Читать книгу Jeder Tag ist kostbar - Daniela Tausch - Страница 10

Lis

Оглавление

Und so lang du das nicht hast,

Dieses: Stirb und werde!

Bist du nur ein trüber Gast

Auf der dunklen Erde.

Johann Wolfgang von Goethe

Mit etwa neunzehn Jahren fand ich diese oben zitierten Verse in dem Gedicht: Selige Sehnsucht. Heute verstehe ich das, was ich damals tief emotional erlebte: Ich fand Sinn und Annahme meines Lebens und Schicksals in diesen Zeilen. Mit einemmal war etwas reif in mir, das Schwere, an dem ich trug, anzunehmen, alle unterschwelligen Tendenzen, das Leben „so“ nicht annehmen zu wollen, verschwanden. Ich war einverstanden! Ich kann nicht behaupten, daß ich damals die ganze Tiefe dieses Gedichtes verstand, geschweige denn, daß ich wußte, daß es in diesen Gedanken Goethes um eine Grundhaltung des Lebens geht, die es für mich ein Leben lang zu praktizieren galt und gilt. Heute weiß ich, daß ich sicherlich immer noch tiefer in die Fülle des Sinnes dieser Verse wachse.

In dem Kriegsjahr 1942 wurde ich in eine Zeit des Sterbens und Todes hineingeboren, die schon von Anfang an schmerzhafte Wunden in mir hinterließ. Meine leiblichen Eltern trafen sich durch den Krieg, verbanden sich miteinander, in einer Art, wie sie durch den Krieg bestimmt war und gingen unter dem Druck und der Not des Krieges wieder auseinander. Meine Mutter hatte mich in dieser Zeit innerer und äußerer Not empfangen, und aus ihrem Schicksalsgefüge heraus blieb ihr keine andere Möglichkeit, als mich kurz nach der Geburt zu verlassen und zur Adoption „frei zu geben“. Sie kehrte wieder an ihren Heimatort zurück, um ihre vier anderen Kinder zu versorgen. Ich, als Neugeborene, war diesem Leben, dieser Zeit der Not und der Entbehrungen elternlos ausgesetzt. Ich war heimatlos, kam zu diesen und jenen Menschen und wurde dann mit viereinhalb Jahren von einem Ehepaar adoptiert, das in den letzten Tagen des Krieges seinen neunzehnjährigen Sohn bei einem sinnlosen Fliegerangriff auf Frankreich verloren hatte. Bis dahin hatte ich recht und schlecht überlebt. Ich hatte seelische Schäden und Verletzungen durch diese Zeit der Wirren und Mängel erlitten.

Dieser „gefallene Bruder“ hatte sein Leben gelassen, und ich nahm nun seinen Platz ein. Heute kann ich sagen, daß ich ihm gegenüber große Liebe und Dankbarkeit spüre. Durch seinen Tod fand ich einen Platz zum Leben, einen Ort der Beheimatung, an dem ich erst einmal ausruhen und langsam genesen konnte.

In meiner gesamten Persönlichkeit kann ich wiederfinden, daß ich ein Kind mit einem unbändigen Lebenswillen und einer großen Anpassungsfähigkeit gewesen sein muß. Ich wollte unbedingt leben und mich entfalten.

Ich beschäftigte mich relativ früh mit dem, was ich unter dem Tod verstand, ich war neugierig, fasziniert und verstand, daß es das ganz „Andere“, das Unfaßbare, auch das Seltsame, Faszinierende und Grausame war. Vogeleier, die zerschellt am Boden lagen, tote Vögel und Mäuse und dieser seltsam unheimliche und doch auch faszinierende Ort, den sie Friedhof nannten, zogen mich magisch an. Ich beschäftigte mich mit dieser Realität des Todes, den äußeren Bildern, ohne über tatsächliche religiöse Vorstellungen zu verfügen. In meinem Elternhaus erhielt ich keine für mich befriedigenden Antworten auf mein Fragen, wo denn die Verstorbenen nun seien. Ich hatte das Gefühl, daß meine Eltern selber unsicher und unangenehm berührt waren und gab so das Fragen bald auf.

