Kriminalstatistik aus. Zunehmend wurde über eine grundlegende Gesetzesreform diskutiert, da die vorherrschende Rechtslage dem Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung nicht ausreichend gerecht wurde.38

Das 33. Strafrechtsänderungsgesetz (StrÄndG) vom 01. Juli 1997 sowie das 6. StrRG vom 26. Januar 1998 trugen dieser Kritik Rechnung und gestalteten die §§ 177 bis 179 StGB neu. Im Zuge der Reformierung wurde die Vergewaltigung mit der sexuellen Nötigung in einem Paragraphen zusammengefasst (§ 177 StGB). Der Vergewaltigungsbegriff wurde dabei erweitert und die Vergewaltigung als Regelbeispiel eines besonders schweren Falles der sexuellen Nötigung normiert. Neben Gewalt und Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben wurde außerdem das Ausnutzen einer Lage, in der das Opfer der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert ist, als zusätzlicher Tatbestand eingeführt. Die sexuelle Nötigung (von 1973 bis 1997 geregelt in § 178 StGB) wurde um zusätzliche Qualifikationstatbestände ergänzt.39 Unter der Perspektive einer Opferorientierung wurden Straftatbestände erweitert, Strafrahmen erhöht und neue Straftatbestände eingeführt, „um den Schutz der Allgemeinheit insbesondere vor gefährlichen Sexualstraftätern zu gewährleisten“40.

Erstmals in der Geschichte war von nun an eine Vergewaltigung in der Ehe strafbar. Der BGH entschied, dass der Strafrahmen eines besonders schweren Falls der sexuellen Nötigung generell auf eine Vergewaltigung in der Ehe anwendbar ist.41 In der Praxis hingegen wurde allerdings der Umstand vorausgegangener Intimbeziehungen, wie in Ehen üblich, häufig als wesentlicher strafmildernder Gesichtspunkt42 aufgefasst und eine Verurteilung nicht als schwerer Fall gem. § 177 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 StGB a.F., sondern nach § 177 Abs. 1 StGB a.F. oder als minder schwerer Fall gemäß § 177 Abs. 5 StGB a.F. vorgenommen.43

Da 1997 keine grundlegende Änderung des relevanten § 177 vorgenommen wurde, blieb die vorangegangene Kritik bestehen: Sexuelle Handlungen waren nur dann strafbar, wenn der Täter eines von drei so genannten Nötigungsmitteln angewandt hatte. So gab es weiterhin eine Reihe von Fallkonstellationen, in denen Täter sexuelle Handlungen gegen den Willen der Betroffenen vornehmen konnten und dabei straffrei blieben.44

Im Jahr 2000 stellte die Bundesregierung, begleitet von öffentlichen Diskussionen und Kritik um das Reformwerk, erste Überlegungen an, das gesamte Sexualstrafrecht dahingehend erneut zu überprüfen, ob strafwürdige Sachverhalte lückenlos erfasst werden.45 Das ab 01. Januar 2002 gültige „Gesetz zum zivilrechtlichen Schutz vor Gewalttaten und Nachstellungen“ (Gewaltschutzgesetz) war dabei ein Schritt, die rechtliche Stellung von Opfern häuslicher Gewalt zu stärken. Auch nachfolgende Anpassungen, wie beispielsweise das „Gesetz zur Änderung der Vorschriften über die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und zur Änderung anderer Vorschriften“ vom 27. Dezember 2003 trugen der Kritik teilweise Rechnung. Tatbestände wurden ausgeweitet, neue Tatbestände eingefügt und Strafdrohungen nochmals verschärft.46 Gleichzeitig wurden kritische Stimmen lauter, die in den Anpassungen lediglich gesetzgeberischen Aktionismus und einen Kurswechsel der Kriminalpolitik von einer liberalen zu einer repressiven Tendenz sahen.47 Im Gegensatz zu früheren Reformen, denen langjährige Auseinandersetzungen vorausgingen, nahmen nun tagespolitische Themen zunehmend Einfluss auf die Reformdiskussion, was sich mit einer bis dato unbekannten Schnelligkeit in Änderungen des Sexualstrafrechts niederschlug.48

Am 11. Mai 2011 wurde in Istanbul das „Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“ (Istanbul-Konvention) beschlossen.49 Zweck des Übereinkommens ist gemäß Artikel 1 Abs. 1a unter anderem, „Frauen vor allen Formen von Gewalt zu schützen und Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt zu verhüten, zu verfolgen und zu beseitigen“. Die Istanbul-Konvention verpflichtet die beteiligten Staaten, Maßnahmen gegen geschlechtsbezogene Gewalt zu ergreifen. Dazu zählen Prävention, Schutz, Strafverfolgung, organisatorische Zusammenarbeit staatlicher und nichtstaatlicher Stellen sowie das Monitoring der Umsetzung. Zudem werden die Staaten verpflichtet, Gesetze zu verabschieden, nach denen Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt bestraft wird, entsprechende gesetzliche Vorgaben einzuführen und dafür zu sorgen, dass Strafverfolgung auch tatsächlich stattfindet.

Deutschland unterzeichnete die Konvention als einer der ersten Mitgliedsstaaten im Mai 2011. Eine Ratifizierung fand allerdings zunächst nicht statt. Kritiker bemängelten, dass § 177 StGB in der damaligen Fassung dem Artikel 36 der Konvention nicht genügen könnte; letzterer sieht vor, dass jeglicher nicht einvernehmlicher Sexualverkehr unter Strafe zu stellen ist.

Bedingt durch die mediale und politische Diskussion um den Fall eines aus den Medien bekannten Modells, das nach der widerrechtlichen Veröffentlichung eines Sexvideos mit zwei Männern Anzeige wegen Vergewaltigung erstattet hat, aber wegen falscher Verdächtigung verurteilt wurde sowie die Übergriffe auf Frauen durch Gruppen junger Männer in der Silvesternacht 2015/2016 zum Beispiel in Köln50, wurde die Kritik am geltenden Strafrecht erneut laut. Mit dem 50. StrÄndG vom 04. November 2016 wurde die neueste Reform des Sexualstrafrechts beschlossen. Umgestaltet wurde insbesondere der § 177 StGB dahingehend, dass sich nicht mehr nur derjenige strafbar macht, der sexuelle Handlungen durch Gewalt, Gewaltandrohung oder die Ausnutzung einer schutzlosen Lage des Opfers erzwingt, sondern auch derjenige, der sich über den erkennbaren Willen des Opfers hinwegsetzt.

„Durch die Neuregelung wird die Missachtung der Entscheidung gegen einen Sozialkontakt – und nicht erst die Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung durch Nötigung – zum Gegenstand des strafrechtlichen Vorwurfs und die populäre Forderung ‚Nein heißt Nein‘ zum Leitprinzip des Sexualstrafrechts.“51

Ergänzt wurde das StGB im Zuge des 50. StrÄndG außerdem durch den Straftatbestand der sexuellen Belästigung (§ 184i StGB) und die Straftaten aus Gruppen (§ 184j StGB) (siehe genauer Abschnitt 2.2.2).

Bundesrat und Bundestag stimmten der Instanbul-Konvention am 17. Juli 2017, somit nach Einführung des neuen Sexualstrafrechts, zu.52 Nach dieser Ratifizierung trat die Instanbul-Konvention am 01. Februar 2018 für Deutschland in Kraft.

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