Ein anderes Bild, das mich nachhaltig ergriff, waren fremdartige „Kaleschen“, die, von schwarzen Pferden gezogen, über den Fahrdamm, an dem wir wohnten, langsam dahinfuhren. An den Fenstern waren seltsame Symbole angebracht, und schwarze Quasten verzierten die Ecken des Wagens. Etwas Dunkles, ernst Feierliches ging von diesem Gefährt aus, von dem ich wußte, daß in seinem Inneren ein Sarg auf dem Weg zum Südfriedhof fuhr. Diese Leichenwagen hatten für mich etwas Märchenhaftes und Erschreckendes. Ich glaube, ich spürte schon damals etwas von einer unwiderruflichen Endgültigkeit eines solchen Zuges.

Meine erste tiefgreifende Begegnung mit dem Tod war der Tod meines Hamsters. Heute weiß ich, daß gerade dieser Hamster ein stummer Gefährte meiner kindlichen Einsamkeit war – dieses kleine, scheue Wesen, das mein Herz anrührte mit seinem angstvoll klopfenden Herzchen und seinem weichen Fell, das ich mit meinen Kinderhänden streichelte und das sich an den Lippen so zartweich anfühlte. Mein Vater hatte diesen geliebten Hamster aus Versehen in der Tür eingeklemmt, als ich in den Sommerferien war. Der tote Hamster wurde stillschweigend von einem munteren neuen Tierchen ersetzt, und man hoffte wohl, daß ich den Tausch nicht entdecken würde. Aber, ich sah und fühlte bei meiner Wiederkehr: Das war nicht mein Hamsterchen, mein Goldi, das war ein anderer, ein ausgetauschter … Verwirrt, verunsichert, traurig, sicher auch wütend und enttäuscht drang ich so lange in meine Eltern, bis sie mir den Vorfall erzählten. Sie versuchten mich zu beschwichtigen, aber ich ließ mich nicht beruhigen, ich ließ mich nicht trösten. Ich nahm den neuen Hamster nicht wirklich an, ich verweigerte ihm meine Liebe, weil ich das Bedürfnis hatte, meinem Hamster treu bleiben zu wollen. Eines Morgens lag der „Neue“ tot in seinem Käfig. Ich war erschreckt und entsetzt. Ich hatte ihn gefüttert und versorgt, aber ich hatte ihm meine Liebe verweigert, und nun fühlte ich mich schuldig an seinem Tod. Ich habe lange Zeit gebraucht, um diese erste Erfahrung von Liebe, Tod und Schuld zu verarbeiten.

Als ich siebzehneinhalb Jahre alt war, starb meine Adoptivmutter. Ich war in dieser Zeit gerade aus dem Hause nach Süddeutschland gegangen und wurde telefonisch benachrichtigt: „Komm sofort nach Hause“, hatte es geheißen. Während der langen Fahrt wurde mir, glaube ich, auf eine unbekannte Weise „bewußt“, daß meine Mutter im Sterben lag. Als ich in meinem damaligen Heimatort ankam, war sie bereits tot. Mir wurde mitgeteilt, daß sie einen Hirnschlag erlitten hatte und noch drei Tage bewußtlos in der „Eisernen Lunge“ gelegen habe. Mir wurde schlagartig klar, daß man mich viel zu spät benachrichtigt hatte. Mein Vater wollte mir „das Furchtbare ersparen“. Den zweiten Schlag erhielt ich bei der Nachricht, daß mein Adoptivvater seine Frau in diesen drei Tagen nicht besucht hatte …

Ich habe viele Jahre gebraucht, um mich innerlich wieder mit ihm zu versöhnen. Ich hatte große Mühe mit dieser „Lieblosigkeit“, und erst einige Jahre später, bei seinem Tod, konnte ich ihm ganz verzeihen, weil ich wahrnahm und verstand, daß ihm seine eigene Hilflosigkeit und Angst im Wege gestanden hatten. Der Tod meiner Adoptivmutter hat mich jahrelang beschäftigt, und ich habe die unterschiedlichsten Wege der Verarbeitung, mehr unbewußt als bewußt, gesucht. Lange hatte ich das Gefühl, man habe mich um ihren Tod betrogen, und ich hatte ablehnende und wütende Gefühle neben all der Trauer um sie.

In diesen Jahren hatte ich noch keinerlei Bilder und Vorstellungen von einem „Jenseits“ oder einem „Leben nach dem Tod“ in mir. Allerdings hatte ich eine Erfahrung gemacht, die mich mit einer Art Transzendenz in Berührung gebracht hatte. Als ich meine verstorbene Mutter in der Leichenhalle besuchte und ihr Gesicht, ihre Hände lange und intensiv in mich aufnahm, hatte ich das sichere Gefühl, daß „sie“, dieses innerste Wesen, das ich gekannt hatte, nicht in dieser leblosen Hülle, in diesem Leichnam war. Ich hatte ein starkes Empfinden davon, daß „sie“ diesen Körper verlassen hatte.

Nachdem ich in den folgenden Jahren noch eine mir tief verbundene Freundin durch den Tod verlor, war die Suche nach einer „geistigen Dimension“ für mich ein lebensnotwendiges Tun. Mein Schmerz und mein eigener stark verwundeter Wille zum Leben zwangen mir diese Suche, diese Suche nach dem Unbedingten, gleichsam auf. Ohne Antwort konnte und wollte ich nicht weiter leben. Vielleicht kann man es so bezeichnen, daß ich auf einer höheren Ebene nach der Mutter suchte, und diese Suche war der Beginn meiner spirituellen Reise, meines spirituellen Erwachens, meiner Sehnsucht nach einer tiefen Gottverbundenheit. Mein Leben hatte sich in ein enormes Spannungsfeld polarisiert: Da war auf der einen Seite meine große Liebe zum Leben, meine Leidenschaftlichkeit, meine Sehnsucht nach Fülle und Sinnlichkeit, mein Bedürfnis zu lieben und geliebt zu werden, und auf der anderen Seite hatte ich einen nie wieder rückgängig zu machenden Blick in die Abgründigkeit der menschlichen Existenz getan. Ich war mit dem Tod, der Grausamkeit, der Sinnlosigkeit, dem dunklen Abgrund der Vernichtung, mit Angst und Wut, Haß und Schuld in Berührung gekommen. Dieser Zwiespalt, diese Verwundung schrie nach Heilung. Sie mußte heilen, wenn ich leben wollte.

So unbedingt wie diese Suche nach Antworten war, so unbedingt war in mir die Forderung, Antworten zu finden, die ich als echt, tief und wahrhaftig in einem emotional-seelischen Sinne erleben konnte. Zuspruch, Tröstung im Sinne einer Beschwichtigung konnten mich nicht erreichen. Alles, was Bestand haben sollte, mußte für mich nachvollziehbar und erlebbar sein. Der Maßstab für Annahme und Ablehnung konnte nur im Zentrum meiner eigenen verwundeten Seele liegen.

Dieser Weg der Suche nach tragenden Antworten brachte mich dann viel später auch in die Sterbebegleitung. Auf der einen Seite war da sicher das aufrichtige Bedürfnis zu helfen und auch das Bedürfnis, an einer Veränderung im Umgang mit Sterben und Tod mitzuwirken. Andererseits war da aber auch der ganz egoistische Beweggrund, immer wieder am Sterben anderer Menschen teilnehmen zu dürfen, um auch für mich selber immer tiefergehende Antworten auf die Fragen nach Leben, Sterben und Tod zu erhalten.

Wenn ich heute zurückschaue, kann ich auf lebendige, erfüllte, reiche Jahre zurückblicken. Ich habe viele, bewegende Erfahrungen machen dürfen, und für die Mehrzahl meiner Fragen habe ich auf dieser langen Reise Antworten erhalten. Bei denen, „die noch offen bleiben“, habe ich das Gefühl, bis zu meinem eigenen Tod warten zu müssen. Ich schaue zurück auf eine lange, erfüllende Freundschaft und Zusammenarbeit mit Daniela, die uns wohl gleichermaßen reiche Früchte eingebracht hat. In der Nähe des Todes haben wir uns immer wieder dankbar und zutiefst lebendig empfunden. Wir hatten das Gefühl, in diesem großen Spannungsfeld Leben/Tod zu wachsen und erlebten das Glück dieses Wachsens. Ich erinnere mich besonders an die Stunde, in der wir gemeinsam das Krematorium der Stadt besichtigten und an einer Verbrennung teilnahmen. Als sei es erst gestern gewesen, fühle ich, wie wir nahe beieinander standen, um diese starken und bewegenden Bilder in uns aufzunehmen und erinnere sehr lebendig, wie wir beide in denselben Augenblicken eine große, intensive Dankbarkeit für unser Leben und unser Miteinandersein erlebten.

Die Auseinandersetzung mit Sterben und Tod hat uns allerdings zu zwei ganz unterschiedlichen Orten der Lebensbefindlichkeit gebracht. Du, Daniela, hast dich durch die Auseinandersetzung mit Sterben und Tod, wie ich es nennen möchte, noch einmal zum Leben hinausgeboren, so als habe gleichsam eine zweite Geburt stattgefunden. Es ist eine Geburt deines ganzen Ja‘s zum Leben, zur Liebe und Selbstentfaltung. Du hast auf diesem manchmal schmerzhaften und mühsamen Weg die Kraft zu deiner Individuation gefunden, die Kraft der Selbstannahme deiner Person, deines Wesens und Schicksals.

Ich habe die Kraft gefunden, meinen Blick langsam vom Leben lösen zu können und beginne mich einzuschwingen auf das, was wir das „abschiedliche Leben“ nennen. Auch das ist wunderbares, kostbares Leben, aber es findet statt in einem Bewußtsein, das sich „runden“ möchte, Fazit ziehen möchte, das Übriggebliebene vollenden möchte und sich mehr und mehr auf einen Übergang vorbereitet. Ob das in einigen Jahren oder Jahrzehnten sein wird, ist vielleicht nicht mehr ganz so wichtig. Ich kann heute fühlen, daß ich ein reiches und erfülltes Leben gelebt habe, dem ich so ganz und gar mein Ja schenken kann, alles war gut, gerade so, wie es war. Die mir verbleibenden Jahre möchte ich nun mehr und mehr dazu nutzen, meine inneren Wurzeln vorantreiben zu lassen in diesen Grund, diesen „Ewigkeitsgrund“, aus dem wir kommen und dem wir alle entgegenwandern.

Mein tiefer und großer Dank soll an erster Stelle dieser transzendenten Dimension gelten, die mich so heil und sicher durch die Zeiten der Hölle, der Gefahren, der Irrungen und Wirrungen geführt hat. Ich bin bewegt und dankbar, wie heilsam sich all das Dunkle verwandeln konnte.

Wie in einem Kaleidoskop kann ich viele, viele Menschen sehen, die zu diesem „Werk“ beigetragen haben. Es waren Menschen, die an mich glaubten und mir, jeder auf seine Weise, halfen, die zu werden, von der ich spüre, daß ich sie bin.

An und mit dir, Daniela, konnte sich vieles ordnen, bewußt werden, runden und vollenden. Ich habe immer wieder erlebt, daß das, was ich bin und was ich gelebt habe, bei dir in eine liebende Annahme einmündete.

So wie mein Dank mit der transzendierten Dimension begann, möchte ich vielen spirituellen Meistern und Lehrern zum Schluß danken. An ihnen erlebte ich die letzte Aufhebung meiner Einsamkeit und höchste Erfüllung.

Jeder Tag ist kostbar

Подняться наверх